Juden in
Frankreich auf der Suche nach Identität:
Eine unruhige Gewissheit
Von SYLVIE
BRAIBANT * und DOMINIQUE VIDAL
* Sylvie Braibant ist Journalistin bei TV5, Paris.
Unter den
Franzosen jüdischer Religion, Kultur oder Abstammung wächst eine
spürbare Beunruhigung, die sie häufig defensiv, gelegentlich
aber auch reizbar macht. Diese Unruhe hat zum einen mit der
blutigen Zuspitzung des Nahostkonflikts und den
Selbstmordattentaten in Israel zu tun, zum anderen mit
französischen Entwicklungen: mit der Gewalt gegen jüdische
Gemeinden und jüdische Gotteshäuser und natürlich mit dem
Aufstieg des Front National. Doch diese Unruhe ist auch ein
Symptom für die Unsicherheit jüdischer Existenz angesichts der
Spannweite individueller Optionen zwischen prekärer
Selbstbehauptung und Assimilation.
Was meinen wir, wenn wir von der
Jüdischen Gemeinde Frankreichs sprechen? Die Gesamtheit aller
Franzosen jüdischen Glaubens, jüdischer Herkunft und Tradition,
also rund 700 000 Menschen? Oder die organisierte Jüdische
Gemeinde, das wären die paar hundert, die Verbindung zum
Konsistorium (der offiziellen Vertretung der jüdischen
Glaubensgemeinschaft in Frankreich) halten oder einer der
Vereinigungen angehören, die im Conseil représentatif des
institutions juives de France (CRIF, gesellschaftspolitische
Vertretung der jüdischen Gemeinde) zusammengeschlossen sind?
Wenn der CRIF-Vorsitzende Roger Cukierman eine Stellungnahme
abgibt, spricht er also - maximal - für jeden siebten
französischen Juden.
Jean-Yves Camus, strenggläubiger
Mitarbeiter bei Actualité juive, bringt den Unterschied
auf den Punkt: "Wir erleben eine echte Polarisierung: Auf der
einen Seite gibt es die Juden, die stärker als je zuvor ihre
Identität behaupten, auf der anderen diejenigen, die sich
assimilieren und unsichtbar werden." Ein reales Bild ist schwer
zu ermitteln, meint Camus, denn "bei uns sind Zahlen ein Tabu:
Sowohl die Thora als auch die Gesetze der Französischen Republik
verbieten die Zählung von Juden."
Begnügen wir uns also mit
Annäherungen. Jean-François Strouf vom Pariser Konsistorium
betont den regen Synagogenbesuch, den Rückgang der
"außergemeindlichen" Eheschließungen sowie die Anmeldung von
fast einem Viertel der Kinder in einer - weltlichen oder
religiösen - jüdischen Schule. Und dass der Absatz an koscherem
Fleisch rückläufig ist, liegt an der BSE-Krise - jeder Jude hat
2001 im Jahresdurchschnitt trotzdem über zwanzig Kilo gegessen.
"In manchen Stadtteilen", stellt
Jean-Yves Camus fest, "gibt es so viele Synagogen, jüdische
Schulen, koschere Läden und Restaurants, dass man von einer
freiwilligen Ghettoisierung sprechen kann: Ganz anders als die
,Israeliten' von einst, die lieber nicht allzu sichtbar sein
wollten, zeigen sich die Orthodoxen heute öffentlich, und das
ist gut so. Allerdings tun es einige mit jener sehr
israelitischen Chuzpe: Für sie ist jeder, der sich ihren
Absichten widersetzt, ein Antisemit. Andere sprechen, obwohl sie
hier geboren sind, von den Nichtjuden als ,den Franzosen'."
Deutlich spürbar ist der Wunsch,
"unter sich" zu sein, in der Schule der Alliance Israélite in
Pavillons-sous-Bois, Departement Seine Saint-Denis. Sie hat
heute 620 Schüler - bei der Gründung vor 38 Jahren waren es 50 -
und liegt in einer schmucken, blühenden und ruhigen Umgebung:
eine kleinbürgerliche Einfamilienhauswelt mit S-Bahn-Anschluss.
