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Schlamassel in der Gemeinde

Die Zahl der Juden in Deutschland hat sich durch Flüchtlinge aus der ehemaligen Sowjetunion mittlerweile verdreifacht. Mit den Russen lebt das liberale jüdische Leben im Land der Mörder wieder auf, den orthodoxen Zentralrat freut das nicht wirklich

von PHILIPP GESSLER

Der Affront war offensichtlich: Ende Februar besuchten 25 amerikanische Rabbinerinnen und Rabbiner Berlin. Es waren Abgesandte der renommierten "World Union for Progressive Judaism", die über 1,6 Millionen Jüdinnen und Juden in 46 Ländern vertritt - einen beträchtlichen Teil der insgesamt etwa 13 Millionen Juden weltweit also. Die Delegation, geführt vom Präsidenten der "World Union", Austin Beutel aus Toronto, hoffte auf ein Treffen mit dem Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Paul Spiegel. Vergebens. Spiegel war beim koscheren Essen in Berlin nicht zugegen. Laut Auskunft der hiesigen "Union progressiver Juden in Deutschland, Österreich und der Schweiz" hat er nicht einmal auf die Einladung reagiert.

Der unschöne Vorfall ist bezeichnend für einen jahrelangen Konflikt in der jüdischen Gemeinschaft der Bundesrepublik. Der Schlamassel nahm seinen Ausgang mit dem Zuzug so genannter Kontingentflüchtlinge aus den Ländern der früheren Sowjetunion Anfang der Neunzigerjahre: Die Zahl der Juden in Deutschland verdreifachte sich auf heute knapp 100.000 Gläubige - das jüdische Leben im Land der Mörder blühte wieder auf, wurde vielfältiger. Durch die Schoah war das liberale Judentum hierzulande fast ausradiert worden. Dabei hatte es vor 200 Jahren seinen Ursprung in Deutschland und war hier lange dominierend.

Nach dem Krieg aber blieben vor allem heimatlose "Displaced Persons" aus Osteuropa, Überlebende der Vernichtungslager, in Deutschland hängen. Sie waren meist konservativ-orthodox und bestimmten schon bald das Leben in den Synagogen. Deshalb ist auch der Zentralrat der Juden heute vor allem orthodox geprägt. Zwar versteht er sich nur als politisches Gremium, nicht als religiöse Einrichtung, vertritt aber zugleich das Prinzip der "Einheitsgemeinde", die die Juden aller religiösen Strömungen in einem Verband vereinen will.

Dies Prinzip ist für alle Nicht-Orthodoxe hinderlich: Es gibt mittlerweile wieder etwa 80 Gemeinden, aber nur rund 30 Rabbiner in der Bundesrepublik - und die sind nahezu alle orthodox. Die immer noch wenigen liberalen Juden haben es da schwer, ihren Gemeindevorstand oder Rabbiner davon zu überzeugen, auch liberale Gottesdienste anzubieten. Nicht zuletzt aus Geldmangel gibt es am Schabbat in der Regel nur orthodoxe Feiern, zelebriert von orthodoxen Rabbinern nach uralten Traditionen, die räumliche Trennung der Geschlechter in der Synagoge eingeschlossen.

Viele Kontingentflüchtlinge aus dem früheren Ostblock mit seiner marxistisch fundierten und staatlich verordneten Religionsdistanz, ja -verachtung hatten bis zur Übersiedlung kaum Chancen, ihre Religion zu leben. Klar, dass vielen von ihnen die Gottesdienstformen des progressiven Judentums attraktiv erscheinen, da sie einfacher verständlich und zugänglicher sind: Wer das Schwimmen nie üben konnte, springt nicht gleich vom Zehnmeterturm.

So fingen seit Mitte der Achtziger immer mehr Gruppen liberaler Juden an, eigene (Zweig-)Gemeinden zu gründen, um auf ihre Art feiern zu können. In großen Gemeinden wie Berlin verhinderten die Vorstände durch das Angebot liberaler Gottesdienste eine Abwanderung der Liberalen. Zentralrat und Landesverbände aber konnten oft mit den neuen Gemeinden wenig anfangen. Sie erscheinen einigen Zentralratsvertretern nicht koscher: In vielen werde es Konvertiten zum Judentum zu einfach gemacht. Manche liberalen Gemeinden glichen eher jüdischen Kulturvereinen als Gemeinschaften von Betern, hört man hinter vorgehaltener Hand. Die Hauptsorge ist, dass durch die neuen Gemeinden und ihre Vertretung in der "Union" das Judentum in der Bundesrepublik gespalten werden könnte.

Viele Liberale wollen sich tatsächlich nicht in die existierenden Strukturen des Judentums in Deutschland integrieren. Dass einige "Union"-Vertreter zudem zu einem gehörigen Maß an Polemik gegenüber dem Zentralrat neigen, erleichtert die Integration auch nicht unbedingt. Außerdem geht es ums leidige Geld: In der Regel zahlen die Jüdinnen und Juden ebenso wie die Christen in der Bundesrepublik einen Teil ihres Einkommens als Kirchen-/Kultussteuer, die vom Staat eingezogen und dann der Glaubensgemeinschaft überwiesen wird. Das Geld aber bekommen bisher fast nur Verbandsgemeinden, die vom Zentralrat anerkannt sind. Vom Kultussteuer-Kuchen erhalten deshalb die liberalen Gemeinden, die meist als einfache "e. V." organisiert sind, im Regelfall nichts.

