Der Doyen der internationalen Täter(aus)forschung im
Portrait:
Simon Wiesenthal
Biographen, Journalisten, Freunde und Gegner haben Simon Wiesenthal mit
zahlreichen Etikettierungen versehen. Je nach Motivation wird Wiesenthal als
"Unbequemer Zeitgenosse", "Obsessiver Wahrheitssucher", "lebene
Legende", "Störfaktor" und "Provokateur" der österreichischen
Innenpolitik, "Gestapo-Kollaborateur", "Personifiziertes jüdisches
Gewissen", "Don Quichotte oder James Bond", "Praktischer
Philosoph" oder - geläufigste und zum Synonym gewordene Beifügung -
"Nazi-Jäger" bezeichnet.
Simon Wiesenthal selbst bezeichnet sich in seinen
Erinnerungen als "Kriminalist", Briefe unterschreibt er als
"Diplomingenieur" und mit dem Zusatz "Leiter des Dokumentationsarchivs des
Bundes jüdischer Verfolgter des Naziregimes". Der am 31. Dezember 1908 in
Buczacz,
Galizien, damals zu Österreich-Ungarn, heute zur Ukraine gehörend, geborene Wiesenthal
hatte in Prag und Lemberg Architektur studiert und sein Studium 1940 abgeschlossen, was 35
Jahre später übrigens von Bruno Kreisky angezweifelt wurde. Mittlerweile ist Dipl.-Ing.
Simon Wiesenthal vielfacher Ehrendoktor. Die britische Journalistin Hella Pick, von der
die jüngste Wiesenthal-Biographie stammt, hat genau mitgezählt: Anfang Dezember waren es
18 Ehrendoktorate, die Wiesenthal von Universitäten auf der ganzen Welt überreicht
worden waren. Sieben der Ehrendoktorate stammen, ganz im Sinne von Simon Wiesenthals
Lebens- und Arbeitsmaxime und zugleich Titel seiner 1988 publizierten Erinnerungen
"Recht, nicht Rache", von rechtswissenschaftlichen Fakultäten. Seinem
Rechtsverständnis nach, das bekräftigte der 90jährige zuletzt vor wenigen Wochen,
sollten die Naziverbrecher niemals Ruhe vor der rechtsstaatlichen Ahndung ihrer Verbrechen
haben. Diesem Leitspruch blieb er auch dann treu, als die ehemaligen Alliierten während
des kalten Krieges ihr Interesse an der Ahndung von Naziverbrechen verloren hatten, Israel
mit seinem Aufbau und die Täterländer mit dem Vertuschen und ihrer Rückkehr zur
Normalität beschäftigt waren. Wiesenthal bezeichnet den kalten Krieg denn auch als einen
"Krieg mit Ost und West als Verlierer und den Naziverbrechern als Gewinnern".
Wiesenthals Leben war mehrfach in Gefahr und jedes Überleben
hätte Rachegelüste und Lynchjustiz anstelle der Wiesenthal'schen Beharrung auf
rechtsstaatlicher Gerichtsbarkeit verständlich und nachvollziehbar gemacht: abgesehen von
den Lebensbedingungen in den mehr als einem Dutzend Konzentrations- und
Zwangsarbeitslagern als mittelbare Lebensbedrohung, war er von der unmittelbaren Ermordung
durch Erschießung von der ukrainischen Miliz (1941) und von der deutschen SS (1944) sowie
durch ein Sprengstoffattentat von Neonazis (1982) bedroht. 1962 wurde selbst das Lebens
von Wiesenthals 1946 geborener und heute in Israel lebenden Tochter Paulinka bedroht.
Begonnen hatte Wiesenthals Tätigkeit mit dem Ende des
Nationalsozialismus und der Befreiung aus dem Konzentrationslager Mauthausen in
Oberösterreich, am 5. Mai 1945 durch amerikanische Truppen. Der 1,80 Meter große Simon
Wiesenthal war auf kaum 50 Kilogramm abgemagert, und es wurden ihm nur geringe
Überlebenschancen eingeräumt. Zudem hatte er praktisch keine Hoffnung, seine ihm 1936
angetraute Frau Cyla, der er im Herbst 1942 "arische" Ausweisdokumente
beschaffen und ihr damit - wie sich im Laufe des Jahres 1945 herausstellen sollte -
erfolgreich das Überleben in Warschau sichern konnte, jemals wiederzusehen. Die Kraft zum
Weiterleben schöpfte er aus seiner selbst gestellten Aufgabe, eine Liste mit ihm
bekannten Verbrechen und Verbrechern zusammenzustellen. Seine Replik auf Vorwürfe der
Agententätigkeit Jahrzehnte später: "Meine einzigen Auftraggeber waren mein
jüdisches Gewissen, meine Treue zum jüdischen Volk und das Andenken an die Toten".