Die Sicherheitsvorkehrungen rund um
die Schule sind bewusst unauffällig. Seit Schüler, die eine
Kippa tragen, nahezu täglich beschimpft werden, herrscht jedoch
erhöhte Wachsamkeit. Diese Spannung ist auch auf den Märkten
spürbar. Das hat, meint die Direktorin Rahel Cohen, zu einem
Bewerberandrang geführt. "Dabei geht es sowohl um den
schulischen Erfolg als auch um Identitätssuche und die Hoffnung
auf Sicherheit. Bei uns sind die Schüler geschützt, keiner wird
als der ,Böse' hingestellt. Selbst Leiter staatlicher Schulen
bitten mich, Schüler aufzunehmen!"
Eine schöne junge Frau, die
nächstes Jahr mit dem Medizinstudium beginnen wird, fragt sich,
wie sie wohl aus diesem Kokon herauskommt, der sie seit der
Grundschule schützt: "Ich fürchte mich sehr vor der
nichtreligiösen Welt da draußen." Eine Schülerin, die erst mit
der Oberprima übergewechselt ist, erklärt: "Ich wollte unter
Gleichgesinnten sein, die mit der Religion leben und sich
koscher ernähren." Ein Junge, dem es auf einem staatlichen
Gymnasium übel ergangen war und der seit der Obersekunda hier
ist, betont die "Werte des Judentums: Respekt und Toleranz".
Der orthodoxe Rabbiner Daniel
Gottlieb, seit vierzig Jahren für die Synagoge in der Rue de
Montevideo im XVI. Arrondissement von Paris verantwortlich,
äußert sich zurückhaltend: "Die Rückkehr zum Judentum ist zwar
unübersehbar, bleibt aber doch ein Minderheitenphänomen.
90 Prozent der Juden gehen zur Jom-Kippur-Feier in die Synagoge,
aber die wenigsten von ihnen erscheinen dort jeden Samstag. Fast
80 Prozent heiraten einen nichtjüdischen Partner. Nur eins von
vier Kindern geht auf eine der jüdischen Schulen - und deren
Erfolg hängt mit dem der Privatschulen im Allgemeinen zusammen.
Beim koscheren Fleisch schließlich darf man nicht vergessen,
dass auch viele Muslime es kaufen."(1)
Doch selbst wenn man die
Dimensionen etwas zurechtrückt, so ist die "Rejudaisierung" der
letzten Jahrzehnte nicht zu leugnen. Man denke nur an die
unmittelbare Nachkriegszeit. Zwischen 1942 und 1944 wurden
79 500 der 330 000 in Frankreich lebenden Juden deportiert - von
ihnen überlebten nur 2 500. Zwei Drittel der Opfer waren
Ausländer. Solche Traumata erklären, dass nach der Befreiung
viele, die dem Völkermord entkommen sind, nicht mehr wissen, was
Judesein bedeutet. Elie Wiesel zum Trotz fragt sich manch einer:
"Wo war Gott in Auschwitz?"(2) Dabei hat die Schoah nicht nur
den Glauben ins Wanken gebracht.
"Es war eine wirre Zeit", erklärt
Henri Hajdenberg, der 1973 die jüdische Erneuerung "erfand" und
1995 bis 2001 Vorsitzender des CRIF war, "die jüdische Identität
war erschüttert", man musste "sich persönlich und familiär neu
verorten." Dabei stützten sich viele auf ein "kommunistisches
oder sozialistisches Engagement, das über ihr Judesein
hinausging". Andere engagierten sich als Zionisten.
Nelly Hansson, die Leiterin der
Fondation du judaisme français, erinnert sich lediglich an eine
"teilweise Abkehr vom Judentum. Es gab zwar den typisch
französischen Antiklerikalismus - gegen die Rabbiner wie gegen
die Priester - und wir haben nicht unbedingt koscher gegessen,
uns aber trotzdem mit Freunden in der Synagoge getroffen."
"Leben und Tod lege ich dir vor.
