Von Rabbiner Walter Rothschild.
Am 27. Januar 2003 wurde zwischen der Regierung der Bundesrepublik
Deutschland und dem Zentralrat der Juden in Deutschland ein
Staatsvertrag unterschrieben. Der Vertrag kam für viele eher
überraschend. Erst wenige Wochen vor der Unterzeichnung wurde in der
Öffentlichkeit etwas darüber bekannt.
Die Medien zeigten großes Interesse daran, ein Interesse, das
anscheinend nicht immer ganz harmlos war. Als ein Rabbiner, der in
Berlin und anderen Städten tätig ist, wurde ich von vielen Journalisten
befragt... Alle waren sehr daran interessiert, was vor sich ging. Als
ein "Außenseiter" und somit als ein Nicht-Mitglied des attraktiven,
privilegierten Kreises der einflussreichen Politiker, die diese Dinge
entscheiden, hatte ich nur wenige Informationen zu bieten.
Die Information, die von Anfang an durchgesickert war, lautete, dass
der Jüdischen Gemeinde in Deutschland eine Summe von 3 Millionen Euro
garantiert werden würde. Das heißt, es würde nicht mehr länger eine
Sache des Bettelns und jährlicher Verhandlungen sein, sondern diese
Summe würde ein fester Bestandteil des jährlichen staatlichen Budgets
sein. Es hieß außerdem, dass dieser Vertrag eine Art der
"Normalisierung" werden würde. "Normalisierung" insofern als auch die
beiden großen Kirchen – Katholiken und Protestanten - solche staatlichen
Verträge unterzeichnet haben (und eine ähnliche Anerkennung auch dem
Judentum, als einer in Deutschland vertretenen Religion, zuerkannt
wurde)...
Es ist klar, dass gewisse Dinge eher auf nationaler als auf lokaler
oder regionaler Ebene organisiert und finanziert werden müssen, z. B.
die Ausbildung der Rabbiner, die Unterstützung nationaler rabbinischer
Organisationen, die Führung eines Archivs, die Verwaltung, die
Ausbildung jüdischer Kapläne, Verhandlungen auf nationaler Ebene über
Themen wie Immigration oder Beschäftigungsrechte usw. Im Prinzip macht
es also eine Menge Sinn, dass eine relativ kleine Summe Geld (ich gebe
zu, für eine Privatperson wäre es eine sehr große Summe!) für solche
Angelegenheiten zugeteilt wird.
Wie bei allen Dingen, so gibt es auch hier zwei Seiten der Medaille
bezüglich der deutschen (ursprünglich preußischen) Vorgehensweise
hinsichtlich der Finanzierung religiöser Organisationen. Die eine Seite
ist, dass es normalerweise eine Garantie für eine kontinuierliche
Finanzierung gibt. Kirchen müssen keine alten Zeitungen oder
Getränkedosen sammeln, sie müssen auch keine Flohmärkte veranstalten, um
ihre regulären Aktivitäten oder die Reparatur eines Daches zu bezahlen.
Die andere Seite ist, dass diese Finanzierung zentralisiert ist. Somit
hat jeder, der diese Bereitstellung von Geldmitteln kontrolliert, viel
Macht. Ressourcen kommen von oben, nicht von unten. Und wenn der Staat
selbst beginnt, dem Konkurs ins Gesicht zu blicken --- es ist nicht gut,
Teil einer "Abhängigkeitskultur" zu sein.
Es war klar, dass eine Entscheidung getroffen wurde, um in gewissem
Grad "nett zu den Juden" zu sein. Zum momentanen Zeitpunkt habe ich
keine Information darüber, wer welche Details ausgearbeitet hat. Nicht
einmal darüber, wer den ganzen Prozess initiiert hat und wie lange die
Verhandlungen darüber gedauert haben. Es gibt Gerüchte über einen
Wunsch, Schadensersatz für die "Möllemann-Affäre" zu leisten, weil
während des letzten Wahlkampfes durch diese Affäre antisemitische
Tendenzen auf besorgniserregende Weise in der Öffentlichkeit
manifestiert wurden. Doch soviel ich weiß, wurde über diesen
Staatsvertrag niemals gesagt, er sei Teil einer Wahlstrategie der
Parteien in der gegenwärtigen Regierungskoalition.
