Kommentar zum
Urteil von Richterin Kram:
Entschädigung als Geiselnahme
Von Rolf Surmann
Blätter für deutsche und internationale Politik, Bonn, 5/2001
Der New Yorker "Aufbau" veröffentlichte im März dieses Jahres die
Geschichte eines Möbelverkaufs. Stattgefunden hatte er 1938; Verkäuferin
war eine Jüdin, die Deutschland verließ, Käufer die Stadt Lauf an der
Pegnitz. Eine Rolle spielt dieser Besitzwechsel noch heute, weil die
Nichte der inzwischen verstorbenen Frau die Möbelstücke im Archiv der
Stadt vor einiger Zeit ausfindig gemacht hatte.
Der Archivar bestätigte ihr auf Anfrage, daß es eine Auflistung der
benannten Möbelstücke gebe und diese sich noch im städtischen Besitz
befänden. Die Aussichten der Nichte, die Einrichtungsgegenstände als
Erinnerung an ihre Familie zurückzuerhalten, verschlechterten sich
jedoch durch einen Brief des Bürgermeisters, in dem dieser mitteilte,
die Möbel seien laut vorliegender Quittung mit 540 Reichsmark
ordnungsgemäß erworben worden, hätten wegen Pflege und Erhalt seit mehr
als 60 Jahren erhebliche Unkosten verursacht und wären ohnehin nicht
mehr auffindbar.
Lassen wir unberücksichtigt, daß die ursprüngliche Besitzerin immer davon
erzählt hatte, ihr seien die Möbel zu einem symbolischen Kaufpreis von einer
Reichsmark genommen worden, werten wir auch nicht die städtische Einlassung, die
Unterschrift auf der Quittung sei so klar, daß nicht unter Zwang unterschrieben
worden sein könne ("dann hätte ihre Hand doch zittern müssen"), übergehen wir
schließlich, daß nach bundesdeutschem Rechtsverständnis Besitzübertragungen von
Juden nach 1935, also nach Erlaß der "Nürnberger Gesetze", grundsätzlich nicht
als "freiwillig" gelten, so ist doch allemal die Hartnäckigkeit bemerkenswert,
mit der die Aneignung selbst von Gütern des täglichen Gebrauchs gegenüber den
wenigen Überlebenden einer systematischer Vernichtung preisgegebenen Familie
behauptet wird. Sicher, es handelt sich hier um eine wenig spektakuläre
Geschichte, die angesichts des weiten Feldes übergangenen Unrechts nach 1945
kaum erwähnenswert scheint, doch zeigt sie in Form alltäglicher Begebenheit ein
im Hinblick auf Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter sowie auf
Vermögensaneignungen durch deutsche Banken maßgebliches Moment offizieller
Politik.
Gemeint ist hier nicht, daß die deutsche Seite Zwangsarbeit nicht als
Entschädigungsgrund anerkannt hat oder daß das jetzige Abkommen diverse
Opfergruppen weiterhin aus dem Kreis der Anspruchsberechtigten ausschließt.
Angesprochen ist vielmehr die neben aller Gedenkrhetorik stets präsente
Kampfhaltung, die Zugeständnisse nur erlaubt, wenn die Umstände ein anderes
Vorgehen unmöglich machen. Der US-Richterin Kram, die über die Abweisung von
Sammelklagen gegen deutsche Banken wegen bis heute nicht entschädigter
unrechtmäßiger Aneignung jüdischen Besitzes zu entscheiden hat, war es
vorbehalten, diese Haltung auf simple Weise sichtbar zu machen: Sie nahm die
Verantwortung der Wirtschaft ernst.
Mit dem Fall betraut, hatte sie umgehend festgestellt, sie sehe eine
vertragsgemäße Fondsausstattung als elementare Voraussetzung für eine
Klageabweisung und damit für die Weiterleitung der Kläger an die deutsche
Stiftung an. Das wurde hierzulande zwar zur Kenntnis genommen, aber nicht weiter
beachtet. Statt dessen gab man sich überrascht, als die Richterin den Beschluß
verkündete, sie sei außerstande, unter den gegebenen Bedingungen die
Sammelklagen abzulehnen und NS-Verfolgten damit den Rechtsweg abzuschneiden.
Erst jetzt fand sich die Wirtschaft bereit, ihren Pflichtbeitrag von 5
Milliarden Mark zu garantieren, weigert sich aber nach wie vor, ihn - wie
ebenfalls gefordert - an die Stiftung zu überweisen.
Doch handelt es sich bei diesem Konflikt nur um die Oberfläche des Problems.