Wähle also das Leben." Dieser Satz aus dem Fünften Buch Mose
(Kap. 30, 19) erklärt für Théo Klein, warum die Wiedergeburt des
französischen Judentums nach dem Krieg im Wesentlichen auf den
persönlichen Bereich begrenzt blieb. Er hat nach einer
"Überjudaisierung" in der Jugend und dem Engagement im jüdischen
Widerstand - obwohl "weder Kommunist noch Zionist" - später auf
der Hierarchieleiter alle Stufen absolviert, vom Vorsitz der
Jüdischen Studentenunion bis zu dem des CRIF, den er 1983 bis
1989 innehatte. Doch er respektiert alle, die lange Zeit lieber
die Deportation vergessen wollten, die Synagoge verlassen und
einen Nichtjuden oder eine Nichtjüdin geheiratet haben. "Die
,Rejudaisierung'", stellt er fest, "ist über den Bauch
gegangen." Und sie war überwiegend sephardisch geprägt - oder
genauer gesagt, arabisch-jüdisch(3).
"Mit dem Zustrom der Juden aus
Tunesien, Marokko und vor allem Algerien hat sich die
französische jüdische Gemeinde stark verändert, vor allem weil",
so Théo Klein, "die bis dahin mehrheitlichen Aschkenasim an
Einfluss verloren."(4) Die "Pieds-noirs" brachten eine
"Volksreligion" mit, die sie jede Woche, ja sogar jeden Tag
praktizierten. "Sie haben das französische Judentum
wiedererstehen lassen", begeistert sich der Rabbiner Daniel
Fahri, Vorsitzender des Mouvement juif libéral,(5) bevor er
relativierend hinzufügt: "Sie hatten ihre Frömmigkeit, ihre
Riten, brachten aber an jüdischer Kultur nicht sehr viel mit.
Ihr Zustrom hat das Konsistorium radikalisiert." - "Und sie
hatten", ergänzt Jean-Yves Camus, "ihre eigenen offenen
Rechnungen mit Frankreich, das bereits im Juli 1942 das
Crémieux-Dekret(6) außer Kraft gesetzt, 1962 vor der algerischen
Befreiungsfront ,kapituliert' und dann die ,Verratenen' schlecht
aufgenommen hat." -"Daher auch das ,Revanchegefühl', das sie
später beim Sechstagekrieg empfanden", bemerkt Meir Waintrater.
Für den Chefredakteur der Monatszeitschrift L'Arche
"markiert 1967 den symbolischen Geburtsakt des modernen
französischen Judentums". Es war, wie Hajdenberg präzisiert,
"das erste Mal, dass Juden als Juden auf die Straße gingen".
Dreißig Juden - dreißig
Antworten
FÜR die Soziologin Martine
Cohen hingegen ist diese wechselseitige Beziehung nicht so
bedeutsam: "Die Erneuerung innerhalb der jüdischen Welt
vollzieht sich erst ein Jahrzehnt nach der Ankunft der Juden aus
Nordafrika. Ende der Sechziger- und Anfang der Siebzigerjahre
entwickelt sich zunächst ein starkes, kulturell geprägtes
Gemeindeleben, die religiöse Dimension spielt eine Nebenrolle.
Das geht einher mit der sozialen Eingliederung der Juden aus
Nordafrika."(7)
Auch Nelly Hansson warnt vor einer
ahistorischen Sicht: "Die Kinder und Enkel dieser sehr frommen
Sephardim werden sich genauso verändern, wie sich einst die
Nachkommen der Aschkenasim verändert haben. Sie werden sich
,französisieren' - es sei denn, der allgemeine Trend zu einem
kommunitaristisch geprägten Gemeindeleben legt sie auf ihre
konfessionelle Identität fest."
Die drei tragenden Säulen der Ende
der Sechzigerjahre einsetzenden "Rejudaisierung" sind leicht zu
erkennen: Religion, Solidarität mit Israel und Erinnerung an die
Schoah. Jede dieser Säulen ist allerdings unterschiedlich
wichtig, gibt Rabbi Gottlieb zu bedenken: "Wenn Sie dreißig
Juden über ihr persönliches Judesein befragen, werden Sie
mindestens dreißig verschiedene Antworten bekommen."
