Gang durch die Ausstellung
Die Ausstellung zeichnet ein
umfassendes Bild des Menschen Karl Kraus und gibt einen Einblick in seine Arbeitsweise
anhand von Briefen, Skizzen, Entwürfen und Satzkorrekturen, welche Kraus' Arbeit an der
Zeitschrift zeigen. Dies wird dokumentiert durch die vielfältige Korrespondenz mit
Autoren und Lesern und ergänzt durch Aufzeichnungen und Objekte aus dem Verlag Jahoda
& Siegel.
Zahlreiche zeitgenössische Fotografien von Personen aus dem
Freundeskreis und den MitarbeiterInnen der »Fackel« und der Orte, an denen »Die
Fackel« entstand - die Kaffeehäuser, die Wohnung Kraus', die Druckereien - vermitteln
ein eindrucksvolles Bild der Lebensumstände des Autors. Originalmanuskripte und mehrere
Original-Exemplare aller »Fackel«-Jahrgänge ziehen sich gleichsam als roter
Faden durch die Ausstellung. Die politischen, sozialen und kulturellen
Rahmenbedingungen werden anhand von historischem Fotomaterial, Dokumenten und
Reproduktionen von Zeitungen und Zeitschriften der Zeit präsentiert.
Akustisch und visuell besonders hervorzuheben sind ein Film aus
dem Jahre 1934, der Kraus rezitierend zeigt (das einzige erhaltene Filmdokument) sowie
historische Schallplattenaufnahmen, die der Besucher in der Ausstellung an mehreren
Stellen abrufen kann. Vieles ist Kennern bereits bekannt, einiges werden auch
Kraus-Spezialisten noch nicht kennen. Die Ausstellung behandelt zehn Themenkreise:
"Leben", "Juden, Christen, Antisemiten", "Die Fackel: Schreiben
und Drucken", "Anti-Medium", "Weltkrieg", "Polemik und
Satire", "1918 - 1936", "Theater, Vorlesungen", "Geist und
Geschlecht", "Altenberg, Loos, Kokoschka".
Leben
Der biografische Bogen schließt die
Geburtsstadt Jicin in Böhmen ein, Wien, den Ferienort Weidlingau, die Kaffeehaus-Szene in
Wien, Kraus' Publikationen vor 1899, die Gründung der Zeitschrift »Die Fackel«,
wichtige Bezugspersonen aus dem Freundeskreis, MitarbeiterInnen der »Fackel«, Kraus'
Reisen, Orte, die er liebte (die böhmischen Schlösser Janowitz und Kuchelna), seine
Beziehungen zur Berliner Theaterwelt und sein kompliziertes Testament.
Viele der Dokumente werden zum ersten Mal gezeigt: Briefe und
Fotografien, darunter Fotoporträtserien in bisher nicht bekannter Vollständigkeit. Kraus
hat sich von prominenten Fotografen seiner Zeit aufnehmen lassen: Lotte Jacobi, Madame
d'Ora, Trude Fleischmann, Charlotte Joël-Heinzelmann, H. Ephron. Viele dieser Aufnahmen
stammen aus dem Besitz des Autors und werden seit kurzem im Kraus-Archiv der Wiener Stadt-
und Landesbibliothek aufbewahrt.
Juden, Christen, Antisemiten
Hier werden jüdische und
nichtjüdische Zeitgenossen von Kraus sowie öffentliche Auseinandersetzungen um den
Antisemitismus gezeigt. Das späte 19. Jahrhundert und das erste Drittel des 20.
Jahrhunderts haben eine Vielzahl oft kontroversieller Strömungen hervorgebracht, die in
ganz unterschiedlicher Weise Geschichte und Gegenwart des Judentums berücksichtigten: Von
elitären antisemitischen Kulturphilosophien des Jörg Lanz von Liebenfels bis zu
Nationaljüdischen und zionistischen Positionen.
Sie werden in Dokumenten und exemplarischen Zitaten vorgestellt
und jeweils zu Kraus Leben und Arbeit in Beziehung gesetzt. Die meisten Trends haben Kraus
beeinflußt oder zu Stellungnahmen in der »Fackel« veranlaßt: Religionsfragen - so der
zweifache Austritt Kraus' (zuerst »aus dem Judenthum«, dann aus der katholischen
Kirche), seine Auseinandersetzung mit negativ/jüdisch besetzten sozialen Positionen, mit
der Presse, die stark von jüdischen Journalisten, Zeitungsmachern und -finanziers
geprägt war; die große Empfindlichkeit antisemitischen Haltungen gegenüber, seine
starke Ablehnung des Zionismus oder seine unterschiedliche große Distanz zu Theodor
Herzl. Diese uneinheitlichen und mehrfach widersprüchlichen Reaktionen, die sich in der
»Fackel« und in biografischen Dokumenten niederschlagen, werden in Beispielen gezeigt
und kommentiert.
