Wieder einmal
Bekenntniszwang
Wer in
Deutschland Israel kritisiert, entschuldigt die Nazivergangenheit, sagen
die einen. Wer Israel bedingungslos unterstützt, zieht die falsche Lehre
aus der Geschichte, meinen andere. Und fast alle reden so, als gäbe es
diese Debatte dieses Jahr das erste Mal. Notizen zu einem
Déjà-vu-Erlebnis
Von Stefan Reinecke
Michel Friedman meint, dass
gerade in Deutschland Kritik an Israel auf "die Terminologie" achten
muss. Wer NS-Begriffe verwende, ob für Scharon oder Arafat, relativiere,
was im "Dritten Reich geschehen" sei. Joschka Fischer schreibt, dass
"Teile der radikalen deutschen Linken in Palästina ihre verdrängte
nationale Identität austragen. Bei uns hat sich um die Frage ,Wie hältst
du es mit Israel?' ein wahrer Glaubenskrieg entzündet." Der sei
vollkommen unnütz - denn es gehe um Realpolitik, nämlich um die
Verständigung zwischen Israel und Palästina. Steile antiisraelische
Töne, so Fischer, nützen nur Scharon. Und eine Frankfurter Journalistin
fürchtet, dass es eine trübe antiisraelische Einheitsfront aus
"FDP-Möllemann, der radikalen Linken und der Mehrheit des deutschen
Volkes" gibt.
Klingt vertraut, doch diese
Zitate sind zwanzig Jahre alt. Sie stammen aus dem Frankfurter
Spontiblatt Pflasterstrand von 1982. Israel hatte den Libanon
besetzt, Joschka Fischer war gerade bei den Grünen eingetreten und
genauso unbekannt wie Michel Friedman. Bei dieser kleinen Zeitreise
stößt man auf die exakt gleichen Argumente wie heute, sogar auf die
gleichen Hauptdarsteller. Auch damals ging es um die heillose Verkettung
deutscher Vergangenheitsbewältigung und des Nahostkonfliktes, um das
Gestrüpp von sich widersprechenden Loyalitäten. Dieser Konflikt
wiederholte sich 1991 beim Golfkrieg, Freundschaften gingen zu Bruch,
alles drehte sich um die Frage "Wie hältst du es mit Israel". Die
einprägsamste Nazianalogie erfand damals Hans Magnus Enzensberger mit
der Parole, dass Saddam Hitlers Widergänger sei.
1982, 1991, 2002, same
procedure as every decade. Die identitätspolitische Aufladung
scheint ungebrochen, die Argumente werden so forsch vorgetragen, als
wäre es das erste Mal. Die deutsche Israel-Debatte ist eine Diskussion
um Historie, die erstaunlich blind für ihre eigene Geschichtlichkeit
ist.
Diese Gedächtnisschwäche scheint
die Voraussetzung zu sein, um sich ins Getümmel zu stürzen. Denn würde
man gewahr, welche Vergangenheit die eigene Position hat, dann müsste
man sich die eigenen Argumente aus der Luft anschauen. Das würde den
noch immer freudig angenommenen Bekenntniszwang bremsen. So geht es
wieder darum, wer ein guter Deutscher, wer ein verkappter Antisemit ist.
Diese Frage erzeugt noch immer
die alten Tunnelblicke. Norbert Blüm hat die israelische Militäraktion
in Palästina einen "hemmungslosen Vernichtungskrieg" genannt. Zwei
Worte, drei Fehler. Sachlich ist diese Beschreibung doppelt falsch.
Scharons Feldzug ist eine politische Katastrophe, die nicht die
"Infrastruktur des Terrors" zerstört, sondern das Gegenteil bewirkt:
noch mehr verzweifelte Terroristen, die Israel noch militanter bekämpfen
werden. Doch hemmungslos - also jenseits aller Regeln - ist dieser Krieg
keineswegs geführt worden. Er ist brutal, aber zeitlich und räumlich
begrenzt. Der Gegner soll geschwächt und gedemütigt, aber keineswegs
vernichtet werden. Mit dem Begriff Vernichtungskrieg assoziieren wir
zudem den Krieg der Naziwehrmacht im Osten. Daraus spricht die Fantasie,
dass die Israelis irgendwie auch Nazis sind. So werden die Rollen
verkehrt, die moralische Grenze zwischen Tätern und Opfern verschwimmt.
(Die Neigung zur schuldentlastenden Projektion ist weder neu noch eine
deutsche Erfindung. Im US-Western wurde die Verkehrung der Indianer von
Opfern eines Völkermords zu blutrünstigen Aggressoren ein
Genrestereotyp.)
Ist Blüm also ein Antisemit?
Nein. Zum Antisemitismus gehört eine feste, diffamierende Vorstellung,
was Juden sind. Diese Äußerung ist vielmehr typisch für eine
lernresistente, empörungsbereite Israelkritik, die blind für die eigene
Geschichte bleibt. Sie ist, in ihrem Moralismus, politikuntauglich, weil
sie die Wirklichkeit im Nahen Osten durch den Filter unbewussten
Entlastungsinteresses nur verzerrt wahrnehmen kann.
