Positive Bilanz:
Präsident Havels letzte Neujahrsansprache
Wie Radio Prag berichtet haben führende Politiker
aller Parlamentsparteien mit Ausnahme der Kommunisten vergangene
Woche positiv auf die letzte Neujahrsansprache des aus dem Amt
scheidenden tschechischen Präsidenten Vaclav Havel reagiert. Der
Vizevorsitzende der Kommunisten, Miroslav Ransdorf, kritisierte,
dass Havels Ansprache ähnlich wie in den vergangenen Jahren
inhaltslos und moralisierend gewesen sei und dass der Praesident es
versäumt habe, seinen eigenen Anteil an der Entwicklung der letzen
Jahre zu reflektieren.
Havel hatte sich am Neujahrstag traditionell mit
einer in Rundfunk und
Fernsehen übertragenen Rede an die tschechischen Bürger gewandt und
zugleich Bilanz über die Entwicklung des Landes in den vergangenen
Jahren gezogen. Zunächst erinnerte der Präsident anlässlich des
zehnten Jahrestages an den Zerfall der Tschechoslowakei in eine
Tschechische und eine Slowakische Republik am 1. Januar 1993. Auch
wenn die Trennung letztlich gut gewesen sei und sich Tschechen und
Slowaken heute näher ständen denn je, bedauerte Havel, dass damals
nicht die Bürger an der Entscheidung über die Teilung beteiligt
worden seien.
Weiter erinnerte der tschechische Präsident an
einige Ereignisse des zurückliegenden Jahres, das für die Tschechen
durch die Parlaments- und Kommunalwahlen, die Hochwasserkatastrophe
und den NATO-Gipfel in Prag in mehrfacher Hinsicht ein besonderes
war. In den Wahlen erkannte der Präsident ein positives Zeichen für
die weitere politische Entwicklung des Landes:
"Wir können uns über die geringe Wahlbeteiligung
und über manch anderes beklagen. Aber eines kann man nicht
bestreiten: Nämlich dass neben denen, für die die Politik nur ein
zweckgeleitetes Manövrieren in der Sphäre der Macht ist, und die
Macht selbst nur eine Beute, die es aufzuteilen gilt, in der Politik
auch offene Menschen wirken können, die bereit sind, anderen
zuzuhören. Kurz gesagt: solche, die der Verwaltung öffentlicher
Angelegenheiten ihren eigentlichen Sinn zurückgeben. Und das gibt
uns neue Hoffnung."
Die im Dezember auf dem EU-Gipfel in Kopenhagen
definitiv beschlossene Erweiterung der Europaeischen Union um zehn
Staaten, einschließlich Tschechiens, bezeichnete Havel als
historisches Projekt des friedlichen Zusammenlebens in Europa mit
dem Ziel, die zweitausendjährige Epoche kriegerischer
Auseinandersetzungen und der Bildung von Interessenssphären
definitiv zu beenden. Der Präsident zeigte sich optimistisch
hinsichtlich der im Juni bevorstehenden Volksabstimmung der
Tschechen über den EU-Beitritt ihres Landes:
"Ich glaube fest, dass das diesjährige Referendum
über unseren EU-Beitritt bei den Bürgern auf großes Interesse stoßen
wird und sie sich die Tragweite ihrer Entscheidung
vergegenwärtigen."
Präsident Havel scheidet Anfang Februar definitiv
aus dem Amt. Die vier Bewerber um seine Nachfolge stellen sich am
15. Januar der Wahl durch beide Parlamentskammern. Es gilt als
unwahrscheinlich, dass bereits in den drei Wahlgängen am 15. Januar
ein Nachfolger gewählt wird. Havel selbst hatte bislang nicht
verraten, wen er sich als Nachfolger im Amt wünscht. Zu der mit
Spannung erwarteten Wahl sagte der Präsident in seiner
Neujahrsansprache:
"Ich glaube, dass mein Nachfolger ein weiser,
offener und verantwortungsbewusster Mensch wird, der kreativer
Partner für die aus den Wahlen hervorgegangenen neuen politischen
Akteure sein wird und in dem alle Bürger guten Willens ihren
Verbündeten finden."
hagalil.com
05-01-03 |