"Die Fackel: Schreiben und
Drucken"
In den ersten Jahren erschien
Die Fackel dreimal im Monat, mit 16 bis 24, bald 32 Seiten. Später wurde die
Erscheinungsweise unregelmäßiger, dafür das einzelne Heft umfangreicher. In den ersten
zwölf Jahren zog Kraus die verschiedensten Mitarbeiter heran; die anderen fünfundzwanzig
Jahre (ab 1911) schrieb er die Texte absehen von ganz wenigen Ausnahmen
allein. Wir wissen wenig über die technische Herstellung der Zeitschrift in den ersten
Jahren. Genaueres läßt sich aus der Zeit berichten, in der Satz, Druck und Verlag bei
der Firma Jahoda & Siegel lagen.
Karl Kraus arbeitete häufig die Nacht durch, legte sich
vormittags schlafen und stand am Nachmittag auf. Den Abend verbrachte er meist in
Gesellschaft, in Kaffeehäusern mit Gesprächen oder mit der Lektüre von Zeitungen. Kraus
bearbeitete seine Texte mehrmals: Er sandte einen handschriftlichen Text zum Satz in die
Druckerei und führte die Arbeit am Text weiter, indem er Korrekturen, Erweiterungen,
Änderungen in den Bürstenabzug des Satzes notierte, die »Satzkorrektur«. Dieser
Vorgang wiederholte sich so lange, bis der Autor mit dem Text zufrieden war. Mit
Manuskripten von fremder Hand verfuhr Kraus, wo er es nötig fand, ebenso. Es sind
zahlreiche Eingriffe in Texte seiner Mitarbeiter bekannt ob sie immer abgesprochen
waren, muß bezweifelt werden.
"Anti-Medium"
Die Medien das heißt für
den Zeitraum seines Schaffens: die Zeitungen sind das zentrale Thema seines Werkes,
und es gibt wohl kaum einen Schriftsteller deutscher oder anderer Sprache, der sich mit
gleicher Intensität diesem Thema gewidmet hätte. Nach dem Vorbild von Maximilian Hardens
Berliner Zukunft gründete er seine eigene Zeitschrift Die Fackel,
die er in den Dienst des »Antikorruptionismus« stellte.
Zentrale Begriffe von Kraus Medienkritik sind »Phrase« und
»Phantasie«. Mit jener ist das beliebig reproduzierbare, in den Zeitungen jedem
Sachverhalt übergestülpte Klischee gemeint, das mit der komplexen Wirklichkeit nichts zu
tun habe. Es gab und gibt kaum eine Zeitschrift, die in allen Aspekten so intensiv
kontroversiell eingestellt war. Von der Form bis zu den Inhalten, den Angriffsebenen, der
Gestaltung der Seiten bis zur innovativen Verwendung von Text- und Bild-Zitaten. Kraus und
sein grafisches Team zählen zu den Pionieren der Fotomontage. Sparsam verwendet, finden
sich doch verschiedenste Methoden der "Bearbeitung" unterschiedlichster
satirischer Intention. Die Reaktionen auf die Zeitschrift sind in mehreren Etappen belegt:
Durch einige der überaus zahlreichen Leserbriefe, auf die Kraus oft herrisch und
besserwisserisch - aber in jedem Fall - reagierte; anfangs selbst in der »Fackel«,
später, als die Menge dies nicht mehr zuließ, durch das Büro "Verlag der
'Fackel'" - genau nach seinen Anweisungen.
"Weltkrieg"
Der Autor der »Letzten Tage der
Menschheit« hat den Ruf eines Antikriegsautors schlechthin. Doch ist Kraus
Einstellung zum Krieg differenziert zu betrachten, vor allem weil sie sich erst
allmählich entwickelte. Insbesondere zu Beginn des Krieges war Kraus nicht so
antimilitaristisch, wie man aufgrund der bekannten Stellungnahmen annehmen möchte.
