Nachrichten von
ganz tief unten
Das "globalisierungskritische" Netzwerk indymedia.org spiegelt die weltweite
Mobilmachung gegen Israel
Von Torsten Schultz
"Statistisch haben die meisten Israelis ihre Vorfahren in Großbritannien, den
USA oder der UdSSR, und nicht in Maidanek." Eine Aussage, so banal und
unschuldig wie Blausäure in Büchsen, zu finden in dem Beitrag "Bundeswehr nach
Palästina?" auf
indymedia.de.
Ein gewisser "don quichotte" arbeitet sich
darin an der Frage ab: "Soll der Enkel eines Holocaust-Opfers in die Mündung des
Gewehrlaufs eines deutschen Soldaten blicken?" Sein Zahlentrick, glaubt er,
werde diejenigen schon beruhigen, die jetzt an den kleinen Jungen mit den
erhobenen Händen denken: statistisch nur ganz wenige Vorfahren in Majdanek.
Vor Einlieferung der ersten sowjetischen
Kriegsgefangenen im Oktober 1941 befand sich kein Mensch in "Majdanek".
"Kriegsgefangenenlager der Waffen-SS Lublin" war bis Februar 1943 die offizielle
Bezeichnung für das Vernichtungslager, dessen Name sich von dem Lubliner
Stadtteil Majdan Tatarski herleitet. Innerhalb von nicht einmal drei Jahren
passierten es nahezu eine halbe Million Menschen aus 28 Ländern, mindestens 250
000 von ihnen wurden allein dort ermordet. Als das Lager im Juli 1944 geräumt
werden mußte gab es noch etwa 1000 Gefangene, rund die Hälfte davon kam nach
Auschwitz. In der Eile gelang es der SS nicht einmal mehr die Gaskammern zu
sprengen. Hätte der Vormarsch der Roten Armee noch ein paar Tage Zeit gelassen,
wer weiß, was "don quichotte" heute zu Majdanek einfiele.
So wie die Dinge aber liegen, muß der Autor
irgendwie kitten, was ihm als ein zu behebendes argumentatives Dilemma
erscheint: daß Jüdinnen und Juden eben nicht nur nach Palästina emigrierten
bevor sie dem deutschen Vernichtungsapparat anheim fallen konnten. Das Trauma
des Zionismus, die Menschen, für die der Staat Israel als Zuflucht konzipiert
war noch vor dessen Gründung zum Großteil ermordet zu sehen, braucht nach der
Verhöhnung durch die Enkel der Täter nicht zu fragen. Was wäre denn, fragt sich
"don quichotte", wenn vielmehr der deutsche Soldat "Enkel eines
Holocaust-Opfers" wäre? Unwahrscheinlich, doch nicht völlig ausgeschlossen.
"Zweitens blicken Israelis selten in die
Gewehrläufe anderer Menschen". Für "don quichotte" jedenfalls noch zu selten. Es
läge nahe, dem Autor zu unterstellen, er bereite ideologisch die nächste
"Friedensmission" vor, wie jener unbedarfte Nationalist, dem Kritik an Schröders
Initiative für einen Militäreinsatz das Hirn überlaufen läßt: "Das tönt ihr
Antideutschen doch am Lautesten, das wir was in Unserer Geschichte verbockt
haben, das bestreitet auch Keiner, dann lass es uns doch wieder Gut machen, und
Unser Gewissen mit jedem Friedlich bereinigten Konflikt erleichtern, das ist
unsere Pflicht durch die Schuld die wir in unserer Vergangenheit auf uns geladen
haben, und sei Froh das es da Oben Endlich mal einer kapiert hat." Dergleichen
liegt "don quichotte" jedoch völlig fern. Auch wenn er bewußt die Parallele zum
Kosovo-Krieg zieht: die NATO ist für ihn kein geeignetes Instrument gegen den
"notorischen Mörder Sharon", das Remake des Wochenschau-Serben Milosevic. "Wie
in Jugoslawien oder Afghanistan würde eine US- oder EU-dominierte Armee
lediglich Interessen der G7 durchsetzen.".
"indymedia.de versteht sich als ein
emanzipatorisches, unabhängiges mediennetzwerk ohne kommerzielle interessen, mit
dem zentralen ansatz, gegenöffentlichkeit zu schaffen, indem die menschen an der
gesellschaftl. basis DIREKT zu wort kommen; darum ist auch das open posting ein
so wichtiger bestandteil der idee."
