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Ein weiteres "Zwischenspiel":
Gedenktafel für Leopold Hilsner

Heute wurde in Wien eine Gedenktafel für Leopold Hilsner, dem bis heute nicht rehabilitierten Opfer des antisemitischen Ritualmordwahns von 1899, enthüllt. Die Gedenktafel wurde auf Betreiben von Dr. Petr Vasicek angebracht, der sich seit Jahren um die Rehabilitierung Hilsner bemüht.

Lesen Sie hier die Rede von Petr Vasicek bei der Enthüllung der Gedenktafel am Haus Obere Donaustrasse 4 in Wien am 25. April 2002:

"Ich begrüsse Sie alle sehr herzlich bei der heutigen Enthüllung einer Gedenktafel für Leopold Hilsner - einem weiteren "Zwischenziel", um mit dem Prager Philosophen Bohuslav Blažek zu sprechen, auf dem Weg einer längst fälligen Aufarbeitung dieses tristen Kapitels altösterreichischer Geschichte, die zwangsläufig münden muss in einer vollständigen, wenngleich nur noch posthumen Rehabilitation des Opfers.

Der fast tausendjährige infame Vorwurf, dass die Juden zu Pessah, also knapp vor Ostern, den sog. Ritualmord christlicher Jungfrauen begingen, war allzu lange allgemeine Überzeugung und erreichte Ende des 19. Jahrhunderts in der Donaumonarchie einen traurigen Höhepunkt. An die 50 Fälle sind da überliefert, kein einziger erreicht jedoch die Dimensionen des Falles Hilsner.

In Zeiten explosiver nationaler Spannungen kommt es hierbei zu einer Mesalliance von österreichischen Berufsantisemiten, tschechischen Nationalisten und bayrischen Aufpeitschern auf Kosten der (nicht nur) in ihrer gesellschaftlichen Position permanent in Frage gestellten Juden.

Hilsner als passives Objekt eignet sich dazu bestens: ein Müssiggänger, Jude auf der untersten Stufe einer rigiden örtlichen Hierarchie, aus dem böhmisch-mährischen Niemandsland nicht weit von Gustav Mahlers Jihlava und Otto Bauers Úsobí stammend, wo v.a. ein tief verwurzelter Katholizismus das Bindeglied darstellte zwischen den jahrhundertelang kooperativ nebeneinander lebenden Deutschen und Tschechen.

In 2 Schauprozessen wird Hilsner 1899 und 1900 in Böhmen unter krasser Missachtung elementarer juristischer Grundprinzipien wie z.B. der Unschuldsvermutung, zum Tode verurteilt - ohne jegliche Beweise, nur auf Grund von äusserst vagen Indizien, vorgebracht von dubiosen Existenzen. Das Oberste Kassationsgericht in Wien bestätigt beide Verdikte rasch und gern.

So gut wie alle versagen hier - angefangen von obduzierenden Ärzten über hämische Journalisten, katastrophale Anwälte und offen antisemitisch agierende Priester bis zum sog. einfachen Volk: jeder ist froh, ein- und höchstwahrscheinlich das letzte Mal im Rampenlicht der Öffentlichkeit zu stehen, und sei es, dass er mit z.T. gekauften Falschaussagen einen Unschuldigen belastet.

Klassische Mechanismen einer Massenpsychose greifen um sich, zwischen Prag und Wien, Pogrome finden statt …. und nur Protesten aus Frankreich und in einem noch viel stärkeren Maße aus Deutschland ist es zu verdanken, dass die Todesurteile nicht vollstreckt werden, Hilsner stattdessen "lebenslänglich" erhält.

Dank gebührt Berliner Juristen und Medizinern, die noch nach Jahrzehnten auf das unprofessionelle handling durch die tschechischen und österreichischen Kollegen von damals hinweisen.

Einer der wenigen auf tschechischer Seite, die dem Ritualmordwahn entgegentraten und der sich mit seinem Engagement paradoxerweise auch die Ablehnung seitens "etablierter" jüdischer Kreise zuzog, war der Philosoph und Gründerpräsident der Tschechoslowakei Tomáš Garrigue Masaryk. Nur eine verschämt und versteckt angebrachte Tafel am Petersplatz erinnert heute in Wien an ihn.

Und bloss noch Insidern bekannt ist heute der Floridsdorfer Bezirksrabbiner Josef Samuel Bloch - fast der Einzige auf jüdischer und Wiener Seite, der immer wieder, u.a.a. als Parlamentsabgeordneter, Initiativen startete zur Freilassung Hilsners und der dessen Familie in Mähren regelmässig finanziell unter die Arme griff.

1918 kommt Leopold Hilsner im Rahmen einer kaiserlichen Generalamnestie nach 19 Jahren Haft frei und stirbt 1928 im Wiener Rothschild-Spital.

In Tschechien waren in den vergangenen Jahren diverse Veranstaltungen der Aufarbeitung der Causa gewidmet, Konferenzen fanden statt, Studien wurden publiziert und TV- und Radiosendungen produziert. Die Höhepunkte waren sicherlich: a. die Aufhebung der auf tschechischem Boden gefällten Urteile 1. Instanz durch die Prager Justizministerin Parkanová 1998, b. die dreitägige Hilsner-Konferenz der Karlsuniversität Prag und des Jüdischen Museums Prag 1999 und c. die Wiedereröffnung der mit französischer Finanzhilfe renovierten Synagoge in Hilsners Polná im September 2000 - dort ist jetzt eine Dauerausstellung der Affäre untergebracht.

