12.03.1938: Einmarsch der deutschen
Wehrmacht in Österreich, Anschluß an das Deutsche Reich
"Wir weichen der Gewalt"
Österreichs Weg zum Anschluß im März 1938
Als Bundeskanzler Kurt Schuschnigg am 11. März 1938 um 19.47 Uhr
über den Rundfunk seine historische Abschiedsrede hielt, die er mit den Worten "Gott
schütze Österreich" schloß, war dies der Schlußpunkt im Ringen um die
österreichische Unabhängigkeit, das mit dem Besuch Schuschniggs bei Hitler in
Berchtesgaden am 12. Februar, dem vierten Jahrestag des Bürgerkrieges 1934, in sein
dramatisches Finale getreten war.
Schuschnigg bezeichnete in seiner Rede am Abend des 11.
März 1938 die vom Deutschen Reich lancierten Berichte über Arbeiterunruhen als "von
A bis Z erfunden", berichtete über das Ultimatum aus Berlin und stellte klar:
"Der Herr Bundespräsident beauftragt mich, dem österreichischen Volk mitzuteilen,
daß wir der Gewalt weichen".
An jener Stelle auf Seite 1 der "Wiener
Zeitung", auf der der Bericht über diese Rede stehen sollte, klaffte am 12. März
1938 ein weißes Loch und selbst in einem kurzen Vierzeiler auf Seite 2, in dem die
Verschiebung der für den 13. März geplanten Volksbefragung angekündigt wurde, durfte
der Name Schuschniggs nicht mehr erscheinen: "Der Bundeskanzler und Frontführer hat
sich nach Berichterstattung an den Bundespräsidenten entschlossen, die für den 13.d.M.
angesetzte Volksbefragung zu verschieben", hieß es da lakonisch.
Wie sehr man in Wien bereit oder gezwungen war, den
Drohungen und Wünschen aus Berlin nachzugeben, war Insidern schon Mitte Jänner 1938
klar. Damals wurde dem Chef des Generalstabs des Österreichischen Bundesheeres, Alfred
Jansa, vom zuständigen Staatssekretär mit Hinweis auf Jansas Dienstalter das Ausscheiden
aus dem Aktivdienst nahegelegt. Nachfolger wurde der gleichaltrige General Beyer, der als
"betont Nationaler" galt. Jansa hatte - was ihn in Berlin besonders verhaßt
machte - ein Szenario für die Abwehr eines deutschen Angriffs gegen Österreich
entwickelt. In seinen Erinnerungen beschreibt Jansa ein Treffen mit Bundespräsident
Wilhelm Miklas am 16. Februar 1938 - vier Tage nach dem Treffen Schuschniggs mit Hitler,
bei dem letzterer Jansas Ablöse gefordert hatte. "Ich habe Schuschnigg gesagt, er
möge sich vors Mikrofon stellen und die Weltöffentlichkeit von dem Geschehenen
orientieren", sagte Miklas, aber "Schuschnigg will nicht und ich habe nach der
Verfassung keine Handlungsfreiheit".
Einen Tag zuvor, am 15. Februar 1938 hatte Schuschnigg
sein Kabinett umgebildet und die Nazis Artur Seyß-Inquart und Edmund Glaise-Horstenau als
Sicherheitsminister, bzw. als Minister ohne Portefeuille in seine Regierung aufgenommen.
Das war neben der Freilassung der verhafteten Nazis eine der Hauptforderungen Hitlers in
Berchtesgaden gewesen.
Am 17. Februar hatte Otto Habsburg schriftlich an
Schuschnigg appelliert, ihm die Regierung in Österreich zu übergeben und gefordert, daß
"alles geschehen müsse, um eine Befriedung mit der Linken herbeizuführen, die in
der letzten Zeit gezeigt habe, daß sie patriotisch und die sicherste Stütze Österreichs
sei." Schuschnigg hatte Habsburgs Ansinnen zurückgewiesen.
Mit einer Rede vor dem Bundestag versuchte Schuschnigg
am 24. Februar das Ruder noch einmal herumzureißen. "Wir bekennen uns feierlich vor
aller Welt zu unserem Vaterland" hatte der Kanzler gesagt und die Rede mit den Worten
"Bis in den Tod rot-weiß-rot! Österreich!" geschlossen.