Bereits im Versteck in Lemberg nach seiner Flucht hatte er Erlebnisse und Berichte in
einem später von den Nazis entdeckten Tagebuch festgehalten. Am 21. Mai übergibt
Wiesenthal seine Liste mit 91 Namen den amerikanischen Behörden. Er beginnt, mit dem U.S.
War Crimes Office zu arbeiten und wird schon im Juli vom Office of Strategic Services
(OSS) mit der Suche nach einem Adolf Eichmann beauftragt. Die Suche nach dem Mastermind
der Endlösung sollte ihn bis dessen Ergreifung 1960 nicht mehr loslassen. Seine
Verdienste um die Auffindung und Ergreifung von Eichmann sind bis heute nicht ganz
geklärt. Wiesenthal selbst sieht seine Rolle bescheidener als es die Kritik an ihm
implizieren würde. Anfang Dezember betonte er in einem Vortrag, daß Eichmanns Auffinden
Teamarbeit zugrunde gelegen wäre, und als sein Hauptverdienst reklamierte er, daß er
"die Suche nie aufgegeben", und 1947 die von Eichmanns Frau Vera beantragte
gerichtliche Todeserklärung verhindert hätte. Erste Gerüchte über den Aufenthalt
Eichmanns in Argentinien habe er bereits 1953 erhalten und sowohl an den WJC als auch an
die israelische Botschaft weitergegeben.
Wiesenthal befragte die jüdischen Vertriebenen (DPs) in den
Flüchtlingslagern in Österreich, Italien und Deutschland und wendete als erster
systematisch die Methode der "Oral History" an. Die Arbeitsziele des 1947 mit
anderen Heimatlosen in Linz gegründeten "Zentrums für jüdische historische
Dokumentation" waren die historische Dokumentation, die systematische Auswertung der
Zeugenaussagen in selbsterlebte, selbstbeobachtete oder durch Dritte erhaltene
Informationen sowie das Anlegen von Karteien der Täter und der Tatorte. Bereits in der
unmittelbaren Nachkriegszeit kommt Wiesenthal in seiner Arbeit mit einem bis heute
bestehenden Tabu in Berührung, der Kollaboration von Juden mit dem Naziregime. Das
Dokumentationszentrum wird 1954 geschlossen, und Wiesenthal übersendet die Unterlagen,
"über eine Tonne jüdische Zeitgeschichte", nach Jad Vaschem.
Nach der Ergreifung Eichmanns gründet Wiesenthal 1961 - von
der IKG beauftragt - erneut ein Dokumentationszentrum. Nach heftigen Auseinandersetzung um
die von ihm kritisierte politische Vereinnahmung der Kultusgemeinde durch die
Sozialistische Partei führt er das Dokumentationszentrum ab 1963 im Rahmen des von ihm
gegründeten "Bundes jüdischer Verfolgter des Naziregimes". 1963 gelingt es
Wiesenthal auch, jenen aus Wien stammenden Polizisten auszuforschen, der die versteckte
Anne Frank, ihre Familie und deren Freunde verhaftet und deportiert hatte. Karl Josef
Silberbauer war nach dem Krieg ab 1954 wieder in den Wiener Polizeidienst aufgenommen
worden. Die Aufdeckung seiner Vergangenheit hatte die Versetzung in den Innendienst zur
Folge. Wichtiger als die persönliche Bestrafung Silberbauers war aber der implizite und
aufgrund neonazistischer Propaganda notwendig gewordene Beweis für die Authentizität von
Anne Franks Geschichte und Tagebuch. Von den großen Naziverbrechern geht die Verhaftung
des Kommandanten von Treblinka, Franz Stangl, auf Wiesenthals Recherchen zurück. Stangl
wurde 1970 in Deutschland wegen Beihilfe zum Massenmord an 400.000 Menschen verurteilt und
starb im Jahr darauf im Gefängnis. Als spektakulärer Fall, der die amerikanische
Öffentlichkeit bewegte, gilt jener der Hermine Ryan-Braunsteiner, der Kindermörderin von
Majdanek, die Wiesenthal in New York ausfindig machte, und die 1973 an Deutschland
ausgeliefert und zu lebenslanger Haft verurteilt wurde.