Yoni ist ein fünfzehnjähriger
Straßburger Junge algerischer Herkunft: "Jude sein heißt zu
allererst religiös sein, also ein bestimmtes Lebensideal
verfolgen." Yoni praktiziert seinen Glauben strenger als seine
Eltern, geht auf eine religiöse Schule, besucht regelmäßig die
Synagoge und ernährt sich koscher. Warum ist er zu solchen
"Konzessionen", wie er die religiösen Pflichten seltsamerweise
nennt, bereit? "Aus Respekt vor dem, was unsere Vorfahren
durchgemacht haben, von der Inquisition bis zur Schoah: sich
assimilieren würde bedeuten, sie zu verleugnen." Diese
Grundsätze hofft er an die Kinder weiterzugeben, die er -
natürlich mit einer jüdischen Frau - haben wird. Doch vorerst
will er sie niemandem aufdrängen: "Das Judentum muss tolerant
sein, um möglichst viele Juden zusammenzubringen." Für Israel
hat Yoni wenig Begeisterung übrig: "Es ist ein Land wie jedes
andere, ich bleibe auf alle Fälle lieber in Frankreich."
Wie er können sich auch die Schüler
der Abschlussklasse in Pavillons-sous-Bois ihr Judentum nicht
außerhalb der Religion vorstellen. Doch von ihnen wollen einige
in das ihrer Ansicht nach bedrohte Israel auswandern. Sie machen
keinen Hehl aus ihrer fast bedingungslosen Unterstützung für
Israel, gestehen umgekehrt aber auch den jungen Muslimen ihre
propalästinensische Haltung zu. Eine derart verinnerlichte
Identität zeigt auch das junge Mädchen, das bekennt, es fühle
sich "dem Staat Israel fast wie einer Mutter verbunden".
Das Problem der "doppelten
Zugehörigkeit" hält Rabbi Fahri für äußerst wichtig: "Dieser
Konflikt zerreißt mich: Ich bin einerseits stolz darauf, hier
integriert zu sein und an der französischen Kultur teilzuhaben,
aber andererseits auch auf mein Judentum und meine - nicht
bedingungslose - Verbundenheit mit Israel. Schon der Gedanke,
dass Frankreich eine harte antiisraelische Linie verfolgen
könnte, jagt mir einen Schrecken ein. Ich weiß nicht, was ich
dann tun würde."
Andere denken unentwegt laut über
ihre bedingungslose Solidarität nach. Mitten in einer Diskussion
über die Gefahren, die Scharons Politik für Israel und für die
Juden mit sich bringt, sagt ein Vertreter der jüdischen Gemeinde
im Vertrauen: "Selbst hier halten viele Leute Scharons Politik
für gefährlich." Wir sind erstaunt: Hier, in der Rue Broca 39,
dem Sitz des Fonds social juif unifié(.8) Aber warum schweigen
sie dann? "Im Zuge der demografischen Entwicklung wird Israel
zum wichtigsten jüdischen Zentrum, aus dem Staat Israel bezieht
jeder französische Jude seine Legitimität. Deshalb können wir
die israelische Regierung, egal welche, nicht kritisieren."
Unser Gesprächspartner zeigt sich am Ende seinerseits
verwundert, dass wir ihn mit den Kommunisten vergleichen, die im
Namen der Solidarität mit der Sowjetunion zunehmend blind wurden
gegenüber dem Zerfall des "Realsozialismus".
Als Mitte der Siebzigerjahre die
jüdische Erneuerung entstand, hatten ihre Gründer einen eher
politischen als identitätsorientierten Ansatz. "Damals",
erinnert sich ein Anwalt, der sich seinerzeit im linksextremen
Milieu bewegte, "habe ich einen fanatischen Antizionismus kennen
gelernt, hinter dem noch noch kein verkappter Antisemitismus
vermutet wurde. Man konnte über alles diskutieren, nur nicht
über den Zionismus. Deshalb musste ein politisches Judentum
stark gemacht werden, um ein Gegengewicht zur proarabischen
Politik Frankreichs zu schaffen."