Soweit das Selbstverständnis. "Open
posting" bedeutet nichts anderes, als daß alle, die etwas mitzuteilen haben,
ihren Senf direkt auf die Seite packen können - die Garantie für den Mix aus
blutrünstigen Gerüchten, Verbalaggression und Geschichtsrevisionismus, der die
"Berichterstattung" zum Israel/Palästina-Konflikt dominiert. Eine "Moderation"
genannte Aufsicht entfernt "menschenverachtende, sexistische, rassistische,
rechtsradikale u./o. totalitäre beiträge jeder art" zumindest in der Theorie.
Praktisch kann das z.B. so aussehen, daß
die Nachricht über den Überfall auf einen Teilnehmer einer
Pro-Israel-Demonstration in Frankfurt erst beim zweiten posten stehen gelassen
wird, dafür aber auch die Flut von Kommentaren, die dem 75-jährigen empfehlen,
er solle mal besser nicht mehr auf Demos gehen in seinem Alter, und ob er denn
noch seine Brieftasche hätte. Er erlitt einen Rippenbruch, Gehirnerschütterung
und offene Wunden. "Bitte greift dochmal durch und löscht endlich so eine
Scheisse. Das nervt und ich habe keinen Bock Indymedia nur aufgrund von
Antideutschen die Unruhe stiften wollen und die beim Verfassungsschutz arbeiten
kaputtmachen zu lassen."
Antideutsch ist auf indymedia ein gängiges
Synonym für Beiträge, die sich gegen Antisemitismus richten, der Begriff hat
sich so längst vom Umfeld der Bahamas-Gruppe emanzipiert und zu seiner
ureigensten Bedeutung zurückgefunden. Das Gegenteil heißt zwar noch nicht
volkstreu, eher traditionsverpflichtete Deutschnationale sind auf indymedia aber
bereits eindeutig zu identifizieren, z.B. der Kalte Krieger, der Bescheid weiß,
wer "Judas verrecke" und "Solidarität mit Palästina" auf das KZ-Mahnmal in Ahlem
gesprüht hat: "solche Aktionen sind, wie früher zur Zeit der DDR, meist von
linken Aktivisten geplant und durchgeführt, um die "untätige" Regierung und das
böse Volk im In- und Ausland in ein äusserst schlechtes Licht zu rücken." Oder
Peter Gabler aus 76891 Bruchweiler: "Leider gibt es in der ganzen 1627jährigen
deutschen Geschichte nur einen einzigsten Hoffnungsschimmer der die Zeit von
1918-48 umfaßt und zu unserem Elend abermals im Krieg endete."
Peter hat bestimmt nichts gegen Juden.
"Dieses Volk wird skrupellos mißbraucht ohne es zu merken, kann dies wirklich
sein? Ich glaube ja da sie schon lange dem Götzen Geld huldigen und dies ihrer
eigenen Grundüberzeugung und Religion widerspricht." Ein nicht zu
unterschätzender Vorzug offener Internetforen ist die Anonymität. Ob jemand
Wursthaare, Glatze oder Seitenscheitel, rote oder weiße Schnürsenkel trägt,
Palotuch oder Lodenmantel - die Codes, mit deren Hilfe Jugendliche und solche,
die es bleiben wollen, sich gegeneinander und die ältere Generation abgrenzen
fallen unter den Tisch, und es kann endlich zueinander finden was zusammen
gehört. "wicki", dem es einfiel, Peters Text "Nazi-Kacke" zu schimpfen, fing
sich sofort vier Abfuhren ein. "Dieser Artikel wurde weder bekifft noch in
braunem Gedankengut verfaßt. Eure Reaktionen erschüttern mich. Das mit dem
Götzen Geld wiederspricht ganz klar der Überzeugung sich kein anzubetendes
Bildnis zu machen." So läßt sich eine Menge voneinander lernen, und die ersten
Erfolge zeichnen sich bereits ab.
Reaktionen eines "Antinationalisten" auf die Rede des israelischen
Botschafters in Frankfurt: "1. Sehr geehrter Herr Präsident des
Zentralrates, Paul Spiegel Aha, in Anwesenheit des Innenministers (nicht
dass ich für den was anderes über hätte als Dresche) wird also der
Repräsentant einer religiösen Minderheit zuerst gegrüßt. Ist das
diplomatisches Protokoll? Wohl kaum! ... 3. verehrte Mitglieder der
jüdischen Gemeinde Sind wohl mehr Juden als Nichtjuden in Frankfurt. In
Verachtung der Realität wird die Majorität erneut beleidigt."
