DER FALL SREBRENICA VOR DEM INTERNATIONALEN STRAFGERICHTSHOF
Kein kurzer
Prozess für General Radislav Krstic
Die Weltöffentlichkeit blickt auf Slobodan
Milosevic, während gleichzeitig in Den Haag der Prozess über die
Ermordung von mehreren tausend muslimischen Bosniern zu Ende geht. Das
Geschehen in Srebrenica im Juli 1995 stellt zweifellos das größte
"Verbrechen gegen die Menschlichkeit" dar, das seit dem Ende des Zweiten
Weltkriegs auf europäischem Boden verübt wurde. Doch obwohl bis heute
neue Massengräber entdeckt werden, blieben die Beweisaufnahme wie die
Plädoyers der Anklage und der Verteidigung in der internationalen
Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet.
Von CAROLINE
FETSCHER
Jeder Mensch hat ein Recht auf
Verteidigung, auch ein angeklagter Massenmörder und Kriegsverbrecher.
Auch Radislav Krstic, der am 2. Dezember 1998 von Soldaten der
SFOR-Truppen festgenommen worden war. Tags darauf saß er im Flugzeug
nach Den Haag. Dort findet er sich als Untersuchungshäftling des 1993
gegründeten International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia
(ICTY)(1), zusammen mit 38 anderen Angeklagten. Das Sondergefängnis nahe
dem Badeort Scheveningen wurde erst an diesem 29. Juni 2001, als im
Schutz der Nacht der Angeklagte Slobodan Milosevic mit dem Hubschrauber
abgesetzt wurde, in aller Welt zu einem politischen Topos. Doch während
es um Milosevic laut wurde, blieb es still um den "Srebrenica"-Prozess
gegen General Radislav Krstic, den bisher gravierendsten Fall, der vor
dem ICTY verhandelt wurde. Vom 26. bis 29. Juni hielten Anklage und
Verteidigung ihre Schlussplädoyers.
Auf dem Deckblatt der
Anklageschrift IT-98-333(2) gegen Krstic steht ein lakonischer
Untertitel: "Srebrenica". Das Wort bedeutet "Silberstadt". Vor dem
Bosnienkrieg lebten hier etwa 9 000 Menschen, zu 70 Prozent Muslime. Im
Zentrum der Altstadt stand eine Moschee. Als im April 1992 die
jugoslawische Armee und paramilitärische serbische Kämpfer angriffen,
konnten sich die Muslime zunächst erfolgreich behaupten. Es fanden auch
viele Menschen aus der Umgebung Zuflucht, die Enklave wuchs auf 60 000
Bewohner. Als bosnische Serben mit Panzern und Artillerie vorrückten,
erklärte ein französischer UN-General die Enklave Mitte März zum
Schutzgebiet unter UNO-Flagge. Eine UN-Resolution erklärte Srebrenica,
Zepa und Gorazde zu "safe areas". 1995 war ein niederländisches
Bataillon in Srebrenica stationiert. Doch der Schutz der UN versagte.
Seitdem steht der Name des Ortes auch für eines der dunkelsten Kapitel
der UNO-Geschichte.
Am 6. Juli 1995 begann die
bosnisch-serbische Armee ihre "Operation Krivaja". 15 000 Muslime
versuchten zu fliehen. Tausende von ihnen ergaben sich am 11. Juli.
Weitere 25 000 bis 35 000 Muslime blieben in Potocari und in den Wäldern
der Umgebung, meist Frauen, Kinder und ältere Männer. Am 12. Juli 1995
begann die serbische Armee, unterstützt von paramilitärischen Einheiten,
die Muslime der gesamten Region in Bussen und Lastwagen zu deportieren.
Das serbische Militär lockte die umherirrenden Flüchtenden aus den
Wäldern, indem sie gestohlene UN-Fahrzeuge, UN-Uniformen und Blauhelme
einsetzten oder Gefangene zwangen, den anderen zuzurufen, sie sollten
herauskommen, es drohe keine Gefahr.
