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Kredite für die Achsenmächte
In Bern wurden die Berichte der Bergier-Kommission vorgestellt

Von Thomas Meyer

Im Juli 1933 teilt die Berliner Niederlassung des Schweizer Konzerns Ciba der "Obersten Leitung der Abteilung Volksgesundheit" der NSDAP mit, dass "das Kapital sich in rein arischen Händen" befindet. Dieses Zitat findet sich in der Studie "Schweizer Chemieunternehmen im Dritten Reich" von Lukas Straumann und Daniel Wildmann, die gestern zusammen mit sieben weiteren Arbeiten in der Berner Landesbibliothek von der "Unabhängigen Expertenkommission: Schweiz – Zweiter Weltkrieg" (UEK) vorgestellt wurde. Auf den insgesamt über 2000 Seiten finden sich zahllose solcher Details, die, so der Historiker und Angehörige der Kommission Saul Friedländer, die Kenntnis sowohl der "Komplexität" als auch der "Nuancen" des Schweizer Verhaltens während des "Dritten Reiches" erweitern.

Wenn im November siebzehn weitere Bände vorgelegt werden und im Frühjahr 2002 die Synthese der Forschungsarbeit folgt, werden schließlich über zehntausend Seiten Material vorliegen, die seit den Beschlüssen des Schweizer Bundesrates vom 13. und 19. Dezember 1996 erarbeitet wurden. Noch nie hat ein Land so viel Selbstaufklärung betrieben, sich durch ein priviligiertes Akteneinsichtsrecht bei privaten Archiven so durchsichtig zeigen wollen, wie die Schweiz. Jetzt, da die erste Tranche vorliegt, werden sich auch die Narrative der Schweizer Geschichte ändern, und eine neue Dimension der Schweizer Identität wird zu Tage treten.

Gerade die Studien von Straumann/Wildmann und von Mario König über die Firma "Interhandel", besser als I.G. Farben bekannt, brechen die Übereinkunft auf, die Schweiz habe sich seit 1939 in einer Art Abwehrkampf befunden, sich dem Neutralitätsgebot strikt unterworfen und keinerlei Konzessionen gemacht. Tatsächlich aber verstieß man bis in die jüngste Vergangenheit gegen die angeblich selbst auferlegten Gebote. Nach den Flüchtlings- und Raubgold-Affären konzentriert sich jetzt das Interesse auf wirtschaftliche Zusammenhänge. So gab man der deutschen Wehrmacht und der italienischen Armee nach 1940 rund 1,3 Milliarden Franken Staatskredite ("Clearingkredite"), damit diese in der Schweiz Kriegsmaterial kaufen konnten. Die Kredite im laufenden Zahlungsverkehr schufen die Voraussetzung, dass die Achsenmächte ihre enormen Importbedürfnisse für die Rüstung ohne Devisenverlust und über eine gezielte Verschuldung finanzieren konnten. Die Angst, dass Fehler aufgedeckt werden könnten, bewirkte, so kann etwa König nachweisen, dass noch 1994 90 Prozent des Archivbestandes der Interhandel durch die Schweizer Bankgesellschaft, heute UBS, vernichtet wurde. Den bereits 1946 vom Bundesarchiv in Auftrag gegebene Bericht (Rees-Bericht), der den Komplex Interhandel untersuchte, wird bis heute unter Verschluss gehalten.

Zwar war das Wunschbild der sauberen Schweiz seit den so genannten "Diamant"-Feiern von 1989 ins Wanken geraten, doch konnte sich das Schweizer Selbstverständnis noch des Drucks der Außenwelt erwehren. Mit der Einsetzung der UEK hat der Staat dem internationalen Druck nachgegeben, und seit dem Satz des Bundespräsidenten Kaspar Villiger vom Mai 1995 "Es steht für mich außer Zweifel, dass wir mit unserer Politik Schuld auf uns geladen haben", hat sich ein Geschichtsbild etabliert, das zuvor allenfalls in der scharf bekämpften Initiative "Gruppe Schweiz ohne Arme" (GSoA) gepflegt wurde. Heute zeigt sich in aller Deutlichkeit, dass sich zahlreiche Schweizer Unternehmen mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten gut arrangieren konnten. Gerade im Umgang mit der veränderten Machtlage zeigten sich ihre Handlungsspielräume. Sie wurden je nach Interessen genutzt oder bewusst ignoriert. Das Bild der Schweiz im "Dritten Reich" ist komplexer geworden, aber auch düsterer.

Die Berichte der Bergier-Kommission werden Schweigekartelle aufbrechen, indem sie darauf insistieren, wie sehr der funktionalistische Umgang mit den neuen Machthabern möglichen Kriterien einer universalen Ethik vorgezogen wurde. Es wird keine leichte Aufgabe der florierenden Lehrstühle für Wirtschaftsethik sein, den Interessenkonflikt an dieser Stelle zu erklären. Die Schweiz muss sich nicht neu erfinden, doch ein "Weiter so" ist seit gestern nicht mehr möglich.

Wie schwierig die Hinnahme dieser Veränderungen ist, zeigten die Worte des Kommissionsvorsitzenden Jean-François Bergier. Sein Vortrag ließ die alten Erzählungen noch einmal kurz aufleben. In seiner Not griff der Schüler Fernand Braudels auf die Rede von der "longue durée" historischer Prozesse zurück, um die vier Jahre Forschungszeit zu beschreiben. Immer wieder lösten sich seine Objektivitätskriterien in der Befindlichkeit seiner Mitarbeiter auf: "Aber auch HistorikerInnen sind Menschen und mithin empfindsam." Und ganz nah bei Thukydides und Ranke war er, wenn er die hohen Erwartungen zu dämpfen suchte: "Unsere Pflicht ist es nun, darüber zu berichten, was wir gefunden haben." Man sah Bergier an, dass er seine Botschaft ohne große Freude präsentierte. Sein bisheriger Spagat, Aufklärung zu betreiben und zugleich dem Vaterland einen Dienst zu erweisen, dürfte als gescheitert angesehen werden. Bergier ist ein unfreiwilliger Aufklärer geworden.

Allerdings sollten sich auch die deutschen Historiker die Arbeiten ihrer Schweizer Kollegen genauer anschauen. Denn es gilt die schlichte Formel: "Schweiz im Zweiten Weltkrieg" heißt "Deutschland im Dritten Reich". Sie können lernen, dass der beschrittene Weg von jungen Forschern wie Christian Gerlach oder Dieter Pohl richtig ist und unbedingt weiter beschritten werden muss: Unabhängig von Großtheorien gilt es neu an den Quellen anzusetzen, die Details auszubreiten, bevor Synthesen alles einebnen. Fest steht, dass manch sicher geglaubtes Wissen – Stichwort: Autarkie des "Dritten Reiches" – erneut zur Überprüfung ansteht. Wie ernst die Sache in der Schweiz genommen wird, zeigt die Tatsache, dass die "Neue Zürcher Zeitung" alle Studien rezensieren möchte.

In der Arbeit von insgesamt weltweit achtzehn Kommissionen zeigen sich die Fortwirkungen jener Ereignisse, die von Deutschland zwischen 1933 und 1945 ausgingen. Sie erweisen, dass jede Rede von Europa aufbaut auf der kontaminierten Erde des "Dritten Reiches". Erst allmählich werden die Traumatisierungen, Verwicklungen, die zahlreichen Grautöne sichtbar – gerade durch die Forschungen der Länder, die in den Strudel der Ereignisse gerieten. Die UEK hat auch Deutschland einen großen Dienst erwiesen.

haGalil onLine 03-09-2001

 


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