Von Richard Chaim Schneider
Zugegeben, die Zahl der jüdischen Wähler in
Deutschland ist gering. Doch jede politische Partei ist
beflissen, Juden auf ihre Seite zu ziehen. Man macht in
Deutschland Politik mit Juden oder gegen sie, aber niemals ohne
sie. Von den rund 100000 offiziell registrierten Juden kann
allerdings gerade mal ein gutes Drittel wählen. Die Mehrheit, in
den letzten dreizehn Jahren aus den GUS-Staaten eingewandert,
besitzt die deutsche Staatsbürgerschaft noch nicht.
Eine Selbstverständlichkeit ist das jüdische
Wahlrecht nicht. Nach dem Krieg waren Juden in Westdeutschland
mehrheitlich "Heimatlose Ausländer" ohne Wahlberechtigung.
Später dann, als die Scheu "deutsche Staatsbürger" zu werden,
allmählich der pragmatischen Einsicht wich, dass ein deutscher
Pass das Leben wesentlich vereinfacht, zogen etliche der neuen
Staatsbürger es vor, die Wahlen zu ignorieren, weil sie sich
nicht zugehörig fühlten und die meisten Parteien sowieso für
antisemitisch hielten.
Die Bereitschaft zu wählen wuchs bei den
Überlebenden proportional zur Aufgabe der Illusion, man werde
Deutschland noch verlassen. Die Mehrheit, also Juden aus
Osteuropa, wählte dann die CDU, in Bayern sogar die CSU. Nur
wenige Juden, die schon vor dem Krieg Deutsche waren, wählten
die SPD, zumeist in Erinnerung an das Nein gegen das
Ermächtigungsgesetz und im Gedanken daran, dass nach 1945 die
meisten Nazis in den konservativen Parteien Zuflucht gefunden
hatten. Jene Ostjuden wählten konservativ, weil sie selbst
konservativ waren. Weil sie geordnete Verhältnisse wollten, weil
Konrad Adenauer ein Freund von Ben-Gurion und Franz-Josef Strauß
ein Freund von Shimon Peres war. Und weil die meisten der aus
Osteuropa stammenden Juden alles hassten, was mit Kommunismus
auch nur annähernd zu tun hatte.
Es versteht sich beinahe von selbst, dass die
Kinder dieser displaced persons, bereits in Deutschland
aufgewachsen, die Politik dieses Landes anders beurteilten als
ihre Eltern. Die Studentenrevolte hatte für kurze Zeit und zum
ersten Mal der zweiten Generation das Gefühl vermittelt, mit
diesen jungen Deutschen auf einer Seite zu stehen. Die Studenten
gingen auf die Barrikaden gegen das reaktionäre Klima der
Adenauer-Ära, gegen ihre Nazi-Eltern, gegen alles, was Juden
ebenfalls hassten. Natürlich stand jungen Juden die SPD näher
als die Union. Die Union, das war offensichtlich, war mit Nazis
durchsetzt, Adenauer war für sie nicht der Heilsbringer Israels,
sondern der Kanzler, der einen Globke zu seiner rechten Hand
gemacht hatte. Und: Der Sozialismus schien eine konsequente
Fortsetzung des eigenen Judentums: Da er internationalistisch
und damit universalistisch war, kam er der jüdischen
Selbstwahrnehmung recht nahe und schien die säkulare
Verlängerung jüdischen Selbstverständnisses zu sein.
In den vergangenen Jahren sollte sich bei einem
großen Teil der jüdischen Gemeinschaft das Wahlverhalten trotz
allem weiterhin nach der uralten Grundregel der Diaspora
richten: "Ist es gut oder ist es schlecht für die Juden?" Die
res publica zur eigenen Sache zu machen, das ist für deutsche
Juden noch keine Selbstverständlichkeit wie in Frankreich oder
in den USA. Was aber ist eine "typisch jüdische"
Wahlentscheidung? Was ist "gut für die Juden" am 22. September?
