
Opferrolle:
Die Banalisierung des Bösen
Die
Bedenkenlosigkeit, mit der Politiker den Nationalsozialismus
zitieren, zeugt nicht von ihrer rechten Gesinnung, sondern von einem
Wandel der deutschen Erinnerungskultur
Von Dieter Rulff
Von einer breiteren Öffentlichkeit
weitgehend unbemerkt fand jüngst, wenn man so will, ein Kapitel
deutscher Nachkriegsgeschichte sein offizielles Ende. Der Präsident
des Zentralrates der Juden in Deutschland, Paul Spiegel, erklärte
anlässlich des 50. Jahrestages des Luxemburger Abkommens, in dem die
Regierung Adenauer und die Jewish Claims Conference 1952 die
Entschädigung für die Opfer des NS-Regimes regelten, man solle
aufhören, in diesem Zusammenhang von Wiedergutmachung zu sprechen.
Dieses Wort entspreche den Realitäten der Entschädigungspraxis
nicht. Womit Spiegel sicherlich Recht hat. Die Zahlungen an die
Opfer und Hinterbliebenen konnten noch nie einlösen, was der Begriff
in einem Anklang naiver Unschuld suggerierte. Wie ein Kleinkind die
beiden Teile des von ihm zerbrochenen Spielzeuges aneinander drückt
in der Erwartung, dass so wieder zusammenwachse, was zusammengehört,
so insinuiert das Wort die Möglichkeit eines Status quo ante der
Unschuld, der doch um alles Geld der Welt nicht mehr erreichbar sein
konnte.
Doch wer immer das Wort seinerzeit aus
der Taufe gehoben hat, um die Entschädigungsleistungen auf den
Begriff zu bringen: Er konnte keinen besseren finden, die mentale
Verfassung einer Bevölkerung auszudrücken, die in jener "intensiven
Abwehr von Schuld, Scham und Angst" befangen war, die sich für
Alexander Mitscherlich in der "Unfähigkeit zur Trauer um den
erlittenen Verlust des Führers" ausdrückte. Verdrängung
lautete die kollektiv neurotische Antwort auf das, was reichlich
verschwiemelt als "die jüngste Vergangenheit" umschrieben wurde.
Mittlerweile ist die jüngste
Vergangenheit - Vergangenheit. Die Entschädigungen sind eine wenn
auch bisweilen von schlechter Zahlungsmoral durchsetzte Routine. Die
Erinnerung findet demnächst ihre in Stein gehauene Ruhestätte auf
dem Areal südlich des Brandenburger Tores. Die Fragen nach den
gesellschaftlichen und historischen Bedingungen scheinen alle
beantwortet oder, sofern noch offen, weniger Gegenstand allgemeinen
Interesses, sondern eher von Sonderforschungsbereichen zu sein.
Solchermaßen aller konkreten Bezüge
entkleidet, haben die Verbrechen der NS-Zeit wieder Eingang in den
politischen Diskurs gefunden - sie erfreuen sich als Inkarnation des
Bösen einer seltsam anmutenden Beliebtheit. In einer Welt, die arm
geworden ist an binären Codes, in welcher sich die Politik
tagtäglich zu behaupten hat im schrillen Einerlei medialer
Übersättigung, wo die Krise das politische Alltagsgeschäft bestimmt
und selbst der Skandal samt Empörung sich von der vielstimmigen
Routine nicht mehr abzuheben vermag, da verspricht der Griff in die
"jüngste Vergangenheit" noch am zuverlässigsten die gewünschte
Aufmerksamkeit. Und wird deshalb zunehmend bedenkenloser getätigt.
Ob der hessische Ministerpräsident Roland Koch den Vermögenden des
Landes den "Stern" anheftet oder die ehemalige Justizministerin
Herta Däubler-Gmelin Bushs Motive für den Irakkrieg schon bei Adolf
Hitler erkennt, ob Helmut Kohl Bundestagspräsident Wolfgang Thierse
in die Kontinuität von Hermann Göring stellt oder Oskar Lafontaine
den Bundeskanzler in die von Reichskanzler Brüning - stets prägt
nicht das Bemühen um Präzision, Anschaulichkeit und Angemessenheit
den historischen Vergleich, sondern seine Alarm auslösende Wirkung.