Wenn liberale Juden nun nicht wollen, dass ihre Kultussteuer weiter nur der Einheitsgemeinde zugute kommt, bleibt ihnen meist nur übrig, dem Standesamt ihren Austritt aus dem Judentum bekannt zu geben - ein zwar schmerzlicher, aber nur formaler Schritt, da dies religiös gesehen gar nicht möglich ist. Jan Mühlstein will ihn nicht tun. Er ist der Vorsitzende der deutschen "Union" und betont: "Wir sind keine Gegenveranstaltung zur Einheitsgemeinde." Gleichzeitig drängt er aber auf eine Berücksichtigung seiner elf deutschen Gemeinden beim Geldsegen durch die Steuern: Reformgruppen böten wie die Einheitsgemeinden eine religiöse Betreuung von der Geburt bis zum Tode - was etwas übertrieben ist, denn gerade mal die Münchner Gemeinde kann sich eine halbe Rabbinerstelle leisten.

Mühlstein klagt über den Zentralrat: Briefliche Bitten um Gespräche über eine Beteiligung an den Einnahmen seien unbeantwortet geblieben. Im Juni 1998 verabschiedete die Central Conference of American Rabbis, eine Vereinigung von 1.400 Rabbinern aus den USA und Kanada, eine Resolution, in der sie den Zentralrat angriffen: Die deutschen Reformgemeinden würden diskriminiert. Sie seien "praktisch überall von der organisierten jüdischen Gemeinschaft attackiert worden".

Die nordamerikanischen Rabbiner appellierten an die deutsche Regierung und die Offiziellen der "Einheitsgemeinde", den Reformern die gleiche Unterstützung zukommen zu lassen, die auch die "orthodoxen Gemeinschaften" bekämen. Der Vorwurf gegenüber dem Zentralrat ist nicht ganz fair, denn das Judentum ist, anders als etwa die katholische Kirche, nicht hierarchisch organisiert: Wenn ein Rabbi oder ein Gemeindevorstand sich keine Mühe gibt, die liberalen Juden in die Gemeinde zu integrieren, kann der Zentralrat praktisch nichts dagegen tun.

Ein Problem ist auch, dass der Zentralrat offiziell nichts über die "Union" sagen will. Hörbar ist immerhin, wie sehr es manche Vertreter des Zentralrats ärgert, dass die "Union" den Konflikt in die (nicht-jüdische) Öffentlichkeit zerrt. Die verstehe doch die sensiblen religiösen Probleme bei diesem Streit gar nicht, heißt es. Man will das Ganze lieber als innerjüdische Familiensache behandeln. Sonst drohe eine Eskalation der Auseinandersetzung zu einer öffentlichen Schlammschlacht, an der sich nur die Antisemiten ergötzen könnten.

Die "Union" schert das kaum: Mit den "World-Union"-Rabbiner machten die Liberalen einen sogleich publizierten Vorstoß. Bei Gesprächen im Kanzleramt und im Innenministerium baten die Liberalen um Unterstützung. Ihr Argument: Staatliche Mittel seien für Aufgaben wie die Integration der "Russen" vergeben worden, der auch die liberalen Gemeinden nachkämen. Warum erhalte man dann kein Geld? Höflich hörten die Regierungsvertreter die Klagen der "Union" an - feste Zusagen aber gaben sie nicht. Bund und Länder haben Scheu davor, sich in diese ihrem Verständnis nach innerjüdische Angelegenheit einzumischen.

Immerhin einen Erfolg konnten die liberalen Juden schon jetzt verbuchen: eine Einladung des Executive Directors der "World Union", Dow Marmur, zu einem Treffen mit dem neunköpfigen Präsidium des Zentralrats, unter ihnen Paul Spiegel. Marmur aber nahm, de facto als Anhängsel, zu dem Treffen in Düsseldorf Ende März führende Mitglieder der deutschen Tochterorganisation mit, darunter auch Jan Mühlstein. Erstmals fanden also doch Gespräche zwischen Zentralrat und "Union" statt. Wenn auch indirekt.

Was dabei herauskam? Darüber schweigen Mühlstein und der Zentralrat in der Öffentlichkeit. Eines aber sagt der "Union"-Chef dann doch: Seinem Eindruck nach habe das Treffen eine "atmosphärische Annäherung" gebracht. Ein Durchbruch in der innerjüdischen Auseinandersetzung ist das wohl kaum.

taz Nr. 6445 vom 14.5.2001, Seite 14, 275 Zeilen TAZ-Bericht PHILIPP GESSLER

Rabbiner Dow Marmur über Pluralismus und Judentum:
'Wir erwarten vor allem Respekt'

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