Mehr als andere erlebt Kraus den Krieg als Ausdruck eines
öffentlichen Bewußtseins im Hinterland, das von den Medien gezielt pervertiert worden
ist. Vergleicht man das, was an Text und Bild vom Kriegsgeschehen und von den Vorgängen
im Hinterland der Öffentlichkeit bekannt war und wie Kraus es in der »Fackel« umformte
und darstellte, wird die Eindringlichkeit seiner künstlerischen Kraft
bewußt. Die
gelesene Präsenz der Aussage gegen die Verheerungen des Krieges werden nur noch durch
sein Bild und seine Stimme beim Vortrag von Überlegungen zum Krieg übertroffen - die im
1934 gedrehten Film, der in der Ausstellung gezeigt wird, eindrucksvoll zu erleben ist.
"Polemik und Satire"
Die Unerbittlichkeit, mit der Kraus
zahlreiche Personen verfolgte, denen er Fehlverhalten ankreidete, ist ebenso erstaunlich
wie die Vielfalt und Zahl der Prozesse, die er anstrengte - wenn auch nicht jede Polemik
der »Fackel« vor Gericht endete.
Exemplarisch werden Gegnerschaften, die in der »Fackel«
ausgetragen wurden, dokumentiert: die lebenslange Kontroverse mit dem Journalisten und
Autor Hermann Bahr, die mit dem anfänglichen Vorbild und Ratgeber Maximilian
Harden,
seine Angriffe auf Franz Lehár, den Verflacher der Operette, seine Attacken gegen den
Wiener Polizeipräsidenten Johannes Schober, der für das Blutbad bei den Demonstrationen
im Juli 1927 (Justizpalastbrand) verantwortlich war, und die Kontroversen mit dem
Herausgeber des Boulevardblatts "Die Stunde", Emmerich Békessy, der Kraus mit
antisemitischen Texten und Bildern reizte. Im politischen Bereich werden in der
Ausstellung Kraus' kritische Positionen zur Sozialdemokratie, seine Stellung zum
Nationalsozialismus und die kompromißbereite Haltung dem Ständestaat gegenüber
thematisiert.
"1918 - 1936"
In den Augen von Kraus mußten
Politik und Schreiben ein vorrangiges Ziel haben: die Vermeidung eines neuen Kriegs. Die
Erinnerung an die Greuel der Jahre von 1914 bis 1918 beherrschte bis 1936 sein Denken
ebenso, wie die Erschütterung darüber, daß so viele es so rasch vergessen und
verdrängt hatten.
Daß die Monarchie zusammengebrochen war, bedeutete für ihn eine
riesige Chance. Die Gesellschaft, so dachte er, würde sich nun völlig erneuern, könnte
und würde nun endlich mehr vom Geist als vom Geschäft und von den alten, entleerten
Formen der untergegangenen Ordnung her sich definieren wollen. Die parlamentarische
Demokratie war für ihn, der von den Fehlentwicklungen des Parlamentarismus im
franzisko-josephinischen Österreich geprägt war, kein Selbstwert; mit ihren Spielregeln
hat er sich nie leicht getan. Und obwohl er es nur selten sagte, gehörte der provinzielle
Politikertypus der in der Ersten Republik maßgebenden bürgerlichen Parteien zu einer ihm
völlig fremden Welt.
"Theater, Vorlesungen"
Kraus versuchte sich unter dem
Eindruck der Persönlichkeiten des alten Burgtheaters in jungen Jahren als
Schauspieler, doch der Erfolg blieb aus. Er wandte sich der journalistischen Arbeit zu.
1910 griff er die Anregung auf, aus seinen Schriften - und bald aus denen anderer Autoren
- vorzutragen, was er eindrucksvoll beherrschte.
Seine Anhänger in Wien und vielen Städten des deutschsprachigen
Kulturbereichs, aber auch in Paris, schätzten seine Auftritte. Kraus brachte es in 26
Jahren auf 700 Vorlesungen. Bald nannte er seine Vorträge »Theater der Dichtung«, da er
auch ganze Theaterstücke vortrug - alleine, alle Rollen sprechend und mit
Klavierbegleitung singend. Zu den von ihm lebhaft geschätzten Autoren, die er auch gegen
zeitgenössische Fehlinterpretationen verteidigte, zählten Johann Nestroy und Ferdinand
Raimund, die Genies des österreichischen Theaters des 19. Jahrhunderts sowie Shakespeare
und Jacques Offenbach. Von den Theatergrößen seiner Zeit schätzte er wenige: er lehnte
das moderne Burgtheater ab, liebte stattdessen die realitätsnahe Komik der Budapester
Orpheumgesellschaft und die selbstsichere Freizügigkeit von Stars wie Josephine Baker.
