Ein Gott und viele
Wege:
Die Chancen des
neuen Staatsvertrags
Von Jan Mühlstein
Als ein "historisches
Ereignis" feierte Paul Spiegel, Präsident des Zentralrats der Juden
in Deutschland, die Ankündigung eines Staatsvertrags zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und seiner Organisation. Damit erkenne
die Bundesregierung an, dass es in Deutschland wieder ein aktives
jüdisches Leben gebe. Das sichtbare Zeichen der, so Spiegel in der
SZ vom 16. November, "Renaissance des Judentums in Deutschland" sei
der Anstieg der Mitgliederzahl der jüdischen Gemeinden auf etwa
100000 durch Zuwanderung aus den Ländern der früheren Sowjetunion.
Seit den neunziger Jahren hat sich aber die jüdische Gemeinschaft in
Deutschland nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ
verändert. Die neu gegründeten unabhängigen liberalen jüdischen
Gemeinden lassen sie jünger, egalitärer, spannender und religiös
vielfältiger erscheinen.
Die liberal-religiösen Jüdinnen und Juden haben
sich zusammengefunden, um ein Gemeindeleben im Kontext der jüdischen
Erneuerungsbewegung zu führen, die Anfang des 19. Jahrhunderts in
Deutschland begründet und bald die bestimmende Richtung des
deutschen Judentums wurde. Der Erfolg des liberalen Judentums damals
und seine Attraktivität heute sind darauf zurückzuführen, dass es
die religiöse Mündigkeit des einzelnen in den Vordergrund stellt.
Während das orthodoxe Judentum von einer wörtlichen Offenbarung der
Lehre am Sinai ausgeht und seinen Halt in den im 16. Jahrhundert
formulierten Kodizes findet, sehen die Liberalen in den Texten der
Bibel und des Talmuds von Menschen übermittelte Botschaften einer
fortschreitenden (progressiven) göttlichen Offenbarung, die nicht
abgeschlossen ist. Daher muss jeder für sich aus der Tradition und
aus dem Wissen der heutigen Zeit sein Verhältnis zu Gott und den
religiösen Geboten bestimmen.
Teilhabe oder Ausgrenzung
Die Synagogen und Institutionen des liberalen
Judentums wurden nach 1933 zerstört, die Menschen, die sie getragen
haben, wurden vertrieben, verschleppt und ermordet. Diejenigen, die
ins Exil entkommen konnten, nahmen die Ideen des liberalen Judentums
mit in die neue Heimat. Vor allem in den USA trugen sie dazu bei,
dass das nicht-orthodoxe Judentum zu der dominierenden Richtung
wurde. Die 1926 von Rabbiner Leo Baeck ins Leben gerufene "World
Union for Progressive Judaism" umfasst derzeit als weltweit größte
jüdische religiöse Organisation Gemeinden mit 1,6 Millionen
Mitgliedern in 46 Ländern.
Dass die World Union heute auch in Deutschland
aktive Mitgliedsgemeinden hat, war angesichts der
Nachkriegsgeschichte nicht zu erwarten. Die überwiegend aus
Osteuropa stammenden Überlebenden der Konzentrationslager und
"displaced persons", die nach 1945 in Deutschland jüdische Gemeinden
gegründet haben, waren religiös fast ausschließlich der orthodoxen
Tradition verpflichtet. So wurde zwar die Organisationsform der
Einheitsgemeinde aus der Weimarer Zeit übernommen, für den früher
selbstverständlichen religiösen Pluralismus blieb aber kein Platz.