Beiträge, die für qualitativ besonders
hochwertig befunden werden, legt indymedia.de auf einen exponierten Platz der
Startseite: "Die Artikel in der Mittelspalte nennen wir Feature. Das sind
Beiträge, die einen guten Überblick über ein wichtiges Thema geben." Da freuen
sich dann z.B. "maroto und suha bechara": "Militante Aktionen sind seit Beginn
der Intifada fester Bestandteil des Widerstandes gegen die anhaltende
Okkupation. Spektakulär war vor allem das Attentat auf einen rechtsradikalen
Minister Anfang des Jahres (Oktober 2001, T.S.)."
Wer "mehr" erfahren möchte und das link
klickt, findet sich direkt auf der homepage der PFLP/general command wieder und
kann sich anhand der Anschlagserklärung umfassend informieren. Von dem anderen
feature zum Thema geht es direkt zum Palestine Chronicle, wo dann u.a. folgende
Erfolgsmeldung zu lesen ist: "The attack on the Israeli bus near Haifa resulted
in many casualties among Israeli soldiers who were on their way to Jerusalem. At
least ten were killed and 20 more wounded in the attack." Soldaten? Sicher, für
den militanten "Widerstand" ist jeder Israeli ein Soldat und daher ein legitimes
Ziel.
Was hilft es, daß schon das Blättchen,
das einmal in der Woche mit den Supermarktangeboten ins Haus kommt die unbedingt
erforderliche Aufklärung gegen diese Killpropaganda bieten könnte?
indymedia-Fans verschmähen es als "kommerziell" und suchen sich ihre Nachrichten
lieber selbst zusammen. Vereinzelt ist tatsächlich schon die Kritik zu lesen,
die Situation der Menschen in Israel und den besetzten Gebieten interessiere das
gros der user einen Dreck, sie lebten bloß ihre eigenen Projektionen an dem
Konflikt aus. Dabei gibt sich der deutsche Ableger eher noch verdruckst, wer so
richtig internationalistisch auf die Kacke hauen will findet auf indymedia
palestine eindeutig die günstigeren Bedingungen vor.
Palästinensische Friedensgruppen sind da
zwar so rar wie die Nadel im Heuhaufen, dafür wird ein Gutteil der Seite von
kanadischen Geschichtsrevisionisten bestritten, die sich für "Israeli" die
neckische Bezeichnung "ZIONAZI" ausgedacht haben. Schwedische Autonome schicken
Fotos vom Zermusen unerwünschter Früchtchen im Supermarkt, und eine Ulrike
Meinhof Martyr Brigade konstatiert: "In the 70s, euro radicals carried out REAL
solidarity actions for the Palestine cause, why not now?". indymedia palestine
bietet nebenbei wohl die umfangreichste Sammlung antisemitischer
Gebrauchsgraphik, die derzeit im Netz verfügbar ist, "open publishing" machts
möglich.
Großteils sind das tatsächlich noch die
Originale aus den dreißigern und frühen vierzigern, Anleitungen zum Erkennen des
Untermenschen oder auch SS-Ikonen, die frech in "IDF" umgelogen wurden.
"durruti" ist einer der vielen, die einfach ein Führer-Porträt ausgekramt und es
"Sharon" getauft haben. Unbestreitbarer Favorit ist aber der brasilianische
Cartoonist Latuff, dem es streckenweise gelungen ist, eine eigenständige
Ästhetik zu entwickeln. Seine Serie "I am palestinian" ist die ideale
Illustration der weltweiten Intifada. Alle haben gefälligst PalästinenserIn zu
sein. Der jüdische Junge bildet trotzdem eine Ausnahme: während alle anderen
Identifikationsfiguren, der Schwarze in den Händen des Ku-Klux-Klan, der
erschossene Indianerkrieger, die indigena mit dem Regierungssoldaten ganz
konkret ermordet werden oder doch direkt davon bedroht sind, steht er nur
verloren vor der Ghettomauer wie im falschen Hausflur. Kein Wunder: eine
palästinensische Rauchwolke über
Majdanek wäre die Spur zu dick aufgetragen gewesen, die das nützliche
Bild in seine Demontage hätte umschlagen lassen. Auf indymedia.de ist
Latuff nicht mehr gerne gesehen, auch wenn einige ältere postings noch
zu finden sind. Es war unter anderem ein Schriftwechsel mit diesem
Zeichner zum Vorwurf des Antisemitismus, der für die Aktion Kinder des
Holocaust den Ausschlag gab, den Schweizer Ableger des Netzwerks
anzuzeigen. Indymedia Schweiz entschied sich daraufhin die Seite zu
schließen, ist aber mittlerweile wieder online.
Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 269, 31. Jg., Mai 2002.
http://www.graswurzel.net
hagalil.com / 25-04-2002 |