Eine Welle patriotischer Begeisterung war die Folge
dieser Rede und es zeichnete sich auch der Versuch einer Aussöhnung mit der Linken ab,
die erstmals seit dem 12. Februar 1934 wieder legal auftreten konnte. Die Kommunisten
stellten sich kompromißlos hinter Schuschnigg, die Revolutionären Sozialisten wollten
für ihre Unterstützung aber noch einige Zusicherungen von Regierungsseite. Am 4. März
empfing Schuschnigg eine Delegation unter Führung des Gewerkschafters Friedrich
Hillegeist im Bundeskanzleramt, am 7. März tagte eine große Vertrauensleutekonferenz mit
400 Delegierten im Floridsdorfer Arbeiterheim. "Wir haben unsere Abzeichen getragen,
wir haben uns mit ,Freundschaft' begrüßt" erinnerte sich Rosa Jochmann, eine
Teilnehmerin, Jahrzehnte später an dieses Ereignis.
Am 4. März fand in Wien auch eine große Konferenz der
Frauenschaft der Vaterländischen Front statt. Vor mehr als 10.000 Versammelten betonte
der Kanzler unter großem Jubel: "Ich werde niemals die Nerven verlieren."
Von dieser Welle der Zustimmung getragen, bereitete
Bundeskanzler Schuschnigg seinen nächsten Coup vor. Für 9. März war in Innsbruck eine
Rede vor den Amtswaltern der Vaterländischen Front angesagt. Nur Schuschniggs engste
Mitarbeiter, waren darüber informiert, was er dort sagen würde. Doch noch bevor der
Kanzler in Innsbruck bekanntgab, daß man am 13. März eine Volksbefragung über die
Unabhängigkeit Österreichs durchführen werde, wußte man in Berlin schon davon. Wie man
in den nächsten Tagen noch mehrmals feststellen sollte, saßen die Nazis schon in der
engsten Umgebung der Männer des Ständestaatregimes.
"Mander, 's ischt Zeit" rief der
Kanzler mit den Worten des Tiroler Freiheitshelden Andreas Hofer seinen Zuhörern
entgegen. Da wußte er bereits, daß sich sein bis dahin engster ausländischer
Verbündeter Mussolini gegen die Befragung ausgesprochen hatte.
Bundespräsident Miklas, der die Rede in seiner Wohnung
im Kreis der Familie am Radio mitgehört hatte, meinte: "Ob Deutschland das so
einfach hinnehmen wird? Wenn das gelingt, dann können wir dem Herrgott dankbar
sein."
Und Hitler wie auch die österreichischen Nazis waren
nicht bereit, die Volksbefragung so einfach hinzunehmen.
Während der Führer der Revolutionären Sozialisten,
Josef Buttinger, seinen Aufruf an die "Arbeiter und Genossen"
verfaßte, in dem
er davor warnte, bei der Volksbefragung mit dem österreichischen Faschismus abzurechnen
und dazu aufrief mit "Ja" zu stimmen und auch Kardinal Innitzer und die
evangelische Kirche zum "Ja" aufriefen, machten die Nazis in Österreich auf den
Straßen mobil und Hitler ließ den Einmarsch vorbereiten. Der Chef der Abteilung
Landesverteidigung im deutschen Generalstab, Alfred Jodl, riet seinen Kollegen von der
Organisationsabteilung."Lassen sie alle Kraftfahrer unbedingt Brillen aufsetzen,
sonst werden ihnen durch die Blumen die Augen ausgeschossen."
In Wien instruierte NS-Landesleiter Hubert Klausner,
der mit seinen Parteifreunden Odilo Globocnik und Friedrich Rainer im Hotel Regina
residierte, die Gauleiter für die möglichen Fälle der nächsten Tage. Für den Fall der
Rückziehung der Volksbefragung wurde angeordnet, Demonstrationen größten Stils zu
veranstalten. Für den Fall des Schuschnigg-Rücktritts war die Machtergreifung durch die
Nazis vorgesehen und für den Fall, daß sich der Kanzler dem Kampf stellte, wurde allen
Parteiführern befohlen, alle Mittel zur Gewinnung der Macht einzusetzen.
Der Nazi-Innenminister
Seyß-Inquart, der Schuschnigg
für wenige Tage im Amt des Bundeskanzlers folgen sollte, war von seinen radikalen
Parteifreunden schon an den Rand des Geschehens gedrängt worden. Einen Tag später, als
sich die Ereignisse überstürzten meinte er im Gespräch mit dem Generalsekretär der
Vaterländischen Front, Guido Zernatto: "Ich bin nichts als ein historisches
Telefonfräulein. Ich habe nur die Nachricht zu überbringen und keinen Einfluß".