Weitaus größere Sprengkraft dürfte die Ernsthaftigkeit haben, mit der die
Richterin prüft, ob die im Abkommen nicht berücksichtigten NS-Verfolgten durch
den Ausschluß des Rechtswegs einen nach rechtsstaatlichen Prinzipien nicht zu
verantwortenden Schaden erleiden. Dieser Frage geht sie am Beispiel eines
konkreten Falls nach. Es handelt sich um das Abkommen, das die Bank Austria
analog zum deutschen Vorgehen mit NS-Verfolgten wegen bisher nicht entschädigter
Vermögensverluste schloß. Die getroffene Vereinbarung enthält allerdings die
Weigerung des Geldhauses, für die Zeit nach dem "Anschluß" Österreichs, in der
es nebst Vorgängerunternehmen unter Kontrolle deutscher Banken stand,
entsprechende Zahlungen zu leisten. Man einigte sich darauf, daß dieser Betrag -
45 Millionen Dollar - von denen zu entrichten sei, die damals aus Übervorteilung
und Raub den Nutzen zogen. (Gleichzeitig war man so freundlich, den
Rechtsanwälten jede für notwendig gehaltene Archiveinsicht zu gewähren, was die
deutsche Seite niemals auch nur in Erwägung zog.) Im deutschen Stiftungsfonds
sind die finanziellen Mittel für eine solche Leistung aber nicht enthalten, so
daß die Banken diesen Fall separat regeln müßten. Hierzu sind sie nicht bereit,
denn - Stichwort Globalabkommen - eine zentrale Bedingung der Wirtschaft für die
Zahlung der nach Steuern 2,5 Milliarden Mark ist, sich auf diese Weise aller
Verpflichtungen zu entledigen. Ließen sie sich auf die Forderung ein, müßten sie
ihr eigentliches Anliegen aufgeben, mit dem Abkommen einen endgültigen
Schlußstrich unter alle Forderungen von NS-Verfolgten zu ziehen.
Diese Kopf-oder-Zahl-Situation wirft noch einmal ein Schlaglicht auf einen
Grundzug der intendierten Bundesstiftung, der in der öffentlichen Wahrnehmung
kaum eine Rolle spielt: Eventuelle Zahlungen an die wenigen heute noch lebenden
Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter konnten erst deshalb vereinbart werden,
weil diejenigen von ihnen, die in den USA die Möglichkeit zur Klage haben,
hierauf - und damit auf eine eventuell weitaus höhere Entschädigung als von der
Bundesstiftung vorgesehen - verzichteten. Ihre Sammelklagen wurden deshalb (bis
auf ein Berufungsverfahren) bereits Ende letzten Jahres mit Zustimmung der
Kläger abgewiesen. Gleichzeitig formulierte die US-Regierung ein "Statement of
Interest", das die Justiz darauf verweist, daß die Verhandlung von
Entschädigungsklagen vor amerikanischen Gerichten nicht im außenpolitischen
Interesse der USA liege. Sie machte so ihrerseits den Klageweg weitgehend
"dicht".
Verschlechterte Rechtssituation
Gelingt das Vorhaben gemäß den deutschen Erwartungen, verschlechtert sich die
internationale Rechtssituation für die weiterhin übergangenen NS-Verfolgten
erheblich; es läge fast ausschließlich im Ermessen deutscher Entscheidungsträger
von Justiz bis Politik, über ihre Forderungen zu entscheiden. Der Kreis der
Betroffenen reicht von den Opfern des Wehrmachtsmassakers im griechischen Dorf
Distomo bis zu den jüdischen Gemeinden in der Slowakei. Letztere versuchten nach
langen ergebnislosen Verhandlungen mit der Bundesregierung Ende März vor einem
Berliner Gericht unter anderem den "Anstand" einzufordern, daß die deutsche
Regierung wenigstens durch Zahlungen für Gräberpflege und religiöse
Einrichtungen einen finanziellen Ausgleich dafür schafft, daß die slowakischen
Juden in Form einer "Umsiedlungssteuer" die Kosten für ihre Deportation und
Vernichtung aufbringen mußten. Sie scheiterten auch diesmal.
Internationaler moralischer, politischer, juristischer und wirtschaftlicher
Druck führte nach dem Abschluß des 2+4-Vertrags dazu, daß man auf deutscher
Seite in einigen Fällen wie beim Zwangsarbeitskomplex die Haltung
grobschlächtiger Ignoranz ablegte. Die Position der Richterin Kram stellt die
Wirtschaft und letztlich die deutsche Gesellschaft insgesamt jedoch erneut vor
die Entscheidung, ob sie sich den Anliegen der NS-Verfolgten mit der
Bundesstiftung nur entledigen wollen oder ob sie über die Einsicht verfügen, daß
die geschichtliche Verantwortung gebietet, auch diejenigen noch lebenden Opfer
ihrer Verbrechen zu entschädigen, die aufgrund der im Londoner Abkommen von 1953
aufgeschobenen Reparationsforderungen - hierunter fallen unter anderem die
individuellen Ansprüche von ausländischen Verfolgten - ihr Recht nie einfordern
konnten und im jetzigen "Globalabkommen" unberücksichtigt bleiben.
