Vom Trauma zum
Spleen
Die deutsche
Diskussion um den Nahostkonflikt entwickelt sich immer mehr zum
Selbstverständnisdiskurs: Niemand ist gewillt, die Realitäten zur
Kenntnis zu nehmen
"Life is xerox: You re only
a copy" (Spontiparole)
Von Micha Brumlik
Der antisemitisch aufgeladene
Konflikt zwischen zwei Gruppen nordafrikanischer Einwanderer, zwischen
Juden und Muslimen, ist in Frankreich bitterer Ernst. Zeitgleich wird
die Auseinandersetzung in Deutschland zur Wahlkampffarce. Palästinenser
und Mitglieder jüdischer Gemeinden demonstrieren ihre Solidarität mit
Arafat oder Scharon. Dabei werden beiderseits Vernichtungsfantasien
wach: Wird hier ein zweiter Holocaust befürchtet, so staffiert dort ein
Vater seine kleine Tochter mit Attrappen von Handgranaten aus.
Während der mörderische
Fanatismus vieler Palästinenser keinem Zweifel unterliegt, ist umgekehrt
die jüdische Angst vor einem weiteren Holocaust angesichts der
ungeheuren militärischen Überlegenheit Israels objektiv unbegründet. Bei
alledem hat sich die Sicherheitslage der jüdischen Gemeinden in der
Diaspora nicht verbessert - die Innenminister der EU haben auf
antisemitische Schmierereien, das Anschwellen von Hatemails und tätliche
Angriffe soeben mit einem neuen Programm reagiert. So dürfte das um sich
greifende Gefühl, einer nicht mehr beherrschbaren Welle des
Antisemitismus ausgesetzt zu sein, der realen Stimmungslage in der
deutschen Gesellschaft wohl nicht entsprechen. In bescheidenerem Ausmaß
als in Frankreich gilt vielmehr auch hier, dass ethnische
Identifikationen über bestehende Verwandtschaftsbande hinaus vor allem
die Situation in der Einwanderungsgesellschaft reflektieren.
Das belegt etwa die Tatsache,
dass an der Frankfurter Solidaritätskundgebung des Zentralrats der Juden
neben fundamentalistischen Christen vor allem russische Einwanderer
teilnahmen. Russische Immigranten machen mehr als die Hälfte der hier
lebenden Juden aus und waren in der Sowjetunion mehr als sechzig Jahre
lang atheistischer Judenfeindschaft ausgesetzt. Heute finden sie ihr
Selbstverständnis oft genug dort, wo Identität scheinbar umstandslos zu
haben ist: in nationaler Identifikation.
Juden, Palästinensern und auf den
Nahostkonflikt reagierenden deutschen Politikern entgeht in ihrem Eifer,
dass ihre Aktivitäten mit sich und der Lage in Deutschland alles, mit
den Macht- und Moralverhältnissen in Israel/Palästina jedoch nichts zu
tun haben. Nachdem in Düsseldorf ein grüner Landtagsabgeordneter
syrischer Herkunft zur FDP übergetreten ist, erlebt die Bundesrepublik
erstmals, dass der Nahostkonflikt den Wahlkampf- wenn auch nur zwischen
den beiden kleinen liberalen Parteien - mitbestimmt: Kritische
Freundschaft mit oder deutliche Kritik an Israel fungieren als wohlfeile
Profilierungsprojekte.
Als Novum in mehr als fünfzig
Jahren Bundesrepublik ist zu verzeichnen, dass die Repräsentanz der
jüdischen Minderheit in den Wahlkampf eingreift. Die Politik Paul
Spiegels, Michel Friedmans und der ihnen folgenden Gemeindevorstände
bewegt sich seit einiger Zeit von dem israelischen Botschafter
zugedachten Gesten weg, hin zu einer - angesichts der wenigen tausend
jüdischen Wähler - absurden Intervention: Soeben hat die offiziöse
Jüdische Allgemeine
ihre Leser aufgefordert, der FDP keine Stimme zu geben, um einem
eventuellen Außenminister Westerwelle seine Auftritte in den USA zu
vergällen.
Der Eindruck des Unwirklichen
verstärkt sich angesichts der im Bundestag geführten Debatte um
UN-Truppen an der blutigen Grenze zwischen Juden und Palästinensern.