Dreißig Jahre danach stellt Henri
Hajdenberg fest: "Die jüdische öffentliche Meinung in Frankreich
ist oft weniger realistisch als die öffentliche Meinung in
Israel, die direkt mit der Realität im Nahen Osten konfrontiert
ist. Die Perspektive eines palästinensischen Staates ist dort
offenbar leichter zu akzeptieren als hier. Zumal man bei uns
eher die Stimme der Aktivisten hört als die der Gemäßigten." Und
dann zürnt er mit den Juden, "die sich über Scharon empören und
meist in der Gemeinde gar nicht aktiv sind, wo sich dann vor
allem die radikalsten Scharon-Anhänger zu Wort melden!". Der
gleiche Vorwurf ergeht an die Adresse der großen jüdischen
Schriftsteller und Journalisten, deren Stimmen hauptsächlich
außerhalb der jüdischen Gemeinde Gewicht haben.
Wer sich noch einmal nacheinander
"Nacht und Nebel" von Alain Resnais (1955) und "Schoah" von
Claude Lanzmann ansieht, begreift schnell, wie stark die - lange
von der allgemeinen Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg
verdeckte - Erinnerung an die Ermordung der europäischen Juden
wieder an die Oberfläche getreten und ins öffentliche
Bewusstsein eingedrungen ist. "Als ich mit acht Jahren die
Fernsehserie ,Holocaust' sah, entdeckte ich die Schoah",
erinnert sich die etwa dreißigjährige Valérie Zenati, die an
einem Pariser Gymnasium Hebräisch unterrichtet. "Das war
wirklich traumatisch, ich hatte entsetzliche Albträume. Der
Völkermord wurde zu ,meiner eigenen Geschichte', was für eine
Jüdin aus Nordafrika ungewöhnlich ist", gibt sie lächelnd zu.
Dass ihr Buch "Les Juifs ont-ils un
avenir?"(9) einen Skandal auslösen würde, hätten Esther Benbassa
und Jean-Claude Attias nie gedacht. Ihre Formulierung "Religion
der Schoah" war für manche schockierend. Esther Benbassa
erläutert: "Der Völkermord stellt keine Identität für die
Zukunft dar." Und Jean-Claude Attias ergänzt: "Er steht wie eine
Wand zwischen Juden und Nichtjuden und verdeckt eine viele
tausend Jahre währende Geschichte, die nicht nur aus
Verfolgungen besteht." Zudem schließt die Gleichsetzung von
Judentum und Schoah 60 Prozent der französischen Juden aus, weil
sie aus Nordafrika sind und die Shoah nicht erlitten haben. Auch
Nelly Hansson meint, dass "die jüdische Geschichte nicht nur
gleichbedeutend mit Tragödien ist, sondern auch mit Kreativität,
intellektueller Leistung, Ethik und Erziehung zur Pluralität".
Die Erinnerung an den Völkermord
wachhalten, gewiss - aber welche Erinnerung? Auf diese Frage
antworten Eyal Sivan und Rony Brauman, die beiden beim jüdischen
Establishment abgelehnten schrecklichen Cousins, mit ihren
Filmen. Eyal Sivan verdanken wir "Izkor", in dem der Philosoph
Jechajahou Leibovitz die militärische Mobilisierung der Jugend
in Israel scharf kritisiert. Zusammen haben sie 1999, ausgehend
von Archivbildern aus dem Eichmann-Prozess, "Un spécialiste"
gedreht. "Die Erinnerung aufzugeben, wäre intellektuell dumm und
moralisch nicht vertretbar", meint Rony Brauman. "Wir brauchen
sie wie unsere Lungen. Sie macht uns menschlich." Dabei müsse
die Erinnerung an die Schoah wie die an jedes bedeutende
Ereignis "ins Geschichtsbuch der Menschheit eingetragen werden,
um ideologische Manipulationen zu vermeiden und aus der
Vergangenheit Lehren für die Zukunft zu gewinnen".
Religion, Erinnerung, Israel.