Der logistische Aufwand muss
enorm gewesen sein: Tausende versprengter, verängstigter Menschen
mussten in Fahrzeuge gezwungen und dann in große Räume eingesperrt
werden, um sie schließlich - in Gruppen von fünf oder zehn aufgeteilt -
zu erschießen oder sogar zu enthaupten. Alle Orte, an denen diese
Verbrechen geschahen, liegen in der Region Srebrenica: der UN-Stützpunkt
Potocari, das Warenlager in Kravica, Schulhäuser in Bratunac, eine Wiese
bei Tisca, der Grbavci-Schulkomplex bei Orahovac/Lazete, der so genannte
Damm in der Nähe von Petkovi, das Cerska-Tal, Schule und Kulturzentrum
von Pilica, das Militärgelände von Branjevo, ein abgelegenes Feld bei
Kozluk.
Die Anklage konnte nachweisen,
dass die Exekutionen von Einheiten des Drina-Corps durchgeführt wurden.
Am Abend des 13. Juli, so die Anklage, ging das Kommando des Drina-Corps
von Milenko Zivanovic auf General Radislav Krstic über. Die Übergabe
fand im Hauptquartier der Einheit in Vlasenica statt. Offiziell
bestätigt wird der Wechsel durch eine dem Gericht vorliegende Order von
Präsident Karadzic vom 14. Juli 1995. Krstic Rolle in dem Mordplan wurde
laut Anklage auf einer Nachtsitzung im Hotel Fontana in Bratunac
beschlossen, wo Krstic mit Mladic gesehen wurde. Das Treffen wird durch
Videos, Zeugen und Rechnungen belegt. Krstic selbst sagte unter Eid aus,
er sei erst am 20. oder 21. Juli in seiner Position bestätigt worden. Er
konnte dafür jedoch keinen Zeugen präsentieren.
Am 12. Juli begannen Soldaten,
Paramilitärs und Polizisten, die Flüchtenden in der Region Srebrenica
zusammenzutreiben und die Männer von den Frauen zu trennen. Frauen und
kleinere Kinder karrten sie an die Grenze des Niemandslandes, wo das von
Muslimen gehaltene Gebiet begann, und ließen sie laufen. Einzelne
Mädchen und Frauen wurden vergewaltigt und getötet. Die Männer und
männlichen Jugendlichen wurden an Sammelplätzen abgeliefert, in
Sporthallen, Schulen, Hangars oder Stadien.
Zwischen dem 12. und dem 20. Juli
1995 wurden 7 500 Menschen systematisch ermordet. Diese Zahl ist eine
konservative Schätzung der Ermittler, meint Ankläger Mark Harmond: "Es
könnten auch bis zu 2 500 Tote mehr sein." An den Sammelplätzen häuften
sich Berge von Bündeln, Kleidern, Pässen, Ferienfotos und Reisetaschen,
wie Müll. "Das werden die nicht mehr brauchen", meinte ein bosnischer
Serbe vor Ort nach Aussage eines niederländischen UNO-Soldaten.
Die "Operation Krivaja 95" nahm
um den 12. Juli 1995 herum die Form eines Mordplanes an. Und dieser
verlangt eine ausgeklügelte Logistik. Bei der Durchführung des Mordplans
habe General Radislav Krstic, so die Anklage, als Kommandeur des
Drina-Corps eine zentrale Rolle gespielt. Weder er noch General Mladic
oder Karadzic haben damit gerechnet, dass ihre Unterschriften Jahre
später vergrößert auf den Bildschirmen eines Gerichtssaales im
friedlichen Den Haag erscheinen würden.
Laut Anklageschrift soll Krstic
vom 11. Juli 1995 bis zum 1. November 1995 in Srebrenica und Umgebung
schwerste Kriegsverbrechen begangen haben. Elf Monate nach seinem
Haftantritt, am 25. November 1999, plädierte der Angeklagte in allen
Anklagepunkten "not guilty". Nicht schuldig des Genozids und der
Mittäterschaft am Genozid, des Massenmordes und des Mordes, der
Verfolgung und der Deportation, der Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Krstic sagte aus, er sei nicht für Srebrenica zuständig gewesen, habe
erst Monate später von den Morden erfahren und auch von den
Deportationen keine Kenntnis gehabt.