Bei der Ausforschung der Fluchtwege hochrangiger Täter
stieß Wiesenthal auf die mit dem Vatikan in Verbindung stehende Naziorganisation
"Odessa". Wiesenthals Erkenntnisse wurden von Frederick Forsyth zu dem in 17
Sprachen übersetzten und verfilmten Bestseller "Die Akte Odessa" (1972)
verarbeitet.
Die Zusammenarbeit mit staatlichen Behörden verlief nicht
immer ohne Friktionen. Wegen seiner völligen Unabhängigkeit und starken moralischen
Überzeugung, die frei von parteipolitischem Kalkül oder übergeordneten strategischen
weltpolitischen Überlegungen ist, fanden Wiesenthals Bemühungen unterschiedliche
Aufnahme. Von einem Beispiel passiven Widerstandes weiß der Wiener Historiker Winfried
Garscha zu berichten: Nach Betreten eines von ihm oftmals aufgesuchten Gerichtsgebäudes
verständigte der Portier die Staatsanwälte telefonisch von Wiesenthals Anwesenheit,
damit sie die nötigen Abwehrmaßnahmen treffen könnten - sie versperrten ihre
Bürotüren.
Zwei ganz unterschiedliche prominente Fälle, die Wiesenthal
zu seinem Anliegen gemacht hat, sind bis heute nicht restlos geklärt: Wiesenthal setzte
sich für die Aufklärung des Schicksals von Raoul Wallenberg ein, der nach der Befreiung
Budapests durch die Rote Armee verhaftet worden war und dessen Schicksal ungeklärt blieb.
Ebenso offen ist der Ausgang der Fahndung des Naziverbrechers Alois Brunner, der bis heute
in Syrien vermutet wird.
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Efraim
Zuroff besucht seinen Mentor Simon Wiesenthal, um ihn unter anderem über den Prozess
gegen Dinko Sakic zu berichten. Zuroff führt
Wiesenthal`s Werk weiter.
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Die Bedeutung Simon Wiesenthals für die Aufarbeitung der
Verbrechen während der Schoa wird in ihrer ganzen Dimension wohl erst in der
rückblickenden historischen Betrachtung in einigen Jahrzehnten möglich sein. Wiesenthal
neben der Ahndung von Naziverbrechen auch die heute in Kommissionen und in der
Öffentlichkeit diskutierte Rückgabe von geraubten Kunstschätzen betrieben. Sein
unablässiges Auftreten gegen das Vergessen, Verleugnen und Verdrängen hat weltweit
Resonanz und mit der Gründung der Wiesenthal-Center 1977 in Los Angeles, später in
Jerusalem und in Paris institutionalisierten Widerhall gefunden. Ehrungen wurden
Wiesenthal praktisch aus der gesamten westlichen Welt zuteil, seit der Wende in den
kommunistischen auch aus Mittel- und Osteuropa, zuletzt aus Bosnien-Herzegowina. Erst 1997
wurde das AMCHA-Center in Tel-Aviv nach Simon Wiesenthal benannt. Zuletzt wurde Simon
Wiesenthal am 19. Dezember 1998 im Anschluß an die von ihm initiierte dreitägige
Konferenz "über die Quellen des Hasses" - und in seiner krankheitsbedingten
Abwesenheit - der "Europäische Preis Pro Humanitate für Gerechtigkeit"
verliehen. Der heuer erstmals vergebene Preis wird von der Kultur-Fördergemeinschaft der
europäischen Wirtschaft vergeben. Zugleich mit Wiesenthal erhielten der Wiener
katholische Kardinal Franz König sowie der türkische Kinderarzt Ihsan Dogramaci die
Preise "Pro Humanitate für Frieden" bzw. "Pro Humanitate für
Toleranz". Die Verleihung stand unter der Schirmherrschaft der Präsidenten der
Parlamentarischen Versammlung des Europarates und des Europäischen Parlaments.
Lediglich eine der größten Ehrungen blieb Wiesenthal trotz
mehrmaliger Nominierung bisher versagt: der Friedensnobelpreis.