Die FDP – vor gerade mal drei Jahren noch die Partei, in der
Ignatz Bubis Vorstandsmitglied war, kann seit den Äußerungen
Jürgen Möllemanns nicht mehr gewählt werden. Wie wär’s also mit
den Grünen? Aber ja doch! Das ist eine Stimme für Joschka! Ein
echter Freund Israels, ein ehrlicher Makler im Nahost-Konflikt,
dem bei seinen Bemühungen doch stets die deutsche Geschichte
präsent ist. Sein entsetztes Gesicht beim Anschlag auf die
Diskothek in Tel Aviv! Und er hat auch sofort Blumen am Ort
niedergelegt! Seine Teilnahme bei irgendeiner PLO-Versammlung
vor dreißig Jahren? Was soll’s, er war doch noch ein halbes
Kind, sogar Scharon spricht inzwischen mit palästinensischen
Politikern. Joschka war immerhin der einzige Politiker, der klar
und deutlich Stellung gegen Möllemann bezogen und in seinem
FAZ-Artikel darauf hingewiesen, dass wir uns wieder im Stich
gelassen fühlen. Also, geben wir unsere Stimme den Grünen.
Den Feinden auch noch helfen?
Naja, aber, sind die anderen Grünen nicht alle
pro- palästinensisch? Und dann kommen da auch immer wieder so
anti-zionistische Sprüche mit diesem typischen antisemitischen
Grundton. Dieser Partei sollen wir unsere Stimme geben?
Vielleicht doch lieber CDU/CSU? Aber das heißt dann doch
automatisch, die FDP mitwählen? Unsere Feinde an die Macht
bringen? Diesen Mitläufer Westerwelle, der nicht den Mut hatte,
diesem Antisemiten in seiner Partei den Mund zu verbieten? Und
hat sich die Union auf die Seite ihres Parteimitglieds Friedman
gestellt, als der Möllemann ihn attackierte? Na bitte!
Andererseits, die CSU hat auch seit dem Tod von Strauß gute
Beziehungen zu Israel, und seit Stoiber Kanzler werden will,
raspelt er nur noch Süßholz, wenn’s um uns Juden geht. Ob er
auch denkt, was er sagt? Ist doch egal, er hat wenigstens
begriffen, dass man offiziell nicht antisemitisch sein darf.
Oder vielleicht doch lieber die SPD? Doch
ausgerechnet Schröder träumt plötzlich von einem "deutschen Weg"
in Sachen Irakkrieg. Ist der verrückt geworden? Aber deutsche
Soldaten zur Friedenssicherung nach Israel schicken – das
sofort. Keine Rücksicht auf die Gefühle der Überlebenden nehmen.
Die werden sich freuen, wenn in Jerusalem ein deutscher Soldat
mit der Waffe in der Hand herumläuft! Immerhin, Schröder ist
sofort nach Düsseldorf geeilt nach dem Brandanschlag auf die
Synagoge. Das hat Kohl nicht fertig gebracht, damals als die
Synagoge von Lübeck gebrannt hatte, nicht einmal als ihn der
Bürgermeister gerufen hat. Aber Schröder hat doch zu Beginn
seiner Amtszeit die deutsche Vergangenheit vergessen wollen,
wollte doch nur noch optimistisch in die Zukunft sehen. Immerhin
hat er dann all den Firmen Druck gemacht hat, die nicht
einzahlen wollten in den Fonds für Zwangsarbeiter. Und was ist
mit seiner Partei? Die sind ja auch links, die reden ja
teilweise genauso anti- israelischen Unsinn wie die Grünen, aber
viel schlimmer ist ihr Versagen auf wirtschaftlichem Gebiet.
Eine deutsche Nation, der es schlecht geht, rückt doch
bekannterweise automatisch nach Rechts. Ja, aber, soll man diese
Entwicklung auch noch beschleunigen, in dem man die SPD jetzt
nicht wählt?!
Und so grübelt und denkt es im jüdischen Wähler,
er wägt ab und kommt schließlich zum selben Urteil wie alle
Wähler: Unsere Parteien, sie sind alle unfähig. Diese Erkenntnis
wird allerdings nichts nutzen am 22. September, wenn er dann im
Wahllokal steht und irgendwo seine Kreuzchen anbringen muss.