Der Angeklagte ist heute 53 Jahre
alt. Vor Gericht wirkt er mit seinem angegrauten Haar und der stets
gedrückten Körperhaltung deutlich älter. Achtmal lebenslänglich fordert
Ankläger Mark Harmon. Die Verteidigung plädiert auf Freispruch. Der
Prozess gegen Krstic begann am 13. April 2000, knapp fünf Jahre nach den
Ereignissen von Srebrenica. Fünfzehn Monate lang war "General Krstic",
wie ihn alle vor Gericht ansprechen, mit den Aussagen Überlebender, mit
schriftlichen Dokumenten, mit Fotos und Filmen konfrontiert.
Von den Überlebenden ist bis
heute keine einzige Person nach Srebrencia zurückgekehrt. Wie die
bosnische Sozialarbeiterin Teufika Ibrahamefendic als Zeugin der Anklage
schildert, leben sie als Flüchtlinge meist in elenden Verhältnissen und
sind ungewöhnlich stark traumatisiert. Eine der Frauen hat durch das
Massaker 56 männliche Angehörige verloren. Teufika Ibrahamefendic hat an
der Columbia University eine Ausbildung zur Spezialistin für
Kriegstraumata absolviert. Vor dem Tribunal schilderte sie ein
"Srebrenica-Syndrom", das sie bei den Überlebenden ausgemacht hat und
das sich erheblich von anderen Kriegstraumata unterscheide. Es mache die
Menschen unfähig, sich aus der Vergangenheit zu lösen, solange die
Jungen und Männer verschwunden bleiben. Das Tribunal sei für viele die
eine große Hoffnung auf Anerkennung ihrer Leiden und auf eine gerechte
Strafe für die Täter. Das Urteil des Tribunals unter Vorsitz des
portugiesischen Richters Almiro Rodrigues soll bis Anfang August
ergehen.
Als "aberwitzig" empfindet Julia
Bogoeva von der Belgrader Nachrichtenagentur Beta die Diskrepanz
zwischen dem Medieninteresse an der Auslieferung von Milosevic und der
geringen Aufmerksamkeit für den Prozess gegen Krstic: "Gerade ihr in
Deutschland müsstet euch doch für ein Tribunal interessieren, das seit
Nürnberg das erste in Europa ist." Bogoeva berichtet seit drei Jahren
aus Den Haag. Sie gehört zu den wenigen beim ICTY akkreditierten
Journalisten, die in den Presseräumen des Gebäudes am Churchillplein
einen Schreibtisch haben.
Unbehelligt vom Medienwahn um
Milosevic ging der letzte Prozesstag im Fall Kristic seinen ruhigen,
fast rituellen Gang. Auch jetzt waren im hochgesicherten
Verhandlungssaal des ICTY nur die wenigen vertrauten Pressevertreter
anwesend. Verbrecher wie Krstic verdienten keine Verteidigung, bekommen
die Anwälte der Angeklagten oft zu hören, sondern "kurzen Prozess". Doch
das ICTY sorgt für lange Prozesse, und es verkündet lange Haftstrafen
(sieht man von den bisherigen beiden Freisprüchen ab). Verbüßt werden
diese Strafen nicht in Den Haag, sondern in anderen UN-Mitgliedsländern,
derzeit in Finnland, Norwegen, Spanien und Deutschland. Vier Angeklagte
wurden bereits rechtskräftig verurteilt, fünfzehn befinden sich noch auf
freiem Fuß - darunter Ratko Mladic und Radovan Karadzic, in deren
Anklageschriften(3) ebenfalls der Name Srebrenica auftaucht.