Wiesenthals Gegner
Der Konflikt mit Bruno Kreisky und dessen Sozialistischer
Partei wurde gleich doppelt ausgetragen: 1970 machte Wiesenthal publik, daß vier der elf
Regierungsmitglieder von Kreiskys Minderheitenregierung als ehemalige NSDAP-Mitglieder
vorbelastet waren. Kreisky verteidigte seine Minister - und beließ sie im Amt. Vor den
Nationalratswahlen 1975 übergibt Wiesenthal ein Dossier an Bundespräsident
Kirchschläger, in dem er aufdeckt, daß der Parteiobmann der FPÖ, Friedrich Peter - von
Kreisky als möglicher Vizekanzler nach der Wahl vorgesehen - der 1. SS Infanteriebrigade
angehörte, einer Einheit der Waffen-SS, die an Erschießungen von Juden beteiligt war.
Am 9. Oktober - Kreiskys SPÖ erhielt die absolute Mehrheit,
Peter war als Abgeordnete zum Nationalrat gewählt worden - informiert Wiesenthal die
Öffentlichkeit in einer Pressekonferenz. Kreisky und seine sozialistischen
Parteifunktionäre beginnen ein Kesseltreiben gegen Wiesenthal und überlegen öffentlich
seine Verfolgung bis hin zur Ausbürgerung. Kreisky beschuldigt Wiesenthal der
Gestapo-Kollaboration, bezweifelt die Rechtmäßigkeit von Wiesenthals Diplom und der
Erlangung seiner Staatsbürgerschaft. Bis zu seinem Tod 1990 blieb der populäre
Bundeskanzler (1970-83) Wiesenthal gegenüber unversöhnlich. Das Wählerpotential
ehemaliger Nationalsozialisten dankte es ihm und verhalf Kreiskys SPÖ dreimal zur
absoluten Mehrheiten.
In die Schußlinie des World Jewish Congress geriet
Wiesenthal im Zuge der Waldheim-Affäre 1986. Während der WJC nicht ganz ohne
Berechtigung zum generellen Rundumschlag gegen die österreichische Verleugnung und
Verdräng im allgemeinen sowie gegen den "Kriegsverbrecher" Kurt Waldheim im
besonderen ausholte, und damit die Manifestierung latenten österreichischen
Antisemitismus, etwa gegen "gewisse Kreise der Ostküste", provozierte, stellte
sich Wiesenthal mit differenzierenden Aussagen vor Waldheim und vor Österreich.
Wiesenthals Vorschlag, eine internationale Historikerkommission einzurichten, wird ein
Jahr später angenommen und nach Abschluß der Recherchen 1988, die keine Beweise für
eine persönliche schuldhafte Beteiligung Waldheims zutage bringen, fordert Wiesenthal
Waldheim zum Rücktritt auf - wegen unwahrer Behauptungen. Dieser Konflikt mit dem WJC und
einige weitere - zum großen Teil auf Eifersüchteleien zurückzuführende -
innerjüdische Kritik wurde noch im Februar 1996 in der ARD-Sendung "Panorama"
aufgegriffen, um Simon Wiesenthals Rolle bei der Ausforschung und Verfolgung von
Naziverbrecher herunterzuspielen. Der damalige Leiter der Zentralstelle zur Ermittlung von
NS-Verbrechen in Ludwigsburg, Oberstaatsanwalt Alfred Streim, verteidigte Wiesenthal kurz
darauf und schrieb ihm "Hunderte erfolgreicher Hinweise auf den Aufenthaltsort von
Verbrechern" zu. Wiesenthal selbst spricht von rund 1 100 Fällen, in denen er an der
Auffindung von Naziverbrechern beteiligt war.
Bereits länger zurück liegen Wiesenthals "Fehde mit
dem Osten" (vor allem Polen und die DDR) sowie die Auseinandersetzung mit arabischen
Staaten, jeweils wegen deren - zum Teil aus antiisraelischen Motiven erfolgte -
Unterstützung der Naziverbrecher. Wiesenthal wurde dafür sowohl der
Gestapo-Kollaboration (dieser Vorwurf wurde später von Kreisky aufgegriffen), wie auch
der Agententätigkeit für die USA und/oder Israel beschuldigt.
Anton
Legerer, Jr. / anton@hagalil.com
Jüdische Rundschau vom Nr. 52 vom 23. Dezember 1998
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