Seyß-Inquart und der aus Berlin zurückgekehrte
Glaise-Horstenau überbrachten Schuschnigg in den Vormittagsstunden ein mit 12 Uhr
befristetes Ultimatum Hitlers, die Volksabstimmung abzusagen. Das Ultimatum war dann um
zwei Stunden verlängert worden, aber bereits um 13 Uhr am 11. März 1938 setzte Hitler in
Berlin seine Unterschrift unter ein Dokument, das bereits in der Nacht an die
Oberbefehlshaber der Wehrmachtsteile und SS-Chef Heinrich Himmler ergangen war: "Ich
beabsichtige, wenn andere Mittel nicht zum Ziel führen, mit bewaffneten Kräften in
Österreich einzurücken."
11. März 1938, 14.30 Uhr:
Schuschnigg teilt Bundespräsident Miklas mit, daß er
bereit ist, die Volksabstimmung abzusagen, eine Viertelstunde später benachichtigt er
auch Seyß-Inquart davon, doch die Herren in Berlin sind damit nicht mehr
zufriedenzustellen. In einem Telefonat - ihm werden bis zum Abend noch mehrere folgen -
deutet Hermann Göring weitere Forderungen an. Um 15.05 Uhr stellt er dann das zweite
Ultimatum des Tages: Schuschnigg muß zurücktreten, der Bundespräsident Seyß-Inquart
mit der Regierungsbildung beauftragen. Seyß soll auch ein von den Deutschen vorbereitetes
Telegramm mit der Bitte um den Einmarsch deutscher Truppen absenden.
Schuschnigg ist zum Rücktritt bereit, sagt dies dem
Bundespräsidenten beim zweiten Treffen an diesem Tag um 15.30 Uhr. Miklas sondiert in
einem Gespräch mit dem Rechnungshofpräsidenten Otto Ender, der schon einmal, von
Dezember 1930 bis Juni 1931, Regierungschef war, dessen Bereitschaft zur Übernahme des
Kanzleramtes. Knapp vor 16 Uhr trägt Miklas auch dem Sicherheitsstaatssekretär Michael
Skubl die Kanzlerschaft an. Doch dieser lehnt wie schon zuvor in einem Gespräch mit
Schuschnigg ab.
Zur gleichen Zeit stellt Innenminister Seyß-Inquart im
Säulensaal des Bundeskanzleramtes schon eine Ministerliste zusammen, in der sich neben
Nazis auch Deutsch-Nationale und Katholiken befinden.
In einem Telefonat um 17 Uhr verlangt Göring, daß die
neue Regierung bis 19.30 stehen muß. Globocnik übermittelt dem Reichsmarschall die -
falsche - Nachricht, daß Seyß bereits mit der Regierungsbildung beauftragt worden sei.
Es sollte nicht die einzige Falschmeldung dieses Tages sein. Bundespräsident Miklas
weigerte sich noch immer, den Nazis die Kanzlerschaft zu übergeben. Um 18 Uhr ruft er ein
zweitesmal an diesem Tag den ehemaligen Bundeskanzler Ender zu sich. Als dieser wieder
ablehnt will Miklas den Generalinspekteur des Bundesheeres, Sigismund Schilhawsky
betrauen, aber auch der sagt nein.
Der deutsche Militärattaché in Wien, Generalleutnant
Wolfgang Muff, überbringt dem Bundespräsidenten das deutsche Ultimatum, daß es bis
19.30 ein Kabinett Seyß-Inquart geben muß oder die Deutschen marschieren ein. Seyß
weigerte sich bei der Überbringung dieses Ultimatums dabeizusein.
Inzwischen war auch der deutsche
Außenamtsstaatssekretär Wilhelm Keppler in Wien eingetroffen. Er teilte Göring
telefonisch mit, daß Miklas das Ultimatum zurückgewiesen hatte. "Dann soll ihn der
Seyß-Inquart absetzen!" tobt Göring.
Im Haus der Vaterländischen Front Am Hof verbrannten
Funktionäre in der Zwischenzeit Dokumente, die man nicht den Nazis in die Hände fallen
lassen wollte, die immer mehr das Straßenbild Wiens beherrschen. VF-Generalsekretär
Guido Zernatto machte sich mit seiner Frau fertig zur Flucht nach
Preßburg. Viele weitere
Nazi-Gegner sollten es ihm an diesem Abend gleichtun, nicht allen sollte es gelingen.