Lang sind die Prozesse, weil die
Beweiswege verschlungen sind. "Kriminelle führen im Allgemeinen kein
Tagebuch", bemerkt Ankläger Mark Harmon. Die Beweisführung ist das
Zusammenfügen eines großen Mosaiks aus sehr kleinen Steinchen. Dennoch
gibt es Worte, Texte, die leitmotivisch auf die Taten verweisen. Im März
1995 hatte Radovan Karadzic, Oberbefehlshaber der Armee der Republika
Srpska (VRA) die "Direktive 7" erteilt. Darin wies er insbesondere das
Drina-Corps an, "mittels geplanter und durchdachter Kampfhandlungen eine
unerträgliche Lage völliger Unsicherheit und ohne Hoffnung auf Überleben
oder Leben bei den Bewohnern von Srebrenica und Zepa herbeizuführen."
Als "Exhibit 425" liegt die Direktive den Richtern vor. Karadzic
befiehlt darin außerdem, die Eingeschlossenen von der Hilfe der
Unprofor-Einheiten abzuschneiden.
"Operation Krivaja 95" war die
unmittelbare Umsetzung dieser Direktive, und Srebrenica lag in der
Zuständigkeitszone des Drina-Corps, abgekürzt DCAOR (Drina Corps Area of
Responsibility). Aber Mark Harmon muss für die Anklage, für das Office
of the Prosecutor (OTP) nachweisen, dass Krstic die Vorgänge persönlich
gekannt, gebilligt, unterstützt und sich aktiv an ihnen beteiligt hat.
Das fehlende Tagebuch bleibt eine
Leerstelle in der Mitte des Mosaiks - doch das Bild drumherum wird immer
schärfer. Es zeigt, neben Mladic, den Angeklagten.( )Die Anklage musste
das ganze komplexe Material ermitteln und analysieren:( )die
Kommandostruktur der serbischen Armee-Einheiten, die Befehle selbst, und
zumal den in verschlüsselten Botschaften dokumentierten Plan, die
männlichen Muslime durch eine Serie von Massenexekutionen auszulöschen.
Sie muss Krstic "individuelle, strafrechtlich relevante
Verantwortung"(4) für sein Handeln und die Taten seiner Untergebenen
nachweisen. Was sie zutage gefördert hat, ist für General Krstic
ziemlich niederschmetternd. "Ich weiß nichts von der Ankunft von
Bussen", hatte Krstic dem Anklagevertreter McCloskey geantwortet, "in
keiner Weise hatte ich damit zu tun, Busse zu besorgen." Mark Harmon
hält ihm ein abgehörtes Telefongespräch mit dem für Transportmittel
zuständigen Soldaten Krsmanovic vor, dem Krstic aufträgt, fünfzig Busse
in den Ort Bratunac zu schicken: "Stellen Sie sicher, dass das passiert.
Dies ist ein Befehl!"
Mit trockenem Nachdruck weist
Harmon die Richter immer wieder darauf hin: "Er hat Sie unter Eid
belogen." Auch die Behauptung des Angeklagten, er sei an den Tagen der
Exekutionen nicht in Potocari gewesen, kann die Anklage widerlegen.
Harmon führt ein gefilmtes Interview vor, in dem Krstic einem
Journalisten in Potocari erklärt: "Wir garantieren für die Sicherheit
dieser Flüchtlinge." Im Hintergrund sind die Busse und Lastwagen zu
sehen. Zur selben Zeit lagen schon die Tausende von Augenbinden und
Handfesseln bereit, die forensische Teams des ICTY später in den Gräbern
gefunden haben. Die Fotos dieser Beweismittel wirken eher archäologisch
als kriminologisch. Sie erscheinen auch auf dem Bildschirm vor Krstic,
der es sich nicht leisten kann, davor die Augen zu verschließen.
Das Gesicht von Krstic zeigt
während der Schlussplädoyers abwechselnd Apathie und Angst. Reue, sagt
der Ankläger, habe Krstic in diesen Monaten nicht gezeigt. Aber einmal,
als im Schlussplädoyer das Video die Zeugenaussage einer Mutter zeigt,
die nicht verstehen kann, dass ihr der Mann und beide Söhne entrissen
wurden, wird Krstic nervös. Seine Lider zucken. Er scheint flüchten zu
wollen.