Trotzdem wurde es in den Nachrichten erwähnt. Genau genommen gab es
darüber eher ein zu viel in den Nachrichten... 3 Millionen Euro stellen
im derzeitigen nationalen Budget auf jeden Fall eine nur geringe
Änderung dar. Also, warum ist dies solch eine wichtige Nachricht?
Wollte jemand versuchen anzudeuten, dass das ganze Land bankrott geht,
dass Firmen geschlossen werden müssen, dass die Steuereinnahmen
zurückgehen, dass die Arbeitslosigkeit steigt – und dass die Juden
dennoch 3 Millionen Euro bekommen? Vielleicht bin ich paranoid, doch ich
konnte keinen logischen, rationalen Grund dafür finden, warum diese
Nachricht... für den Durchschnittshörer wirklich von Bedeutung sein
sollte...
Es gab mehrere strittige Punkte während der Periode, die zur
Unterzeichnung des Vertrages führte. Einer war der Zeitpunkt. Der 27.
Januar ist der Jahrestag, an dem man sich an die Befreiung des
Konzentrationslagers Auschwitz durch die Rote Armee am 27. Januar 1945
erinnert... War dies wirklich der geeignetste Tag, um eine öffentliche
Erklärung der Großzügigkeit und des Vertrauens zwischen beiden Parteien
abzugeben? Es gab viele Stimmen – einschließlich meiner -, die meinten,
die ganze Sache sei eher geschmacklos.
Es gibt eine Zeit, an die Vergangenheit zu erinnern, und es gibt eine
Zeit, die Zukunft aufzubauen, und eine Pause von 24 Stunden zwischen
beiden hätte niemandem geschadet. (Aus diesem Grund ist der
Erinnerungstag für die gefallenen Soldaten in Israel einen Tag vor dem
Unabhängigkeitstag.) Doch es ist anzunehmen, dass dieses Datum nicht
zufällig zustande kam, sondern absichtlich gewählt worden ist...
Es gibt einen weiteren bedeutenden Konflikt...: Wer verkörpert "die
jüdische Gemeinde in Deutschland"? Der Zentralrat behauptet, ALLE Juden
in Deutschland zu vertreten, dies ist sein offizieller Daseinsgrund und
deshalb wurde er als Partner für diesen Vertrag ausgewählt... Sein Name
"Zentralrat der Juden in Deutschland"... suggeriert schon, dass er nicht
"deutsche Juden", sondern "jeden Juden im Land" repräsentiert. Doch tut
er das wirklich? Besonders in den letzten zwölf Jahren – seit der
Wiedervereinigung, die dem Kollaps des kommunistischen Osteuropa und der
Sowjetunion folgte - gibt es einen großen Strom jüdischer "Flüchtlinge"
aus diesen Ländern. Nicht alle von ihnen haben die notwendigen Papiere,
um ihre jüdische Identität gemäß dem traditionellen Gesetz zu
beweisen..., auf der anderen Seite gibt es auch viele jüdische
Einwanderer aus westlichen Ländern, die eine andere Form von jüdischem
Gemeindeleben gewöhnt sind als es in Deutschland herrscht...
Als Konsequenz scheiden viele Juden einfach aus den Gemeinden aus und
verlieren das Interesse am jüdischen Glauben... Andere gründen
alternative Gemeinden - außerhalb der Struktur des Zentralrats -, in
denen liberalere Gottesdienste gehalten werden. Diese Gemeinden müssen
jedoch aus eigener Tasche finanziert werden...
Betrachten wir nun den Text des Vertrages. Repräsentiert er einen
Neuanfang? Markiert er den Beginn einer neuen Ära der "Normalisierung",
die die jüdische Gemeinde in das gleiche legale Verhältnis zum Staat
bringt wie die Kirchen? Stellt er klar, welche Verantwortung beide
Partner haben?