Erste Positionierungen waren jedoch eindeutig. "Sie (Richterin Kram) nimmt
eine Million Zwangsarbeiter in Geiselhaft", kommentierte Otto Graf Lambsdorff
den Umstand, daß die weiterhin andauernde deutsche Zahlungsverweigerung
international einen katastrophalen Eindruck hinterläßt. Im Feuilleton der FAZ
wurde die Richterin dann kongenial als "Geiselnehmerin" bezeichnet. Dabei
dürften es die Damen und Herren eigentlich besser wissen. In wessen Interesse
lag es denn, Zwangsarbeitsabkommen und Ausgleich von Vermögensschäden
miteinander zu verbinden? Auf diese Weise konnten Banken und Versicherungen
schnell ein trockenes Plätzchen finden, als wider Erwarten im Zuge des
schweizerischen NS-Raubgold-Skandals ihre schmutzigen Geschäfte im Zuge der
"Arisierung" und ihre führende Rolle beim Raubgoldhandel thematisiert wurden.
Unverhofft kam das für sie und die bereits großmundig über eidgenössische Schuld
spekulierende deutsche Öffentlichkeit deshalb, weil zuvor exzellent bezahlte
wissenschaftliche Topteams in den Archiven der Banken dergleichen nicht hatten
auffinden können.
Es besteht kein Grund, die finanziellen Leistungen an die Zwangsarbeiterinnen
und Zwangsarbeiter weiter hinauszuzögern. Denn die juristisch ausschlaggebenden
Klagen, von denen im Berliner Abkommen als Voraussetzung für den Zahlungsbeginn
die Rede ist, sind mit der Rücknahme der Sammelklagen zu diesem Punkt vom Tisch.
Die Frage bräuchte also lediglich von den Vermögensfragen abgekoppelt zu werden,
im übrigen eine Forderung, die seit langem im Raum steht. Der jetzt vernehmbare
Einwand seitens der Wirtschaft, eine hierfür notwendige Änderung des
Stiftungsgesetzes verstoße gegen die legislative Zuverlässigkeit des
Vertragswerks, hat diese wenig beeindruckt, als sie im Zusammenhang mit ihren
finanziellen Schwierigkeiten vor einiger Zeit selbst den Vorschlag machte, durch
eine Gesetzesänderung den Beitrag der staatlichen Unternehmen ihrem Fondsanteil
gutzuschreiben. Wer wen für welchen Zweck als Geisel zu benutzen versucht, wird
an dieser Haltung ganz nebenbei mehr als deutlich.
Statt aus Achtung vor den Opfern unverzüglich mit den Auszahlungen zu
beginnen, wird jetzt ein offensichtlicher Konfrontationskurs eingeschlagen.
Dabei verläßt man sich nicht mehr allein auf eine ebenso spontane wie effektive
Ablehnungshaltung, die vom Kleinstadtbürgermeister bis zum Bundeskanzler reicht,
sondern versucht dezidiert, die Reihen zu schließen und so verstärkt Druck
auszuüben. Seit Gerhard Schröder auf die Rolle des politischen Moderators
verzichtete, sich statt dessen von der Wirtschaft beauftragen ließ, Washington
bei seinem jüngsten Besuch eine verbesserte Version des "Statement of Interest"
abzuhandeln, und mit leeren Händen zurückkam, wird mobilisiert.
Gegen den Willen einiger Opfervertreter verabschiedete das
Stiftungskuratorium eine Erklärung, die mit Hinweis auf die Notlage der Opfer
zur Abweisung der Klagen in den USA auffordert. Kurz darauf votierte der
Bundestag mit großer Mehrheit für eine ähnliche Resolution. Unabhängig vom
Ergebnis dieses Unterfangens und unabhängig davon, ob Richterin Kram sich dem
Druck beugt oder nicht: Ein Zahlungsbeginn für die Zwangsarbeiterinnen und
Zwangsarbeiter ohne Klärung der von ihr aufgeworfenen Fragen im Sinne der
NS-Verfolgten weist immer auch auf all jene hin, die weiterhin von materiellen
Leistungen ausgeschlossen bleiben.
haGalil onLine
11-05-2001 |