"Ich kann nicht glauben, dass
Menschen solche Dinge tun", sagt die Frau. "Ich sehe die Hände meines
kleinen Sohnes, wie er Erdbeeren pflückt. Und wie er Bücher liest. Am
Morgen verdecke ich meine Augen, um nicht die anderen Kinder zu sehen,
wie sie zur Schule laufen, und die Ehemänner, wie sie zur Arbeit gehen."
Sie weint. Der Richter unterbricht und sagt: "Nehmen Sie sich Zeit. Wir
sind hier. Wir hören Ihnen zu." Sie fängt sich wieder. Und als gebe es
für sie immer noch den Glauben an seine Autorität, fleht sie Krstic an:
"Ich appelliere an Sie, Herr Krstic, sagen Sie mir, gibt es nicht
wenigstens Hoffnung für meinen kleineren Jungen?" Das lässt niemanden im
Saal unberührt, offenkundig auch Krstic nicht.
Viele der Männer und Jungen von
Srebrenica werden verschollen bleiben. Vor wenigen Tagen wurde bekannt,
dass in der Nähe von Zvornik ein weiteres Massengrab mit 250 Toten
gefunden wurde. Nie wird das Office of the Prosecutor alle Morde
aufdecken und alle Toten identifizieren können. Dafür fehlen auch die
Mittel und das Personal. Es wäre in Jahrzehnten nicht zu leisten.
Umso wichtiger sind einzelne
Zeugen wie Drazen Erdemovic. Das Drina-Corps bestand aus etwa 15 000
Soldaten der Infanteriebrigaden Zvornik, Milici und Bratunac, die von
zahlreichen Zeugen an den Tatorten gesehen wurden. Beteiligt waren auch
örtliche Polizeiformationen und die 10. Sabotage-Einheit. Der bosnische
Kroate Drazen Erdemovic von dieser Einheit, im Zivilberuf Schlosser,
bekannte sich am 14. Januar 1998 schuldig. Am 22. Mai 2000 sagte er aus,
in Branjevo an den Erschießungen von mindestens 1 000 Männern
teilgenommen zu haben. Es würden Busse mit Zivilisten aus Srebrenica
kommen, hatte ihm ein Kamerad gesagt, die sollten sie erschießen. Als er
vor den Männern stand, die ihm den Rücken zukehrten, habe er sich
weigern wollen: Er sei "keine Killer-Maschine". Man habe ihm
geantwortet: "Wenn du es nicht tun willst, stell dich zu denen." Die
Soldaten zwangen sogar alle Busfahrer, wenigstens einmal zu schießen.
Alle sollten Mittäter sein.
Der Kronzeuge Erdemovic ist heute
wieder frei. "Am bewegendsten ist es, wenn sich Angeklagte schuldig
bekennen", sagt der Journalist Mirko Klarin. Der Chefredakteur der
jugoslawischen Nachrichtenagentur Sense und Mitarbeiter des Institute
for War and Peace Reporting (IWPR) gilt als einer der Initiatoren des
ICTY. Klarin hat den Prozess permanent verfolgt: "Fünfmal hintereinander
sagte Erdemovic, unter Tränen: ,Ich bin schuldig, schuldig . . .` Solche
Momente sind nicht nur emotional bedeutsam. Sie sind entscheidend.
Niemand kann mehr leugnen, was geschehen ist."(5)
Von Paketen, die
es zu verschicken gilt
DRAZEN ERDEMOVIC Aussage
war kostbar, weil uncodiert. Vieles hingegen, was die Ankläger
vorfanden, mussten sie entschlüsseln. Von "parcels", Paketen, ist in den
abgehörten Telefongesprächen und Funkmeldungen die Rede. "Parcels", die
es zu verschicken gilt. Harmon schließt aus einem Versprecher - "the
people, I mean, the parcels . . ." -, dass damit Menschen, Muslime,
gemeint waren. Und wenn in Zeiten der Benzin-Knappheit ein Untergebener
ohne Angabe von Gründen 500 Liter Treibstoff bewilligt bekommt, zieht
Harmon den Schluss, dass das Benzin für die Busse verwendet wurde, die
Verschleppte an die Stätten ihrer Exekution brachten.