Martine Cohen betont eine vierte, kulturelle Säule, die seit
Jahren sichtbar werde, "die Lektüre bestimmter Zeitschriften,
das Hören bestimmter Radiosender, der Besuch im Gemeindezentrum,
von Geschichts- und Sprachkursen".
Haim Vidal Sephiba, ein Sockel
dieser "kulturellen Säule", sagt von sich selbst, er "wecke das
Spanisch-Jüdische wieder auf". Er war bis vor kurzem Professor
für orientalische Sprachen und verdankt es der wiedererlangten
Identität nach seiner Rückkehr aus Auschwitz, dass er diese
Sprache überhaupt gelernt hat. "Es gab ein Vorurteil, wonach die
spanischen Juden nicht deportiert wurden, dies Schicksal sei
angeblich nur den ,jiddischen' Juden widerfahren. Das ist
falsch!"(10) Seine Anhänger stammen wie seine Studenten
vorwiegend aus nordafrikanischen Familien. Und obwohl heute alle
am liebsten Sephardim wären, plädiert er dafür, die Dinge
auseinander zu halten: "Die Mehrheit der Juden in Frankreich
sind arabisch-jüdisch und befolgen den sephardischen Ritus. Die
einzigen ,echten' Sephardim sind die Nachkommen der spanischen
Juden. Statt all das zu vermengen, sollte man lieber die
arabisch-jüdischen Sprachen rehabilitieren. Denn das Judentum
kennt viele Sprachen."
Dieser Vielsprachigkeit widmet sich
auch Ménie Wieviorka im Centre Medem (700 Mitglieder), das er
maßgeblich mitträgt. In seiner Satzung bekennt sich das Zentrum
zu seiner Liebe zum Jiddischen (das durch den Völkermord nahezu
ausgelöscht wurde) und zum Erbe des revolutionären Bunds.(11)
"Wir wollen verhindern, dass das Jiddische ausstirbt. Aber weder
in Israel noch in den Vereinigten Staaten oder Europa wird es
heute noch gesprochen. In Israel gilt es sogar als Sprache der
Toten, der Verlierer, der Feiglinge. Nur die
Lubawitsch-Anhänger, die Ultraorthodoxen, benutzen es noch! Wir
dagegen stehen eher in der Tradition der Aufklärung."
Wahr bleibt jedoch, dass auch der
beste pädagogische Wille an seine Grenzen stößt. Und so ist mit
den drei Säulen Religion, Erinnerung und Israel, selbst wenn man
als vierte Säule noch die Pflege des kulturellen Erbes
dazunimmt, für viele unserer Gesprächspartner nicht oder nicht
mehr erfasst, was das Judentum für sie bedeutet. Rabbi Gottlieb
etwa empört sich: "Das Judentum ist keine Religion. Im Übrigen
gibt es das Wort auf Hebräisch gar nicht. Das Wort dat
wurde erfunden, um Maimonides(12) zu übersetzen. Nein, das
Judentum besteht in der Beziehung zu Gott, zu den Menschen, zu
den Dingen, zu Werten, zur Geschichte."
Für Théo Klein geht das Judesein
zwar auf Bibel und Talmud zurück, sein Kern aber sei die Lehre
Abrahams: michpat (Urteil) und zedaka
(Gerechtigkeit). "Mit anderen Worten: Judentum bedeutet zu
allererst, die Gesellschaft am Ziel der Gerechtigkeit
auszurichten." Aber was soll an dieser Definition spezifisch
jüdisch sein? "Anders als das Neue Testament stellt die Thora
nicht das Prinzip der Nächstenliebe auf, sondern das der
Gerechtigkeit. In der christlichen Gemeinschaft wäscht der
Glaube von der Sünde rein. Die jüdische Gemeinschaft dagegen
erinnert immer an unsere Verantwortung."