Als das deutsche Ultimatum um 19.30 ablief, kam
Staatssekretär Skubl mit der falschen Meldung zum Bundespräsidenten, daß deutsche
Truppen die Grenzen überschreiten. Auch Schuschnigg bedrängte nun den Präsidenten,
Seyß mit der Regierungsbildung zu beauftragen, aber der blieb weiter bei seiner
Ablehnung.
Miklas wußte auch nicht, daß Schuschnigg um 19.47 Uhr
über den Rundfunk eine Rede angesetzt hatte, in der er seinen Rücktritt
bekanntgab.
Danach bedrängte Schuschnigg den Bundespräsidenten, zur Lösung der Regierungskrise
Seyß-Inquart mit der Kanzlerschaft zu beauftragen. Doch Miklas weigerte sich weiter.
Während die Nazis immer mehr das Straßenbild in Wien
beherrschten und die Menschenmenge vor dem Verkehrsbüro der Deutschen Reichsbahn in der
Nähe der Oper immer größer wurde, trat Seyß um 20.18 Uhr vor das Mikrophon und stellte
klar, daß er sich als Innenminister noch immer im Amt befinde. Kurz danach, um 20.45 Uhr
gab Hitler den schriftlichen Einmarschbefehl und Göring verlangte in einem weiteren
Telefonat, diesmal mit Militärattaché Muff, daß auch Bundespräsident Miklas
zurücktreten solle. Im nächsten Telefongespräch mit Staatssekretär Keppler verlangte
der Reichsmarschall wieder, daß Seyß-Inquart das vorbereitete Telegramm mit der Bitte um
die Entsendung deutscher Truppen abschickt. Seyß weigerte sich aber. Um 21.54 Uhr ließ
Göring erneut nachfragen, wo denn das Telegramm bliebe. Und weil Seyß noch immer
zögerte, fälschte man sich in Berlin eben dieses Telegramm, dessen Eintreffen laut
NS-Akten schon um 21.40 erfolgte.
Zur gleichen Zeit, als sich in Wien das dramatische
Ende der österreichischen Unabhängigkeit abzeichnete, wurde Hitlers Abgesandter, Prinz
Philipp von Hessen, der Ehemann der italienischen Königstochter Mafalda, vom
italienischen Außenminister, Graf Galeazzo Ciano empfangen. Als Hessen Hitler telefonisch
mitteilte, daß Italien nichts gegen den deutschen Einmarsch in Österreich unternehmen
werde, meinte der Führer gerührt: "Dann sagen sie Mussolini bitte, ich werde ihm
das nie vergessen". Ein paar Jahre später wurde Ciano auf Betreiben Hitlers nach
einem Schauprozeß in Verona erschossen und Hessens Frau Mafalda ging im KZ Buchenwald
zugrunde.
Kurz nach 23 Uhr hatte Seyß auch den
Bundespräsidenten weichgeklopft. Unter dem Druck der bereits vollzogenen Machtübernahme
in ganz Österreich durch die NSDAP habe ihn Miklas mit der Fortführung der Geschäfte
der Bundesführung betraut, verkündete Seyß-Inquart seinen Anhängern. Im
Bundeskanzleramt spielte Odilo Globocnik bereits den Beauftragten der Regierung - ohne
Wissen Seyß-Inquarts. "Wissen Sie, ich habe für Sie die Macht ergriffen, aber ich
habe ihnen nichts gesagt, denn Sie wären dagegen gewesen" wird Globocnik später dem
Kurzzeitkanzler melden.
Über dem Polizeipräsidium am Schottenring wehte
bereits seit 22.31 Uhr die Hakenkreuzfahne. Die Rathauswache gab um 23.30 Uhr den
Widerstand gegen die Nazis auf, die den christlichsozialen Bürgermeister Richard Schmitz
verhafteten. Der Nazi-Vizebürgermeister Fritz Lahr übernahm die Macht. Und knapp vor
Mitternacht gab auch Bundespräsident Miklas endgültig auf: Er war angesichts der sich
überstürzenden Ereignisse bereit, Seyß zum Bundeskanzler zu ernennen.
