Offener Brief von Ralph Giordano
"Dr.phil.h.c. Ralph Giordano
50968 Köln, 21. Mai 2002
An den Bundesvorstand
Der Freien Demokratischen Partei (FDP)
Herrn Vorsitzenden
Guido Westerwelle
Platz der Republik 1
11011 Berlin
Sehr geehrter Herr Westerwelle,
nachdem Hildegard Hamm-Brücher,
Hans-Dietrich Genscher, Burkhardt Hirsch, Otto Graf Lambsdorff und
andere Granden des bundesdeutschen Nachkriegsliberalismus der
Parteiführung ultimativ klar gemacht haben, was Jürgen Möllemann mit
seinen einseitig antiisraelischen Schuldzuweisungen für die Ursachen der
Nahosttragödie und der von ihm durchgepaukten FDP-Mitgliedschaft eines
Yamal Karsli anrichtete, will ich Ihnen heute mitteilen, was der
Ego-Shooter und Verbalbulldozer aus Nordrhein-Westfalen in der jüdischen
Gemeinschaft ganz Deutschlands anzurichten begonnen hat – nämlich das
Phänomen eines uralten
Fluchtinstinkts
just aufs neue zu mobilisieren.
Was heißt das?
Mit seiner Anschuldigung gegen
Michel Friedman, der Stellvertretende Vorsitzende des Zentralrats der
Juden fördere durch seine "gehässige Art" über die Medien den hiesigen
Antisemitismus, hat der Partei- und Fraktionsvorsitzende der NRW-FDP
Möllemann das Schlimmste vollbracht, was Juden angetan werden kann:
Nämlich für Judenfeindschaft Juden verantwortlich zu machen, sie also
als eigentliche Verursacher des Antisemitismus zu stigmatisieren! Über
diese Anschuldigung, mit ihren klerikal-antijudaistischen Wurzeln der
"Gottesmörder", sind Juden über ein Jahrtausend christlicher Geschichte
lebendig verbrannt, gevierteilt, vertrieben und ghettoisiert worden. Die
These, der Jude sei an allem
schuld, hat im Verlauf einer langen und schließlich in die
Apokalypse des Holocaust mündenden Verfolgungsperiode das entwickelt,
was der "Fluchtinstinkt" genannt worden ist, ein tiefes
Notwehrbedürfnis: Weg von der Gefahr für Leib und Leben, weg vom Ort der
Bedrohung und der Feindschaft, auch wenn einem dort Heimat geworden ist.
Dieser vielen jüdischen Menschen,
darunter auch mir, auf Grund geschichtlicher Erfahrungen sozusagen
genetisch innewohnende Fluchtinstinkt, ist durch so manches Ereignis
seit Gründung der Bundesrepublik auch zuvor schon oft provoziert worden.
Selten aber so massiv, wie gerade jetzt wieder durch die mentalen
Torturen, denen sich ein großer Teil der jüdischen Gemeinschaft
Deutschlands akut durch die unsäglichen Eskapaden des Lobbyisten Jürgen
Möllemann ausgesetzt sieht. An Ihrer Stelle, sehr geehrter Herr
Westerwelle, würde ich die verstörten Überlegungen von jüdischen
Menschen, die Deutschland schon einmal verlassen mußten, aber auch die
von Nachgeborenen, ob es "nun
wieder so weit sei, die Koffer zu packen", nicht auf die leichte
Schulter nehmen.
Von der Entscheidung Ihrer Partei
hängt mehr ab, als die Lösung eines lokalen, regionalen oder
parteilichen Personalproblems. Es hängt davon auch ab, wie sicher oder
unsicher sich im Deutschland zu Beginn des 21. Jahrhunderts Juden
wirklich fühlen können.
Keine Mißverständnisse, diesmal
heißt es nicht: Sein oder
Nichtsein. Diesmal heißt es für viele:
Bleiben oder Gehen? Ich hätte nie gedacht, daß diese Frage, nach so
langem Ausharren, nun dabei ist, sich auch mir zu stellen.
Mit freundlichen Grüßen
Ralph Giordano"
hagalil.com / 21-05-2002 |