Meir Waintrater argumentiert
stärker aus institutioneller Sicht und bedauert vor allem "das
Fehlen eines einheitlichen Modells jüdisch-französischer
Identität". Natürlich freut ihn die religiöse, intellektuelle
und politische Erneuerung der letzten Jahrzehnte, wobei er auf
den Beitrag von Einrichtungen wie der École des cadres d'Orsay
und auf die integrative Kraft von Persönlichkeiten wie Léon
Ashkenazi, genannt Manitou, verweist. "Und doch hat die
gegenwärtig sehr uneinheitliche Diskussion etwas von einem Teig
aus lauter Klümpchen. Wir brauchen ein Minimum an Gemeinsamkeit,
das für die Weltlichen wie für die Religiösen annehmbar ist.
Aber leider hält jeder seine eigene Maximalvorstellung für
dieses Minimum! Wann werden wir unser Zweites Vatikanum
bekommen?"
Die Historikerin Annette Wieviorka
ist entschiedene laizistisch. Sie fasst ihre Suche nach
Identität anders auf. Seit sie mit ihren einschlägigen Arbeiten
neue Maßstäbe gesetzt hat, soll sie sich immer häufiger zum
Thema Völkermord äußern: "All die Einladungen zu Kolloquien,
Seminaren und Kommissionen verdanke ich mehr oder weniger der
Tatsache, dass ich Jüdin bin. Was ja stimmt, aber ich bin auch
Frau, Französin, Wissenschaftlerin." Die moderne Welt erfordert
"vielfältige Identitäten, in denen sich Herkunft, Beruf,
Ansichten und Überzeugungen mischen. Und diese Mischung
entwickelt und verändert sich im Lauf der Lebensjahre. Das
Judesein macht eben nur einen Teil unseres Selbst aus." - "Und
das ist nicht einmal der wichtigste", meint dazu später Rony
Bauman, der ebenfalls überzeugt ist, dass wir derzeit eine
"Neuformierung unserer Identität" erleben.
Annie Dayan Rosenman, Dozentin am
Fachbereich Literaturwissenschaft an der Universität Paris-VII,
betont hingegen den jüdischen Anteil: "Wir wollen nicht mehr
Reisende ohne Gepäck sein" wie die "Israeliten" von einst. Aber
was will sie dann in ihre Koffer packen? "Einen Vorrat an
kulturellen Gemeinsamkeiten mit einer jüdischen Dimension." Aus
der Überzeugung heraus, dass die Mehrheit der französischen
Juden laizistisch ist, hat sie mit dem Schriftsteller Albert
Memmi vor rund zehn Jahren die "Association pour un judaisme
humaniste et laïque" ("Vereinigung für ein humanistisches,
weltliches Judentum") gegründet. "Wir wissen, dass die Tradition
nicht mehr als Ganzes weitergegeben wird, sondern ,à la carte'."
Neben der Orientierung an den
Werten, die auf den Schriften der Propheten beruhen, arbeitet
die Wissenschaftlerin zum Beispiel "über eine Reihe von
Schriftstellern, die auf je eigene Weise mit dem Judentum
verbunden sind". Das ist eine Möglichkeit, "den weltlichen Juden
zu helfen, gemeinsam zu ihrem Erbe zu finden". Nebenbei deutet
Anny Dayan Rosenman eine einfache Lösung für das "Problem" der
Mischehen an: "Die Rabbiner sollten auch die Patrilinearität
anerkennen, damit ließe sich die Entwicklung, die wir derzeit
als Aderlass erleben, in einen neuen Zustrom umkehren!" Den
Wunsch nach Öffnung hat die liberale jüdische Bewegung bereits
vorweggenommen. Sie erkennt als Juden, wie Rabbiner Fahri
präzisiert, "jeden Menschen an, der einen jüdischen Vater oder
eine jüdische Mutter hat und im Judentum erzogen worden ist".
"Statt die Juden in Frankreich
negativ zu mobilisieren, wäre es an der Zeit, sie positiv zu
einer Definition des Judentums im einundzwanzigsten Jahrhundert
zu bewegen, zu einer jüdischen Kultur in der Diaspora", betont
Jean-Claude Attias. Dieses ehrgeizige Ziel schließt "die
Rückeroberung des Pluralismus innerhalb der organisierten
Gemeinde" mit ein.