Österreichs Vertreter fehlten und fehlen komplett - ich selbst muss mir in Tschechien regelmässig Fragen gefallen lassen, warum z.B. führende deutsche Zeitungen wie die F.A.Z., die Neue Westfälische oder die SZ, bzw. Diplomaten Israels und Frankreichs teilnehmen, nicht jedoch Repräsentanten des direkt involvierten Wiens, weder Historiker noch Medienvertreter noch Mitarbeiter des Österreichischen Kulturinstituts bzw. der Botschaft in Prag ?

Nicht verschwiegen werden sollten auch die unglaublichen, nicht nachvollziehbaren Probleme hier in Wien: seit Jahren bemüht sich eine internationale Privatinitiative um die definitive und moralisch längst fällige Aufhebung der rechtlich bindenden Wiener (Todes-)Urteile durch den Bundespräsidenten bzw. Justizminister. Allen Expertisen aus Italien, Deutschland, Israel oder aus der Schweiz zum Trotz wird aber jede Zuständigkeit abgelehnt und an Prag retourniert.

Auch diese Tafel konnte nur dank der Sensibilität und Intervention von Doktor Marboe angebracht werden und dank dem besonderen Engagement von BV Kubik und Adir Hodik.

In Wien konnte bisher - gegen den Willen des tschechischen Botschafters Grusa - durchgeboxt werden:

1. eine Debatte von tschechischen Hilsner-Experten und mir im Tschechischen Zentrum Herrengasse im Mai 2000

2. die ebenfalls auf einer Privatinitiative basierende und von moralischen Autoritäten wie Doktor Scholz und Doktor Zilk unterstützte Restaurierung des desolaten Hilsner-Grabes am Zentralfriedhof mit Gedenkakt im Juni 2000

3. eine zweimal verlängerte Hilsner-Ausstellung im nahen Aktionsradius Augarten, inszeniert in Zusammenarbeit mit dem Prager Jüdischen Museum November 2000 bis Jänner 2001

Analog zu Prag fehlten wiederum tschechische Diplomaten bei sämtlichen Veranstaltungen und Gruša verstieg sich sogar zu einer Beschwerde beim österreichischen AA ! Nur nebenbei sei bemerkt, daß israelischen und deutschen Diplomaten die o.g. Aktivitäten nicht gleichgültig waren. Desinteressiert an Hilsner zeigte sich auch das Jüdische Museum in Wien...

Beispielhaft, -gebend und vollkommen im Gegensatz zu politischen Hitzköpfen, inkompetenten Diplomaten und oberflächlichen Journalisten auf tschechischer und auf österreichischer Seite stehen die diversen wechselseitigen kulturellen Aktivitäten, namentlich die beiden Janácek-Produktionen Jenufa an der Wiener Staatsoper und Káta Kabanová am Landestheater Linz oder auch die geplante Neu-Produktion von Bohuslav Martinus Julietta bei den diesjährigen Bregenzer Festspielen. In diesem symbiotischen Sinne haben der römische Rechtsanwalt Morini und ich vor einem Jahr an die Präsidenten Havel und Klestil appelliert, angesichts der juristischen Schwierigkeiten mit Hilsners Rehabilitierung in Wien zumindest in einem symbolischen Akt ein Zeichen zusetzen. Während ein Elie Wiesel sofort begeistert reagierte, kam aus Prag erst nach Monaten eine gequälte, eher nichtssagende Antwort, und aus der Hofburg bis dato überhaupt keine.

Traurig stimmt auch, dass sich der Bundespräsident keine Zeit nimmt, Mr Heller zu empfangen, das prestigeträchtige und (Auslands-)medienwirksame Herzl-Symposium vor wenigen Tagen jedoch gern eröffnet.

Wir haben auch vor 1 Monat bei BM Häupl den Antrag gestellt, eine Strasse, einen Platz o.ä. nach Masaryk zu benennen - u.a.a., um das in Wien traditionell bis genuin (an)gespannte Verhältnis zwischen jüdischer und nichtjüdischer Bevölkerung zu entlasten. Toronto, Brünn, Tel-Aviv oder Mexico City erinnern an den Mann, dessen Weitblick z.B. die 1. Republik Vieles verdankt - in Wien ist er heute ein grosser Unbekannter. Darüber hinaus wäre es das 1. Mal, das sich die Stadt Wien offiziell zum tristen Kapitel Leopold Hilsner in der eigenen Geschichte bekennt.

In Betreff auf eine Rehabilitierung LH läuft nach einer sommerlichen Initiative der GRÜNEN z.Zt. eine parlamentarische Anfrage der SPÖ im Nationalrat.

Der Text der Gedenktafel ist eine Übernahme vom Hilsner-Grab, Autor unbekannt - nach den bisherigen, in jüdischen Belangen ganz besonders negativen Erfahrungen mit Gruša ist mit Beschwerden gegen die Tafel und auch gegen die heutige Feier in den kommenden Tagen zu rechnen.

Es bleibt zu hoffen, dass allen Problemen in Wien zum Trotz Leopold Hilsner dennoch endlich rehabilitiert werden wird, auch und vor allem im Interesse Österreichs. Denn, daß ein Unschuldiger nach 103 Jahren immer noch rechtskräftig verurteilt sein kann, stösst nicht nur im Ausland und nicht erst 60 Jahre nach Holokaust und Shoah auf Unverständnis."

Über die Hintergründe:

 hagalil.com / 25-04-2002

 


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