Leider nein.
Das erste Problem findet sich in der "Präambel", die wie folgt lautet:
"Im Bewusstsein der besonderen geschichtlichen Verantwortung des
deutschen Volkes für das jüdische Leben in Deutschland, angesichts des
unermesslichen Leides, das die jüdische Bevölkerung in den Jahren 1933
bis 1945 erdulden musste, geleitet von dem Wunsch, den Wiederaufbau
jüdischen Lebens in Deutschland zu fördern und das freundschaftliche
Verhältnis zu der jüdischen Glaubensgemeinschaft zu verfestigen und zu
vertiefen, schließt die Bundesrepublik Deutschland mit dem Zentralrat
der Juden in Deutschland folgenden Vertrag:"
Mehrere der hier benutzten Ausdrücke kann man zum Thema nehmen: Wer
trägt beispielsweise gegenwärtig die moralische Verantwortung für die
wirklich schrecklichen Ereignisse in den Jahren 1933 bis 1945? Ist es
"das deutsche Volk", "der deutsche Staat", "die damalige Deutsche
Reichsregierung", eine spezifische nationalsozialistische Partei, die
Kirchen, oder auch alle anderen europäischen Regierungen, die auf
unterschiedlicher Ebene kooperierten? Die Länder, die den Flüchtlingen
ihre Grenzen verschlossen oder sie über den Atlantik zurückschickten,
die sie in Lagern unterbrachten, die ihnen Zuflucht verwehrten als es
den Menschen noch möglich war, sich selbst oder ihre Kinder zu
retten?... Viele weitere Angehörige des deutschen Volkes hatten zu
leiden: Sozialdemokraten, Kommunisten, bekennende Christen,
Wehrpflichtige, zivile Opfer des Totalen Krieges, den Goebbels erklärt
hatte... "Moralische Äquivalenz" ist ein gefährliches Spiel und sollte
nicht aus Spaß gespielt werden. Doch wenn dieses Dokument der deutschen
Regierung vom "deutschen Volk" spricht, würde ich gern wissen, wer damit
gemeint ist. Denn schließlich wird das Geld aus Steuereinnahmen bezahlt,
und manche dieser Steuern werden von Moslems, von neuen Immigranten und
– zu einem ganz geringen Teil - auch von mir bezahlt. Sind wir alle in
diese Nationale Schuldbewältigung eingeschlossen?
Plötzlich wird klar, dass das alte Lied gesungen wird. "Die Juden sind
die Opfer der Vergangenheit – also lasst uns ihnen nun ein bisschen Geld
geben."...
Die Zahlungen werden an die Vergangenheit geknüpft, anstatt an die
Gegenwart oder an die Zukunft. Man versucht, eine Verbindung zwischen
vergangenem Leiden und gegenwärtiger Bezahlung zu schaffen. Die Präambel
hätte auch wie folgt lauten können: "Angesichts des Wachstums der
jüdischen Bevölkerung in der BRD denken wir, dass die Zeit gekommen ist,
die Beziehung zwischen der BRD und den jüdischen Gemeinden zu regulieren
und zu formalisieren und sie auf die gleiche Ebene mit den Kirchen zu
stellen." Schluss... Der schreckliche historische Hintergrund muss in
solch einem Dokument nicht schwarz auf weiß erwähnt werden...
Der größte Teil der Nutznießer dieses Vertrages werden nicht deutsche
Juden oder frühere Opfer und Flüchtlinge sein, sondern Neuankömmlinge
aus der früheren Sowjetunion, die selbstverständlich in eine neue
Gesellschaft mit einer neuen Sprache integriert werden sollen und dafür
Hilfe benötigen. Für die BRD ist es legitim, manche dieser
Integrationsarbeit an die örtlichen jüdischen Gemeinden abzugeben und
für diese Arbeit zu bezahlen... Ich greife also nicht die Art des
Konzepts dieser Vereinbarung an, doch ich denke, dass die Worte schlecht
gewählt sind.