Der "Konvoi-Terror", wie ein
holländischer Duchtbat-Zeuge(6) es nannte, herrschte in diesem Juli 1995
in der ganzen Region. Über das ungeheuerliche Geschehen konnten bis
heute - außer den Planern und Tätern selbst - nur die Anklagevertreter
und die Zuhörer des Haager Prozesses einen genauen Überblick gewinnen,
jedenfalls einen genaueren als die holländischen Blauhelme, die in
Srebrenica dabei waren: "Es gelang der bosnisch-serbischen Armee, den
Holländern Augen und Ohren zu stehlen", erklärt Ankläger Harmon, dem
zuweilen der persönliche Abscheu über die Taten anzumerken ist. Bis ins
kleinste Glied der Befehlskette hat die Anklage die Mosaiksteinchen auf
die Landkarte der Region platziert. Kristic Anwälte versuchen, einzelne
Steine wieder aus dem Mosaik zu entfernen. Krstic sei nicht an den
Tatorten gewesen, als die Morde geschahen, behaupten sie, sondern in
seinem Hauptquartier in Zepa. Er habe nichts gesehen, gewusst, getan.
Doch gegen Harmons Beweise haben sie es schwer.
Am Ende unternehmen die
Verteidiger den verzweifelten Versuch, zumindest die schwerste Anklage
zu entkräften: Genozid. Wenn das Gericht schon nicht glaube, dass Krstic
ein Unbeteiligter war, dann könne man die Sache doch so sehen: Gewiss
seien hier schreckliche Morde im Rahmen eines Kriegsgeschehens
geschehen. Aber das Töten waffenfähiger Männer sei nicht Völkermord,
also Genozid. Verteidiger Tomislav Visnjic argumentiert, "Genozid" sei
das Vorhaben, die "gesamte Bevölkerung" einer ethnisch oder religiös
definierten Gruppe auszulöschen, "wie in Auschwitz und Ruanda". Hier, in
Srebrenica, seien die Kinder und Frauen in der Mehrheit entkommen. Mark
Harmon hält dagegen, dass es um die Zerstörung des "sozialen Gewebes"
der Gruppe ginge, die patriarchal strukturiert ist. Nimmt man einer
solchen Gesellschaft die Männer, hat man ihr Rückgrat gebrochen. Gerade
Krstic, der in einer muslimischen Nachbarschaft groß wurde, sei das
vollkommen bewusst. Harmon verweist auch auf die rassistische Sprache
vieler Dokumente, in denen etwa von "Türken" statt von muslimischen
Bosniern die Rede ist.
Harte, polemische Worte seien im
Krieg nichts Neues, kontert die Verteidigung. Zum Beweis führen die
Anwälte dem Gericht zwei historische Filmausschnitte vor: Eine Rede
Churchills gegen Hitler, und ein Äußerung des Nato-Oberbefehlshabers im
Kosovokrieg, Wesley Clark, über Milosevic. Beide sprechen vom
"Eliminieren" der Gegner. Die Analogie bleibt wenig überzeugend - beide
Feldherren erwähnen einen klar benannten, individuellen Feind, nicht
eine rassisch definierte Gruppe.
"Die Anklage und wir kämpfen mit
ungleichen Waffen", klagt Verteidiger Visnjic im Gespräch. Zwar seien
die prozeduralen Abläufe seit etwa einem Jahr besser geworden. Aber
"davor bekamen wir Beweismaterial vom OTP oft nicht rechtzeitig
vorgelegt, um uns vorbereiten zu können. Zudem sind wir nur zwei
Verteidiger, die Teams der Anklage bestehen aus drei Juristen und zwei
Case-Managern."
