Neuer Mythos
Neutralität
Israels
Premierminister Scharon kommt nach Berlin. Neuerdings fordern auch
Linke, im Nahostkonflikt keine Stellung zu beziehen. Das geht auf Kosten
der Menschenrechte
"Die Wahrheit
ist, dass unsere Herrschaft über Judäa, Samaria und Gaza auf Gewalt
beruht." Abba Eban, früherer Außenminister Israels, im Januar 1980 in
der Zeitschrift New Outlook
Von Wolfgang Gast
Ein Premierminister auf Reisen
bekommt in der Regel nicht viel Papier zu sehen. Das gilt auch für den
israelischen Regierungschef Ariel Scharon, wenn er an diesem Donnerstag
in Berlin zu einer Stippvisite eintrifft. Er wird mit dem Kanzler und
dessen Außenminister über die verfahrene Lage in Nahost diskutieren.
Dabei wäre Scharon die Lektüre einer Erklärung zu gönnen, die der
"Bundesausschuss Friedensrat" zum Nahostkonflikt verabschiedet hat.
Denn Scharon fände an einigen der
17 Thesen, die dieses Gremium der Friedensbewegung aufgestellt hat,
Gefallen. Die Forderung, den Ausbau der Siedlungen in den besetzten
palästinensischen Gebieten zu stoppen, dürfte dem Staatsgast zwar
aufstoßen. Aber nur ganz kurz. Schließlich wird mit dem Papier vom 8.
Juni Enthaltsamkeit gefordert: "Die Bundesregierung und die Europäische
Union können diesen Prozess am besten dadurch unterstützen, dass sie
sich in diesem Konflikt politisch neutral verhalten und sich für die
ökonomische Entwicklung und soziale Wohlfahrt in der Region engagieren."
Weiter schreiben die Friedensfreunde: "Jegliche Form der Vorverurteilung
einer der beiden Seiten lehnen wir ab, jede Form von Antisemitismus und
Antiarabismus bekämpfen wir." Und alle Versuche von außen, den Konflikt
zu instrumentalisieren, verwerfen sie als unzulässige Einmischung.
Liest sich löblich, ist es aber
nicht. Mit den Aussagen wird suggeriert, die Auseinandersetzung zwischen
Israelis und Palästinenser verlaufe auf gemeinsamer "Augenhöhe", als
seien beide Konfliktparteien gleichberechtigt. Ein Bild, das sich in der
öffentlichen Wahrnehmung und den politischen Diskussionen festgesetzt
hat: Israelis und Palästinenser werden als beinahe ebenbürtige Partner
dargestellt. Die blutigen Auseinandersetzungen mit Uniformierten auf
beiden Seiten geraten zur Konfrontation zweier souveräner Armeen.
Dennoch stimmt dieses Bild nicht.
Palästina ist ökonomisch nahezu vollständig von Israel abhängig, und die
überwiegende Mehrheit der Palästinenser ist seit der Unterzeichnung der
Friedensverträge von Oslo weitaus schlechter gestellt als zuvor. Daran
sind perfiderweise die Bestimmungen über die Autonomiegebiete schuld.
Denn seit die Al-Aksa-Intifada begonnen hat, werden auch die
unterschiedlichen Sicherheitszonen in den besetzten Gebieten
abgeriegelt. Das be- oder verhindert innerhalb des ganzen
Westjordanlandes den Weg der Menschen zu ihrer Arbeit und den regionalen
Warenverkehr. Damit ist die palästinensische Wirtschaft praktisch zum
Erliegen gekommen. Ohnehin haben die Einreiseverbote in das israelische
Kernland weit über 100.000 Palästinenser ihre dortigen Arbeitplätze
gekostet. Erinnert sei auch daran, dass Israel seinen stufenweisen
Rückzug aus den besetzten Gebieten verschleppt hat, und zwar nicht nur
unter dem als Scharfmacher berüchtigten Premier Benjamin Netanjahu,
sondern auch unter dessen als "gemäßigt" geltendem Nachfolger Ehud
Barak. Die Terroranschläge in Israel boten den beiden Politikern dazu
willkommene Anlässe. Und die Vereinbarung, den Siedlungsbau zu stoppen,
setzte die israelische Regierung nicht nur nicht um, sondern verkehrte
sie in ihr Gegenteil: eine Siedlungsoffensive. Eine Politik der Härte,
die bei den Bewohnern der betroffenen Ortschaften Verbitterung, Wut und
Gewalt hervorruft. Der Geschichtsprofessor Moshe Zuckermann aus Tel Aviv
schrieb dazu: "Im Verhältnis zu Palästina präsentiert sich Israel als
ein Land brutaler Repression und Unterdrückung - wenn nicht in den
letzten 50 Jahren, so doch zumindest in den letzten 33 Jahren." Mit
anderen Worten: seit der Besetzung des Westjordanlandes im Sommer 1968.