Dass diese schon kaum noch eintritt, wenn die
Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt die Ärzte im "Blitzkrieg"
gegen die Patienten wähnt, zeugt von der mittlerweile einsetzenden
Abnutzung durch häufigen Gebrauch.
Die Berliner Republik charakterisiert
sich selbst dadurch, dass die vor ihr stehenden Aufgaben nicht mehr
vergangenheitspolitisch zu bewältigen sind. Wem würde sich
angesichts von Pisa noch Adornos Frage nach der Bedeutung von
Auschwitz für die Schule aufdrängen? Ob Pazifismus oder Bellizismus
- was Auschwitz alles begründen kann, konnte man in den letzten
Jahren studieren. Weder die Skepsis der Flakhelfer noch die Gnade
der späten Geburt prägen das politische Bewusstsein. Der generative
Wechsel, den die Berliner Republik signalisiert, bedingt eine
schwindende Bedeutung des Vergangenen.
Und wie könnte die Historisierung des
Holocaust deutlicher werden als in seiner alltäglichen assoziativen
Verwendung. Es gilt nicht mehr, Lehren zu ziehen, gesellschaftliche
Praxis zu hinterfragen. Noch in der alarmistischen Rede vom
Tabubruch manifestiert sich eine Musealisierung der Erinnerung, die
den darin liegenden, mühsam ausgefochtenen gesellschaftlichen
Konsens verschleiert. Seit den Kontroversen der Achtzigerjahre ist
die Singularität unstrittig, keiner mehr, der sie offensiv in Frage
stellen würde. Auch die aktuellen Reden zielen nicht auf eine
Revision, dazu mangelte es ihnen schon an analytischem Gehalt. Auch
weisen sie nicht auf eine allgegenwärtige Latenz des Faschismus hin,
die einst dem Revoltieren der Studenten seine legitimatorische
Grundlage geben sollte. Seine jederzeitige Hervorbringung in
rhetorischen Figuren und Vergleichen setzt vielmehr voraus, dass man
Nationalsozialismus mittlerweile in Deutschland nicht mehr für
denkbar hält. Zugleich zeigt der alarmistische Reflex, der so
provoziert werden soll, dass sich die Gesellschaft ihrer selbst doch
nicht sicher ist.
Die Rede vom Bösen hat die Blickachse
verschoben. Sie verwischt das Bild vom Täter. So ließen sich Saddam
Hussein und Slobodan Milosevic mit Adolf Hitler gleichsetzen, weil
jenseits der analytischen Stimmigkeit die moralisierende Assoziation
eine mobilisierende Kraft entfaltet. Zwar ist das Interesse an der
Historie ungebrochen, doch die peinliche Selbstbefragung zum
Mitwissen und zur Mittäterschaft ist einer Verständnis erheischenden
Durchdringung der Macht und ihrer Apparate gewichen. Unzählige
Fersehbeiträge und Bücher widmen sich mittlerweile deren Innenleben,
wecken mit dem Originalton der inzwischen greisen Mitläufer,
Funktionäre, Sekretärinnen und Soldaten Empathie für die damaligen
Überlebenstechniken und Nöte, Vorstellungen und Hoffnungen des
legendären kleinen Mannes, der sich bisweilen als gar nicht so klein
erweist.
Die deutsche Gesellschaft gefällt sich
zusehends darin, in die Rolle der Opfer zu schlüpfen. Die aktuellen
Reden der Politiker mögen intendiert oder unbedacht sein, doch
spielen sie auf dieser Klaviatur. Die Bedenkenlosigkeit, mit der sie
ihr Wort führten, zeugt weniger von rechter Gesinnung als vielmehr
von einem Wandel der Erinnerungskultur in Deutschland, der nicht
allein dem Wechsel der Generationen geschuldet ist. Er manifestiert
sich in der verstärkt zu beobachtenden Hinwendung zu den Leiden der
Vertreibung ebenso, wie in der Aufmerksamkeit, die nun den Opfern
des alliierten Luftkrieges zuteil wird. Ihnen eigen ist die
Entlastung von der Schuld, alleinig ein Volk der Täter zu sein. In
der Aneignung der Opferperspektive relativiert sich, was sich nicht
wieder gutmachen lässt.
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18-12-02 |