Fortschritte in diese Richtung kann
es erst geben, wenn die Orthodoxen und Rechten aufhören, sich zu
verbarrikadieren: Die einen haben Horror vor exogamen
Eheschließungen und Frauen in der Rabbinerrolle, vor Konvertiten
und Homosexuellen; die anderen betrachten jeden, der die
israelische Regierung kritisiert, als Antisemiten. Dabei wäre es
höchste Zeit, die kritischen Kräfte zu bündeln.
Was wird von der jüdischen
Identität in hundert Jahren noch übrig sein? "Im Grunde ist mir
das egal", antwortet Rony Brauman. "Das Judentum wirkt der
allgemeinen Bewegung nicht entgegen, die Gruppenbindungen
auflöst und wieder neu entstehen lässt. Die jüdische Wahrheit
lässt sich nicht in ein Ghetto einschließen. Es wird Vermischung
geben, das ist unausweichlich. Und niemand weiß, was dabei
herauskommt."
Vielleicht schlicht und einfach
jene "gewöhnliche Evidenz", wie George Perec(13) sie dichterisch
gestaltet hat, "ein Schweigen, eine Abwesenheit, eine Frage,
eine Infragestellung, ein Schwanken, eine Unruhe, eine unruhige
Gewissheit …". Oder die ruhige Sicherheit von Méni Wieviorka:
"Wenn einer kommt und sich mit den Worten vorstellt: ,Ich bin
Jude', dann ist er für mich Jude."
dt. Sigrid Vagt
Fußnoten:
(1) Bei der vierten Eurokosher-Messe Anfang Juni in Paris wurde
der Anteil nichtjüdischer Konsumenten von koscheren Produkten
auf 60 Prozent geschätzt (Témoignage chrétien,
13. Juni 2002).
(2) Vgl. "Die Nacht. Erinnerung und Zeugnis", Freiburg, Basel,
Wien (Herder) 1996.
(3) Das biblische Wort sefarad meint Spanien.
(4) Ashkenas ist in 1. Mose 10,2 als Sohn Gomers, Enkel
Japhets und Urenkel Noahs genannt.
(5) Diese in den USA mehrheitliche Strömung gelangte 1977 nach
Frankreich, wo sie bis heute eine eher ausgegrenzte Minderheit
darstellt.
(6) Das Crémieux-Dekret vom 24. Oktober 1870 hatte den Juden in
Algerien die französische Staatsbürgerschaft zugesprochen
(A. d. Ü.).
(7) "Les Juifs de France aujourd'hui. Du modèle confessionnel au
modèle communautaire", Migrations-Formation,
Nr. 82, September 1990.
(8) 1950 gegründeter Zusammenschluss der wichtigsten jüdischen
Vereinigungen in den Bereichen Soziales, Bildung und Kultur
(A. d. Ü.).
(9) Paris (Lattès) 2001.
(10) Knapp die Hälfte der 375 000 in Europa und Kleinasien
lebenden sephardischen Juden wurden deportiert. Die allermeisten
von ihnen sind ums Leben gekommen.
(11) Der Bund, eine "sozialdemokratische Organisation der
jüdischen Arbeiter", entstand 1897 in Russland in der
Illegalität. Er wurde eine der tragenden Kräfte, die 1917 den
Sieg der Bolschewiken herbeiführten.
(12) Maimonides (1135-1204), Philosoph und Talmudgelehrter,
versuchte die Aristotelische Philosophie mit den Lehren des
Judentums in Einklang zu bringen (A. d. Ü.).
(13) "Geschichten von Ellis Island. Oder wie man Amerikaner
macht", Berlin (Wagenbach) 1997.
taz muss sein: Was ist Ihnen
die Internetausgabe der taz wert? Sie helfen uns, wenn Sie
diesen Betrag überweisen auf: taz-Verlag Berlin, Postbank Berlin
(BLZ 100 100 10), Konto-Nr. 39316-106
Für Österreich: TAZ Verlags- und Vertriebs GmbH, Konto-Nr.:
92.134.506, Österr. Postsparkasse (P.S.K.)
© Contrapress media
GmbH
Vervielfältigung nur mit Genehmigung des taz-Verlags
hagalil.com
16-08-02 |