Noch bevor der deutsche Einmarsch in den Morgenstunden
des 12. März 1938 begann, landeten auf dem Asperner Flughafen SS-Chef Heinrich Himmler
und seine Truppe, die sofort mit der Verhaftung der politischen Gegner begann. Richard
Schmitz, Leopold Figl, Friedrich Hillegeist und Franz Olah zählten zu den ersten, die den
SSlern in die Hände fielen. SA durchsuchte die nach Osten abgehenden Züge auf freier
Strecke nach Flüchtlingen.
Die erste Welle der - schlecht vorbereiteten - 8. Armee
überschritt die Grenze nach Österreich um 8 Uhr. Und bald gab es auch den ersten Toten:
In Salzburg traf den Nazi Heinrich Kurz von Goldenstein vor lauter Freude der Schlag.
Um 15.50 Uhr rollte der Wagen mit Adolf Hitler bei
Braunau auf österreichisches Gebiet. Um 19.30 Uhr traf er im Linzer Rathaus ein, wo er
mit stürmischen "Sieg Heil!"-Rufen empfangen wurde.
"Also in Österreich ist unglaublicher Jubel. Wir
haben ja selber nicht geglaubt, daß die Anteilnahme so groß sein würde",
vermeldete Göring seinem Telefonpartner Philipp von Hessen, der von einer zweiten
Unterredung mit Mussolini am Abend des 12. März nach Berlin berichtete.
In Wien trieben an diesem Tag die neuen
Machthaber Juden und politische Gegner zu den berüchtigten "Reibpartien". Mit
Bürsten und ätzender Lauge mußten sie die Schuschnigg-Parolen vom Straßenpflaster
reiben. Der "Daily-Telegraph"-Korrespondent G.E.R. Gedye beschrieb in seinem
Buch "Die Bastionen fielen. Wie der Faschismus Wien und Prag überrannte" die
Demütigungen: "Die erste Reibpartie sah ich auf dem Parterstern. Sie mußte das Bild
Schuschniggs entfernen, das mit einer Schablone auf den Sockel eines Monuments gemalt
worden war. SA-Leute schleppten einen bejahrten jüdischen Arbeiter und seine Frau durch
die beifallklatschende Menge. Tränen rollten der alten Frau über die Wangen, und
während sie starr vor sich hinsah und förmlich durch ihre Peiniger hindurchblickte,
konnte ich sehen, wie der alte Mann, dessen Arm sie hielt, versuchte, ihre Hand zu
streicheln. ,Arbeit für die Juden, endlich Arbeit für die Juden!' heulte die Menge. ,Wir
danken unserem Führer, er hat Arbeit für die Juden beschafft!'".
Am Sonntag, dem 13. März, an dem die von Schuschnigg
geplante Volksabstimmung über die Unabhängigkeit Österreichs hätte stattfinden sollen,
verabschiedete der Ministerrat unter Kanzler Seyß-Inquart das
Anschlußgesetz.
Bundespräsident Miklas verweigerte seine Unterschrift - nicht nur aus politischen,
sondern auch aus verfassungsmäßigen Gründen. Aber dann gab er doch nach und trat
zurück.
Die abgesagte Volksbefragung soll in einigen
abgelegenen Orten in Niederösterreich und Tirol, nämlich in Fritzelsdorf,
Kleinpertenschlag, Pehendorf, Groß-Gerungs, Reitzenschlag und Innervillgraten
durchgeführt worden sein, doch finden sich aus verständlichen Gründen darüber keine
Aufzeichnungen. In Innervillgraten sollen 95 Prozent für die Unabhängigkeit Österreichs
gestimmt haben. Noch 1988 hat der Bürgermeister dieser Gemeinde jedoch die Richtigkeit
einer Eintragung in der Gemeindechronik über die Durchführung der Volksabstimmung
bestritten.
Die heimischen Nazis blieben aber nicht lange auf den
von ihnen am 11. März eroberten Machtpositionen. Der Wiener Bürgermeister Lahr mußte
sein Amt noch vor der Ankunft Hitlers in der Bundeshauptstadt an Hermann Neubacher
abgeben. Kanzler Seyß-Inquart, nach dem Anschlußgesetz ohnehin nur mehr
Reichsstatthalter, mußte später auch diese Position an Josef Bürckel abtreten.
Doch vorerst wurde noch einmal anständig gefeiert.