"Geist und Geschlecht"
Die Erotik und das Weib
bilden zusammen ein großes Thema der Fackel von der Jahrhundertwende bis zum
Ersten Weltkrieg. Insofern unterscheidet sich Kraus kaum von den meisten (männlichen)
Schriftstellern seiner Zeit, besonders da er einen zentralen Aspekt der Sexualmythologie
des Fin de Siècle unkritisch weiterzutradieren scheint. Vor allem in den Aphorismen, die
er um 1906 zu schreiben beginnt, wird der Gegensatz zwischen der sexuellen Frau und dem
geistigen Mann zum Prinzip erhoben. Kraus, der Frauen statt gleicher intellektueller Kraft
wie den Männern, lediglich vitale Erlebnisfähigkeit zusprach, sie nur als Auslöserinnen
männlicher Kreativität sah, forderte nicht ganz ohne Eigennutz deren sexuelle
Ungebundenheit.
Schauspielerinnen zählten zu den ersten Personen, die der
Vorstellung von sexueller Lockerheit entsprachen, welche in der »Fackel« (nicht nur von
Kraus) propagiert wurde. Seine große, kurze Leidenschaft zur Schauspielerin Annie Kalmar
vom Deutschen Volkstheater in Wien zeichnete den Weg für männliche Leidenschaft und
Herrschaft wie weibliche Freizügigkeit, den Kraus immer vehementer vertrat. Seine
Vorliebe für die Stücke Frank Wedekinds ließ ihn sogar so weit gehen, daß er dessen
Stück »Die Büchse der Pandora« in Wien aufführen ließ, gegen allen Widerstand der
Zensurbehörde.
Kraus vertrat wortgewaltig die Position der Libertinage, die in
berühmten Prozessen von Verfechtern scheinheiliger moralischer Atavismen verurteilt und
verdammt wurde. Die Ausstellung zeigt seine Attacken gegen die selbsternannten Hüter der
Moral anhand des Falles Beer und des Prozesses Riehl. Im Kampf gegen Heuchelei war er
Sigmund Freud nahe, der um sein Verständnis warb; doch Kraus lehnte die Psychoanalyse
heftig ab. In der Liebe zu der böhmischen Aristokratin Sidonie Nádherný erreichte Kraus
trotz des Auf-und-Ab dieser Beziehung so etwas wie ein erotisches Gleichgewicht, bei dem
aber die Dialektik zwischen Geist und Geschlecht nicht mehr im Vordergrund seines Werkes
stand.
"Altenberg, Loos, Kokoschka"
Zu den ältesten Freunden, denen
Kraus bis zu ihrem Tod und in der Fackel darüber hinaus treu geblieben ist,
gehören Peter Altenberg und Adolf Loos. Die beiden Schriftsteller und den Architekten
einten Lebensanschauungen und ästhetische Prinzipien. Sie unterstützten einander im
Künstlerischen und Geschäftlichen: Loos und Kraus förderten nach Kräften den Bohemien
Altenberg. Was Adolf Loos in seiner in den Formen nüchternen, im Material oft opulenten
Architektur und in seinen Gestaltungsprinzipien präzisierte, wurde von Kraus oder
nahestehenden Fachleuten in der »Fackel« vehement verteidigt; wie einsam und verkannt
sie in ihrer avantgardistischen Radikalität waren, betonte Kraus in seiner Zeitschrift
wiederholt.
Kraus verschaffte beiden Aufträge oder Gönner. Man traf sich an
den Stammtischen und lebte Kunst. Loos wiederum machte gewichtige Vorschläge für die
Gestaltung der »Fackel« und von Kraus' Büchern. Kraus und Loos hatten einen
Schützling, dem sie den Weg zur Karriere bahnten: den Maler Oskar Kokoschka, der in
Porträtaufträgen aus dem großen Freundeskreis der drei erste Aufträge erhielt. 1909
fanden die Sitzungen für Kokoschkas Ölporträt statt, das 1944 verbrannt ist. In der
Ausstellung zu sehen ist das zweite Kraus-Porträt von Kokoschka, das 1925 entstanden ist.
Lebenslauf
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