Auf der anderen Seite sieht es
nicht viel besser aus. Hellmuth Karasek verbreitet im Tagesspiegel
pars pro toto einen Agit-Prop-Philosemitismus, in dem deutsche
Gutmenschen, "die Linke" (wer mag das sein: die Scharon-Freunde in
Konkret
und Jungle World?) und Neonazis in einem Atemzug genannt
werden. In diesem übersichtlichen Weltbild ist Israel gut, Israels
Gegner sind allesamt böse. Logisch, dass so gesehen "Al-Aksa- und
Al-Qaida-Brigaden" das Gleiche sind: Terroristen. So verschwindet der
fundamentale Unterschied - dass al-Aksa mit illegitimen Mitteln für ein
legitimes Ziel, einen lebensfähigen palästinesischen Staat kämpft,
während al-Qaida illegitime Mittel für ein illegitimes Ziel, die globale
Islamisierung, einsetzt. Dieser deutsche Philosemitismus ist nicht nur
blind für seine eigene dialektische Verkettung mit seinem Gegenteil. Er
ist, in seiner moralischen Dichotomie, politikuntauglich. Wo
Unterscheidungs- und Differenzierungsvermögen nötig sind, entwirft er
eine Welt in Schwarz und Weiß, ohne Grau.
Eine neue Facette dieser Haltung
hat Patrick Bahners kürzlich in der FAZ skizziert: Die Lehre aus
Hitler sei nicht die "Kinderspielplatzmoral" der
Entwicklungshilfeministerin Heide Wieczorek-Zeul, die auf der
universellen Geltung von Menschenrechten beharrt hatte. Aus Hitler folge
für Deutsche nur eines: "unbedingte Solidarität mit Israel". Bahners
Zorn gilt der alten, Petra-Kelly-und-Heide-Wieczorek-Zeul-Republik, der
Angsthasen-BRD, die als Gespenst im wiedervereinigten Deutschland
weiterwest. Ihn stört, was die Bundesrepublik unter anderem zu einem
erfreulichen Land macht: eine friedliche, zivile Kultur, die ohne Helden
und nationales Pathos auskommt.
Der militärische Kampf Israels
gegen die Selbstmordattentäter hat dagegen etwas Leuchtendes. Da ist ein
Hauch von Botho Strauß zu spüren, ein stilles Sehnen nach Agonalem, nach
Kampf und Entscheidung, den unser von freundlicher Langeweile geprägter,
ziviler bundesrepublikanischer Alltag nicht hergibt.
Es gibt somit eine Differenz. Die
NS-Vergangenheit wird derzeit weitgehend widerspruchslos historisiert.
Sie wird nicht verdrängt, aber sie verliert an aktueller Prägekraft. Der
Generationskonflikt, der Aufstand der 68er gegen die Väter, ist schon
seit längerem vorbei und symbolisch in der Figur von Joschka Fischer
stillgelegt. Ein neuer Ton setzt sich in den Vergangenheitsdebatten
durch: sachlicher, abwägender, distanzierter.
Das scheint für das Sprechen über
Israel nicht zu gelten. Wer über Israel urteilt, produziert noch immer
Selbstdefinitionen und Projektionen. Ein bizarres Beispiel dafür stammt
von Gerhard Schröder, der kürzlich die Idee ventilierte, dass deutsche
Soldaten in Israel eingesetzt werden sollen. Für und Wider dieses
Vorschlags wurden in Kommentaren abgewogen, Stoiber widmete dieser Frage
seinen ersten Auftritt als Kanzlerkandidat im Parlament. Dass kein
einziges Anzeichen existiert, dass Israel je Ja zu einer internationalen
Truppe sagen könnte, betrachtete man allgemein als ein interessantes
Detail der Debatte. Diese entlegene Diskussion zeigte zweierlei.
Schröder interessiert sich noch immer nicht für deutsche Geschichte.
Und: Er ist entschlossen, die außenpolitische Normalisierung
Deutschlands, die vom Kosovo über Afghanistan führte, zu Ende zu
bringen. Dafür braucht er die Vorstellung, dass deutsche Soldaten als
Teil einer internationalen Truppe auch in Israel stationiert werden
können. Das ist eine klassische Projektion, in der Israel zum Spiegel
eines deutschen Selbstverständnisdiskurses wird.
So what? Vernünftig wäre es, drei
Diskursregeln einzuhalten, die schon vor zwanzig Jahren gefordert
wurden:
1. Deutsche, die Israel
kritisieren, müssen Naziassoziationen weiträumig umfahren.
Nazivergleiche sind in aller Regel rhetorische Aufrüstungen ohne
analytischen Wert - das gilt für Nahost noch mehr als für Kosovo und
Irak.
2. Es ist nicht erlaubt, andere
als Antisemiten zu verdächtigen, wenn dies nicht präzise belegt werden
kann.
3. Wer mitredet, sollte
überprüfen, ob er nicht selbst Opfer projektiven Denkens ist. Er sollte
sich vergegenwärtigen, dass es in Nahost um einen tragischen Kampf
zweier Gesellschaften geht, die beide legitime Ansprüche erheben. Unsere
Empathie sollte beiden Seiten gelten.
Hat sich seit 1982 gar nichts
verändert? Nach der Unfähigkeit zu trauern die Unfähigkeit zu lernen?
Wer die Debatte anschaut, entdeckt auf allen Seiten authentische
Empörung. Allerdings ist die Verlaufsform der Diskussion zerstreut. Es
gibt kaum direkte Rede und Gegenrede. Die entschlossene
Unversöhnlichkeit, die die linken Familienkräche 1982 und 1991
charakterisierte, fehlt. Die Diskussion zieht sich hin, sie hat keinen
Fokus, keinen zentralen Text und (außer Möllemanns taz-Interview) keinen
handfesten Skandal hervorgebracht.
Das mag man als Indiz für eine
Art halbbewussten Lernens verstehen. Eigentlich wissen die Beteiligten,
dass sie in Zitaten sprechen, dass sie eine Schlacht nachspielen, die
schon mal geschlagen wurde. Vielleicht gibt es ein historisches Lernen,
nicht in Form selbstkritischer Reflexion, sondern durch die Hintertür.
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hagalil.com / 07-05-2002 |