Als sich Mitte der neunziger Jahre an mehreren
Orten in Deutschland Familien zusammenfanden, um liberale jüdische
Gottesdienste zu feiern, haben sich die etablierten Gemeinden den
neuen Ideen nicht geöffnet. Stein des Anstoßes ist vor allem die den
orthodoxen Gebräuchen widersprechende volle religiöse
Gleichberechtigung von Frauen und Männern. Dies führte zur Gründung
von unabhängigen liberalen jüdischen Gemeinden, worauf die
"Einheitsgemeinden" mit Ausgrenzung reagierten: Räume und
finanzielle Mittel wurden den Newcomern verweigert, ihre
Legitimation als jüdische Gemeinden wurde bestritten. Der Zentralrat
bekannte sich zwar dazu, dass "unter dem Dach der Einheitsgemeinde
alle jüdische Richtungen ihren Platz finden" sollten, unternahm aber
nichts gegen die Diskriminierung der neuen Gemeinden. Die von ihm
getragene Zentralwohlfahrtsstelle betreibt Ausgrenzung, indem sie
Mitgliedern der liberalen Gemeinden die Teilnahme an
Integrationsprogrammen für Kontingentflüchtlinge verweigert. Die
Liberalen richteten aus eigener Kraft in gemieteten Räumen Synagogen
ein, wo gut besuchte Gottesdienste stattfinden, sie organisieren
Religionskurse für Erwachsene und Kinder, sie führen ein aktives
religiöses und kulturelles Gemeindeleben.
Dem Zusammenschluss der liberalen jüdischen
Gemeinden, der Union progressiver Juden in Deutschland, gehören
zwölf Gemeinden an, außerdem das Abraham Geiger Kolleg in Potsdam,
wo seit 2001 Rabbinerinnen und Rabbiner ausgebildet werden. Die
wachsenden liberalen Gemeinden leisten einen überproportionalen
Beitrag zur Integration der russischsprachigen jüdischen Zuwanderer
sowie zur Verankerung des Judentums in die deutsche Gesellschaft.
Bei einer Vielzahl von interreligiösen Veranstaltungen kommen die
jüdischen Gesprächspartner aus den liberalen Gemeinden.
Diese Leistungen werden auch von den
Repräsentanten der Gemeinden, der Länder und des Bundes anerkannt.
Trotzdem berufen sich Regierungsstellen darauf, in "innerjüdische"
Angelegenheiten nicht eingreifen zu können, wenn es um den Wunsch
der liberalen Gemeinden geht, an der staatlichen Förderung beteiligt
zu werden. Solche vermeintliche Neutralität des Staates erweist sich
allerdings als unzulässige Parteinahme zugunsten der
"Einheitsgemeinden", ihrer Landesverbände und des Zentralrates.
Kürzlich hat das Bundesverwaltungsgericht in Berlin auf Betreiben
der liberalen Synagogengemeinde zu Halle entschieden, dass für die
staatliche Förderung nicht allein die Entscheidungen des Zentralrats
maßgebend sind. Vielmehr kommt es im pluralistischen Judentum darauf
an, ob eine jüdische Gemeinde von einer der Richtungen des Judentums
anerkannt wird. Dieses Urteil könnte den liberalen Gemeinden auf der
Länderebene eine Gleichbehandlung mit den "Einheitsgemeinden"
bringen.
Bei den Verhandlungen über den Staatsvertrag auf
Bundesebene wird der Zentralrat nur dann als die Vertretung aller
Juden in Deutschland auftreten können, wenn er in Bezug auf die
Integration der Union progressiver Juden und seiner
Mitgliedsgemeinden den Worten Taten folgen lässt. Der Zentralrat
muss die Öffnung der Einheitsgemeinden erreichen oder die liberalen
Gemeinden als Mitglieder akzeptieren. Der liberalen jüdischen
Bewegung in Deutschland muss für die Gemeindearbeit der Zugang zu
den nötigen Ressourcen – Räume und Geldmittel für Rabbiner,
Kantoren, Religionslehrer – garantiert werden. Auch die Union
progressiver Juden als die zentrale Vertretung der liberalen
Gemeinden muss ihren Anteil an der staatlichen Förderung erhalten
und deshalb an den Verhandlungen über die Ausgestaltung des
Staatsvertrages beteiligt werden.
Wenn religiöse Pluralität innerhalb der jüdischen
Gemeinschaft gesichert ist, wird sich auch das liberale Judentum für
eine einheitliche politische Vertretung der jüdischen Interessen
engagieren. In vielen Fragen gibt es unter den Juden in Deutschland
ohnehin keine Differenzen: Terrordrohungen richten sich gegen alle
jüdische Einrichtungen, der wachsende Antisemitismus macht sich auch
gegenüber liberalen jüdischen Gemeinden in aggressiven
Telefonanrufen, Briefen und Mails zunehmend bemerkbar.
Der Autor ist Vorsitzender der Union progressiver
Juden in Deutschland.
hagalil.com
08-12-02 |