Visnjic, ein Mann um die vierzig,
arbeitet in einer Belgrader Kanzlei. "Wie kann einer das tun?", hört man
oft. "Wie kann er diesen Massenmörder verteidigen?" Am ICTY aber werden
gute Verteidiger von Richtern wie Anklägern durchaus respektiert und
geschätzt. "Es belastet mich nicht, Verteidiger von Krstic zu sein",
erklärt Tomislav Visnjic. Er versuche ja nur, seine Arbeit im Sinne des
Mandanten zu leisten, so gut er kann. Von Srebrenica wusste Visnjic
"kaum die Hälfte". Jetzt, fügt er mit leiser Trauer hinzu, "weiß ich
mehr, als ich je wissen wollte".
Aber was aus Menschen Mörder
macht, warum und wie das geschieht, darauf habe er keine Antwort
gefunden: "Ich weiß nicht, wo der entscheidende Hebel ist, warum manche
sagen: Halt, da mache ich nicht mit. Und andere sagen das nicht." Aber
emotional abgehärteter sei er geworden, mit der Zeit. Wahrscheinlich
geht es ihm in dieser Hinsicht wie vielen am ICTY. Und doch gab es einen
Zeugen, dessen Bericht er sich nicht entziehen konnte: "Zeuge O. Er war
jung. Ein Überlebender des Massakers am Damm."
Zeuge O gab Auskunft von etwas,
das die Täter für immer zu verbergen hofften. Den Gerichtssaal betrat er
anonym. Zu Beginn seiner Vernehmung musste er seinen Namen auf einem
Blatt Papier identifizieren. "Das ist mein Name", sagte er. Der
Angeklagte und seine Anwälte konnten ihn sehen, aber sie werden dem Mann
kaum jemals wieder begegnen. Der Zeuge O, Jahrgang 1978, ging in
Srebrenica zur Schule, ehe der Terror einsetzte. Die Fernsehmonitore,
die alle Verfahren aufzeichnen und an jedem Platz im Saal installiert
sind, zeigten sein Gesicht wie hinter einem Schleier. Vor der Glaswand,
die den Zuschauerraum abtrennt, gingen die beigen Sichtblenden nieder.
Gäbe es niemanden wie den Zeugen
O, wüsste kein anderer, was an den Tagen am "Damm" bei Petkovi
passierte. Über tausend Männer und Jungen wurden dorthin gekarrt und
erschossen. Die Aussage des Zeugen vom 13. April 2000(7 )klingt wie ein
Protokoll aus der Hölle. Er berichtet zuerst von der Deportation in
einem Lastwagen.
"Wir fielen übereinander. Es
herrschte Chaos. [...] Als wir nach Bratunac kamen, jedenfalls denke
ich, dass es Bratunac war, weil ich Lichter in Wohnungen sah, hielt der
Lastwagen irgendwo im Ort. Die Leute riefen nach Wasser, sie schrien:
Gebt uns etwas Wasser! Wir lagen, lehnten dicht aneinander. Mein Körper
war taub. Ich fühlte nichts mehr. Als die Leute nach Wasser riefen,
schlug jemand, wahrscheinlich einer der Soldaten, aber es war dunkel und
ich konnte ihn nicht sehen, von außen an den Lastwagen, wahrscheinlich
mit einem Gewehrkolben, und sagte: Was wollt ihr, ihr Balijas?(8 )Dann
verfluchten sie unsere Balija-Mütter und sagten noch andere Sachen. Ich
habe nicht auf alles achten können. Wir verbrachten die ganze Nacht im
Lastwagen. Ich glaube, ich bin irgendwann eingeschlafen."
Anderntags wurden die Männer in
dem Lastwagen weitergefahren, durch ein Loch in der Stoffplane des
Wagens sah Zeuge O nach draußen: "Ich sah (...), dass da Leute waren,
Kinder auf Fahrrädern und Frauen. [...] Ich sah einige Menschen in der
Drina baden, unter der Brücke. Leute liefen an dem Lastwagen vorüber,
und von Zeit zu Zeit verfluchten manche unsere Balija-Mütter. [...] Wir
fuhren durch Zvornik und gelangten nach Karakaj. Ich wusste, dass es
eine Straße nach Bijeljina und Tuzla gab, und ich nahm an, [...] dass
man uns in ein Lager in Bijeljina oder Batkovic brachte. Denn wenn sie
die Leute töten wollten, hätten sie sie nicht transportiert."