Im Endeffekt bedeuten sie: "So viel ist die Vergangenheit wert. Dies ist
Blutgeld." Dem Himmel sei Dank, dass man vereinbarte, 3 Millionen Euro
zu bezahlen und nicht 6 Millionen DM.
Bei den 100.000 Juden, die es hier gegenwärtig gibt, braucht man nicht
lange, um auszurechnen, dass auf jeden von ihnen 30 Euro kommen. Und da
das Beispiel direkt aus dem Neuen Testament und nicht aus der
Hebräischen Bibel kommt, kann man nicht anders als sich zu fragen, ob 30
Silberstücke ein angemessener Preis für einen Menschen sind ----.
Im Übrigen, was ist eigentlich eine "Glaubensgemeinschaft"? Schließt
sie nur diejenigen ein, die einen Glauben haben? Oder kann sie auch
diejenigen einschließen, die ihren Glauben verloren haben, .... oder
diejenigen, die etwas über diesen Glauben erfahren möchten? Darf man
sich hier nur auf die Finanzierung religiöser Aktivitäten beziehen oder
auch auf die Finanzierung erzieherischer, sozialer, ja sogar politischer
und natürlich administrativer Aktivitäten?...
Warum wird das Geld bezahlt? Artikel 1 verweist auf "eine
kontinuierliche und partnerschaftliche Zusammenarbeit in den Bereichen,
die die gemeinsamen Interessen berühren und in der Zuständigkeit der
Bundesregierung liegen." Was mögen diese "gemeinsame Interessen"
sein?...
Vieles in dem Vertrag umfasst gewöhnliche technische Angelegenheiten,
z.B. an wen das Geld gezahlt wird, wann es bezahlt wird (in der Regel
vierteljährlich), wie lange es bezahlt wird (für fünf Jahre). Von
Bedeutung ist, dass erlaubt wird, den Vertrag erneut festzusetzen,
sollten sich die Umstände ändern. Was könnte sich ändern? Die
Möglichkeiten sind endlos. Ein neuer Zustrom aus Südamerika? Aus Israel?
Ein Wechsel in der politischen und demographischen Struktur der
Gemeinden? Die Wahl einer rechten Regierung? Niemand kann die Zukunft
genau vorhersagen. Doch die Tür wurde für weitere Modifikationen, falls
nötig, offen gehalten...
Der Zentralrat steht nun vor einer großen Herausforderung. Er muss sich
des Geldregens wert erweisen. Es muss nicht nur jährlich nachgewiesen
werden, wie das Geld verwendet wurde..., sondern der Zentralrat muss
sich das Vertrauen derjenigen Juden verdienen, die sich bisher
ausgeschlossen gefühlt haben. Er muss zeigen, dass er seine Ressourcen
weise und fair verwenden kann... In vielen Fällen wird dies ein Thema
von Unterstützung und Delegation sein, indem anderen Organisationen
erlaubt wird, die aktuelle Arbeit zu tun. Denn der Zentralrat hat nicht
die Arbeitskräfte, um all dies allein zu tun, und er muss es auch nicht
allein tun. Nun muss wahre Führungsqualität gezeigt werden, und zwar
angefangen an der Spitze. Dies könnte jahrzehntelange Gewohnheiten
brechen. Wenn der deutsche Staat bereit war, mit seiner wahrgenommenen
Verantwortung an die Öffentlichkeit zu gehen, muss es der Zentralrat
auch tun. Transparenz ist gefordert...
Ich fordere alle Beteiligten auf für die Zukunft zu arbeiten, damit den
"gemeinsamen Interessen" der Republik und eines Teils ihrer Bürger
wirklich nachgegangen werden kann. Und damit eine bessere,
rechtschaffenere, informiertere und tolerantere Gesellschaft aus den
Erinnerungen und aus der Asche der Vergangenheit entstehen kann.