"Enthusiastischer Empfang des Führers in Wien" berichtete die gleichgeschaltete
"Wiener Zeitung" am 15. März 1938 über die Ereignisse des Vortages. Am
gleichen Tag fand die große Parade über die Ringstraße statt, bei der die siegreichen
Nazis in Anspielung auf den Schuschnigg-Rücktritt in nicht ganz lupenreinen Reimen
"Der Kurt ist furt, jetzt geht's uns guet" skandierten. Der auf den neuen
Regierungschef Seyß-Inquart gemünzte Reim der NS-Gegner wurde sicher nicht so laut
gerufen, war aber nicht nur fantasievoller, sondern traf auch die Realität haargenau:
"Sei's in Quarten, sei's in Quinten, b'schissen samma, vorn und hinten".
Und während Hitler auf dem Heldenplatz vor einer
unübersehbaren Menschenmenge die "größte Vollzugsmeldung" seines Lebens
abstattete: "Als der Führer und Kanzler der deutschen Nation und des Reichs melde
ich vor der Geschichte nunmehr den Eintritt meiner Heimat in das Deutsche Reich",
überboten sich nicht nur obskure Organisationen wie "Österreichs
Nationalsozialisten der Ortsgruppe Tirana" und die "Österreichischen
Nationalsozialisten in Spanien" mit Ergebenheitsadressen.
Kardinal Innitzer rief schon am 12. März die
Katholiken der Erzdiözese Wien auf, "Sonntag, 13. d., zu beten, um Gott dem Herrn zu
danken für den unblutigen Verlauf der großen politischen Umwälzung und um eine
glückliche Zukunft für Österreich zu bitten. Selbstverständlich möge allen
Anordnungen der Behörden gerne und willig Folge geleistet werden".
Der neue Präsident des evangelischen Oberkirchenrates,
Robert Kauer begrüßte Hitler am 13. März 1938 "im Namen der mehr als 350.000
evangelischen Deutschen in Österreich als Retter aus fünfjähriger schwerster Not".
Und der Bischof und der Synodalrat der Altkatholischen Kirche
"Deutschösterreichs" erließen am 15. März die Verfügung, "im Kanon des
heiligen Amtes von nun an die Fürbitte für unseren Führer Adolf Hitler
einzufügen".
Und auch die Künstler konnten bei soviel Jubel nicht
nachstehen. Karl Heinrich Waggerl dichtete: "Mögen alle Sünden verziehen sein, nur
die eine nicht: Jetzt noch zu zweifeln oder zu verneinen". Noch gefühlsvoller fiel
die Huldigung von Maria Grengg aus: "Als Adolf Hitler kam und uns nur mit seinem
großen Herzen nahm, wußte ich beglückt, daß jetzt alles gut sei und daß dieser seit
je geliebte, größte Sohn meiner Heimat sie mir jetzt wiederschenkt!" "Wer
dieser Tat unseres Führers nicht mit einem hundertprozentigen Ja zustimmt, verdient
nicht, den Ehrennamen Deutscher zu tragen!", meinte Generalmusikdirektor Karl Böhm.
Die Schauspielerin Paula Wessely freute sich, "am 10. April das Bekenntnis zum
großen Volksdeutschen Reich mit Ja ablegen zu können und so die von mir immer betonte
Kulturverbundenheit der österreichischen Heimat mit den anderen deutschen Gauen zu
bekräftigen". Und ihr Mann Attila Hörbiger meinte: "Wir Künstler sind froh
und stolz, am neuen großdeutschen Werke mitarbeiten zu können." Hörbigers Kollege
Ewald Balser: "Wer, wie ich, das neue Deutschland kennt, weiß auch, Österreich geht
nun einer besseren Zukunft entgegen."
Und die Erklärung der Bischöfe und des
Sozialdemokraten Karl Renner, in denen diese zum "Ja" für den Anschluß
aufriefen, sind ohnehin zu trauriger Berühmtheit gelangt.
Als am 16. März 1938 im amtlichen Teil der
"Wiener Zeitung" die Verordnung der Bundesregierung über die Durchführung der
Volksabstimmung am 10. April 1938 veröffentlicht wurde, hieß es dort schon im Paragraph
2: "Ausgenommen vom Stimmrecht ist, wer Jude ist oder als Jude gilt". Das lag
ganz auf der Linie jenes Telefonats, das Göring mit Philipp von Hessen am Abend des 12.