Diese Diskussion wirkte zwar nach außen wie eine nüchterne
außenpolitische Aussprache, erwies sich jedoch schon deshalb als
deutscher Selbstverständnisdiskurs, weil man einfach nicht gewillt war,
die Realitäten in Nahost zur Kenntnis zu nehmen. So ist bezüglich der
von Schröder und Fischer grundsätzlich befürworteten deutschen
Beteiligung an einer "Sicherheitskomponente" daran zu erinnern, dass
Israel einer Stationierung fremder Truppen niemals zustimmen wird.
Die jüdisch-israelische
Bevölkerung erinnert sich noch heute traumatisch an den Frühsommer 1967,
als die UN auf Geheiß des ägyptischen Diktators Nasser ihre
militärischen Puffer von einem Tag auf den anderen zurückzog. Zudem:
Auch nur zu denken, dass eine israelische Regierung, die sich nicht
einmal dem Druck der US-Administration beugt, Pressionen der EU
nachgeben würde, zeugt von Realitätsverlust. Sogar der vom
Verteidigungsministerium verfügte Lieferstopp von Panzermotoren an
Israel stellt nicht mehr als eine symbolische Geste fürs heimische
Publikum dar. Konsequent befolgt, würde er nur zur Schwächung der
Bundeswehr führen, da die Truppe im Gegenzug auf israelische
Feinelektronik angewiesen ist.
Schließlich: Halbwüchsige
palästinensische Mädchen, die sich und Unschuldige unter Grauen und
Schmerz in den Tod reißen, lassen sich mit Panzern ohnehin nicht
bekämpfen. Die antideutsche Linke wartet ob der nicht mehr mit
saudischem Lobbygeld erklärbaren befreiungsnationalistischen Erregung
etwa Jürgen Möllemanns und Norbert Blüms mit dem schweren Geschütz der
Psychoanalyse auf. Sie entdeckt - gewiss zu Recht - unbewusste Wünsche
nach Entlastung der nationalsozialistischen Täter und nach
Wiedergutwerdung der diffamierten Nation.
Eine solche Diagnose - sollte sie
insgesamt gelten - würde indes Persönlichkeiten unterstellen, die einen
unbewussten Konflikt austragen und von der Last der Geschichte
mindestens angegangen, wenn nicht gar zerrissen werden: Formen des
unglücklichen Bewusstseins immerhin. Die Tausendsassas der rot-grünen
Außenpolitik - der Kanzler allen voran - haben aber mit alledem nichts
mehr zu tun: Was jetzt betrachtet werden kann, ist das mit sich und der
Welt zufriedene, von aller Geschichte unbeschwerte, glückliche
Bewusstsein im Zustand seiner weltpolitischen "Verantwortungsübernahme",
sprich: imperialen Erhebung.
Die Gewissenskonflikte einer
ehemaligen Linken, ob und unter welchen Bedingungen man Israel
kritisieren dürfe, erweisen sich endlich nur noch als Recycling
vergangener Debatten. In den Zwanzigerjahren erhob die KPD bekanntlich
die bejahende Haltung zur Sowjetunion zum Maßstab ihres Handelns. Indem
der deutsche Außenminister heute die Haltung nicht nur zu Israel,
sondern sogar zu den USA zum Kriterium politischer Korrektheit erhebt,
huldigt er einem Konkretismus, der die Dynamik und den Universalismus
der von ihm selbst geforderten Menschenrechtskultur verkennt.
Dem im Blick auf Nahost immer
wieder von Antisemiten missbrauchten Menschenrechtsdiskurs wohnt nämlich
ein Eigensinn inne, der durch Opportunitätserwägungen nicht zu
disziplinieren ist. Alle Menschen haben das Recht, wenn nicht gar die
leise Pflicht, gegen Menschenrechtsverletzungen mindestens die Stimme zu
erheben - egal wo sie geschehen. Derlei Protest mit bewusster
Verantwortung für das singuläre Verbrechen des Holocaust zu vermitteln,
bleibt die wahrscheinlich unlösbare Aufgabe einer spezifisch deutschen
Menschenrechtskultur.
hagalil.com / 30-04-2002 |