Und diese Okkupation ist heute noch der Kern des Konfliktes.
Bei einer solchen Ausgangslage
verträgt sich der Aufruf aus Frankfurt am Main, im Konflikt neutral zu
bleiben, kein bisschen mit dem Anspruch an eine Außenpolitik, sich an
den Menschenrechten zu orientieren. Soll man schweigen, wenn Israels
Militär einfach Mitglieder von Jassir Arafats Bewegung Fatah ermordet,
weil es in ihnen die Hintermänner von Anschlägen gegen Israelis
vermutet? Darf man neutral bleiben, wenn die Bevölkerung im
Gaza-Streifen und Westjordanland nach Anschlägen islamistischer Gruppen
in Kollektivhaftung genommen wird? Wenn nach vereinzelten Schusswechseln
als Vergeltung Olivenplantagen und Wohnanlagen eingerissen werden? In
der arabischen Welt treibt zwar die antiisraelische und antisemitische
Rhetorik neue Blüten. Und bei den Palästinensern überlagert ein
abstoßender Märtyrerkult die spärlichen Aufrufe zu einem Gewaltverzicht.
Der Terror, den palästinensische Gruppen gegen Israelis verüben, ist
nicht zu beschönigen oder als "Befreiungskampf" zu glorifizieren. Und
trotzdem: Es ist der hochgerüstete israelische Staat, der Panzer,
Hubschrauber und Kampfflugzeuge gegen palästinensische Ziele einsetzt,
selbstgerecht und, was die militärischen Operationen angeht, jenseits
allen Friedenswillens.
Mehr Realitätssinn legen da schon
die führenden deutschen Friedensforschungsinstitute an den Tag. In ihrem
jüngst vorgelegten Friedensgutachten 2001 forderten sie wirtschaftliche
Sanktionen gegen Israel. Zwar könne eine Friedensbereitschaft von außen
nicht erzwungen werden. Da Israel aber rund 40 Prozent seines
Außenhandels mit der Europäischen Union abwickle, sei es nicht immun
gegen wirtschaftlichen Druck. "Die historische Schuld, die das deutsche
Volk sich gegenüber den Juden aufgeladen hat, macht Sanktionen gegenüber
Israel zu einem heiklen Thema. Aber letztlich gründet auch das Unrecht,
das den Palästinensern widerfährt, im Zivilisationsbruch von Auschwitz",
notieren die Autoren. Druck auf Israel auszuüben, damit es wieder vom
Kriegs- auf den Friedenskurs umschwenkt, dürfe deshalb kein Tabu sein.
Ein Ende der israelischen Landnahne in den palästinensischen Gebieten
"würde ein zentrales Hindernis für die Zivilisierung der
Konfliktaustragung beseitigen". Ein Vorschlag der Friedensforscher:
Solange Israel seine Siedlungsaktivitäten fortsetzt, sollten die
Handelsvorteile gestrichen werden, die Israel aus seinem
Assoziationsabkommen mit der EU erhält.
Doch von solchen Maßnahmen dürfte
beim Treffen der Bundesregierung mit dem Staatsgast aus Jerusalem keine
Rede sein. Die Berliner Regierung verschanzt sich hinter dem Argument,
eine Verurteilung nutze nichts, man müsse mit beiden Seiten im Gespräch
bleiben. Was aber - und gegenwärtig scheint einiges dafür zu sprechen -,
wenn es am Ende zwischen Palästinensern und Israelis nichts mehr zu
besprechen gibt? Dann fordert die Neutralität einen hohen Preis - für
alle Beteiligten. Selbst für die neutral gebliebenen Friedensfreunde.
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05-07-2001
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