März geführt hatte. Hessen hatte darin berichtet, daß ihm sein Schwiegervater, der
italienische König, von einem Gespräch mit dem polnischen Außenminister Beck erzählt
habe, daß nach dem Berchtesgadner Treffen Schuschnigg-Hitler in Wien an einem Tag 25.000
Juden um Pässe angesucht hätten. Hessen: "Man meint, es wäre ganz gut, wenn man
die Grenzen ein Weilchen aufmachte, sodaß das ganze Geschmeiße 'rauskönne".
Göring darauf: "Aber nicht mit den Devisen, sonst rutschen die uns ins Ausland. Die
Juden können gehen, aber das Geld lassen sie uns gefälligst da, das haben sie doch nur
gestohlen."
Die wilden Arisierungen und die Denunzierungen
der ersten Tage nach dem Anschluß wurden aber selbst den Obernazis in Berlin zuviel. Am
21. März 1938 schickte der deutsche Innenminister dem Reichsbeauftragten für
Österreich, Staatssekretär Wilhelm Keppler, ein Telegramm, in denen er auf die wilden
Arisierungen einging und klarstellte: "Der Herr Reichswirtschaftsminister hat mich
daher gebeten, Sie zu ersuchen, gegen dieses unbefugte Vorgehen einzuschreiten und dafür
Sorge zu tragen, daß derartige Arisierungsmaßnahmen unterbleiben. Die erforderlichen
Maßnahmen gegen die Überfremdung des Wirtschaftslebens werden nach der Volksabstimmung
durch den Herrn Reichswirtschaftsminister auf gesetzlicher Grundlage getroffen
werden." Und das Büro des Gauleiters Josef Bürckel ließ Aufrufe gegen
Denunziationen vorbereiten, in denen stand: "Wer die Umbesetzung einer Stelle
verlangt, kann niemals Anwärter auf dieselbe Stelle sein."
Noch bevor am 10. April 1938 die Hitlerische
Volksabstimmung begann, die in Österreich ein Ergebnis von 99,7 Prozent für den
Anschluß erbrachte - nur 11.929 Wahlberechtigte sagten laut den offiziellen Ergebnissen
"Nein", 4.453.772 "Ja", fuhren die ersten Züge in die
Konzentrationslager. Am 1. April 1938 ging der erste Prominententransport mit 151 Personen
nach Dachau: Friedrich Bock, der spätere VP-Vizekanzler, der SP-Stadtrat Robert
Danneberg, Wiens Bürgermeister Richard Schmitz, Niederösterreichs Landeshauptmann Josef
Reither, die späteren Bundeskanzler Leopold Figl und Alfons Gorbach, der spätere
ÖGB-Präsident und Innenminister Franz Olah, Viktor Matejka, Ludwig
Soswinski, der
Richter Alois Osio, die Künstler Fritz Beda Löhner und Heinrich Sussmann standen neben
zahlreichen anderen auf der Transportliste.
Der glücklose Kanzler Kurt Schuschnigg versuchte in
einer Erklärung vom 11. Juni 1938 seine Politik im nachhinein zu rechtfertigen. Er
schloß diese Erklärung mit den Worten: "Persönlich erkläre ich meinen festen und
freien Willen, in bedingungs- und vorbehaltloser Loyalität zu Führer, Reich und Volk zu
stehen, und wäre froh, der deutschen Sache dienlich sein zu können".
Diese Ergebenheitsadresse bewahrte ihn aber nicht vor
schmählicher Behandlung durch die Nazis. Wie aus den Wachvorschriften der Gestapo Wien
vom 8. September 1938 hervorgeht, stand Schuschnigg rund um die Uhr unter Beobachtung.
Darin hieß es u. a.: "Dem Sch. ist das Betreten des WC auf Verlangen zu gestatten.
Vor dem Betreten muß jedoch das Fenster des WC geschlossen werden. Der diensthabende
Wachtmeister hat den Sch. auch während des Aufenthaltes im WC in taktvoller Weise zu
überwachen. Die Tür zum WC ist während des Aufenthaltes des Sch. in diesem Raum nicht
ganz zu verschließen, sodaß eine Überwachungsmöglichkeit besteht . . .
Außerdem ist es dem Sch. gestattet, sich Obst und
Zigaretten besorgen zu lassen . . . der Wachhabende hat darauf zu achten, daß kein
übermäßiger Verbrauch von Alkohol und Zigaretten erfolgt. Falls Sch. an einem Tag mehr
als 30 Zigaretten verlangt, ist auf Zimmer 316 Meldung zu erstatten."
WIENER
ZEITUNG, Rainer Mayerhofer
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