Bald wurde ihnen klar, dass das
nicht stimmte. Sie wurden in ein Sammellager in Petkovici gebracht, dort
waren sie so durstig, dass sie den eigenen Urin tranken. Das Sammellager
war eine Schule. Jeder, der den Bus verließ, wurde mit einem
Gewehrkolben geschlagen: "Als wir das Schulgebäude betraten, ging das
Schlagen weiter. Wer geschlagen wurde, ging hinein. [...] Es waren ein
paar Soldaten dort, aber ich weiß nicht wie viele. Einer von ihnen
fragte: Wessen Land ist das hier? Und er antwortete selbst: Das ist
serbisches Land. Das war es immer und wird es immer sein. Und er sagte:
Sprecht mir nach, Balija", und wir mussten wiederholen: "Das ist
serbisches Land. Das war es immer und wird es immer sein."
An dieser Stelle unterbricht die
Anklage die Befragung des erschöpften Zeugen. Der berichtet später
weiter, in der Schule habe es weder Essen noch Wasser, noch Toiletten
gegeben, noch genug Luft zum Atmen, und wenn jemand versuchte, ein
Fenster zu öffnen, sei er von außen beschossen worden. Der Raum war
voller Exkremente. Den Männern und Jungen wurden die Hände auf den
Rücken gebunden. Bei Dunkelheit wurden sie abtransportiert, zum
Exekutionsort, einem Feld bei Petkovci.
"Wir waren sehr durstig. [...]
Einige Leute riefen: Gebt uns Wasser, bevor ihr uns erschießt. Es tat
mir sehr leid, dass ich durstig sterben würde, und ich versuchte mich
zwischen den anderen zu verstecken, so lange ich konnte, wie alle andern
es taten. Ich wollte einfach noch eine oder zwei Sekunden leben. Als ich
drankam, sprang ich heraus [aus dem Lastwagen], ich glaube mit vier
anderen. Ich fühlte Steine unter meinen Füßen. Es tat weh. [...] Ich sah
Reihen von ermordeten Menschen. Es sah aus, als ob sie Reihe um Reihe
hingelegt worden wären. (...) Jemand sagte: Legt euch hin. Und als die
Ersten hinfielen, begann das Schießen. Ich fiel und weiß nicht, was
geschah. Ich dachte nichts. Ich hatte mir nicht vorgenommen, zuerst
hinzufallen um zu überleben. Ich dachte nur, das ist das Ende."
Zeuge O berichtet ruhig und
gefasst. Er überlebte wie durch ein Wunder. Bis heute hat er
Munitionssplitter im Körper. Einen anderen Überlebenden, der ihm zu
entkommen half, will er nicht beim Namen nennen. Er berichtet: "Als sie
aufgehört hatten, hörte ich jemanden sagen, alle Toten sollten
inspiziert werden. Ich glaube, der Name, der genannt wurde, war Jovo. Es
wurde gesagt, dass alle Toten inspiziert werden sollten, und es wurde
ihnen gesagt, wenn sie einen warmen Körper finden, sollen sie noch eine
Kugel in den Kopf schießen. Und dieser Mann, ich weiß nicht, ob es Jovo
war oder ein anderer, der sagte: ,Ich glaube, all die Motherfuckers sind
tot.' [...] Ich weiß nicht, wohin die Soldaten gingen, aber sie lachten.
Manchmal hörte man einen Schuss. Sie erschossen Menschen. [...]
Vielleicht zehn Minuten später oder fünfzehn Minuten später, aber es kam
mir eher lang vor, fing ich an, mich ein wenig umzudrehen. Das kann mir
etwas Kraft gegeben haben [...] und ich begriff, dass ich vielleicht
weggehen könnte. Dass ich vielleicht laufen könnte. Und ich rollte mich
über die Toten. Ich tat das viele Male, bis ich einen Mann fand, der
noch lebte." Mit ihren Zähnen lösten die beiden Überlebenden sich
gegenseitig die Fesseln. Sie schleppten sich durch einen Wald, der
andere trug den Zeugen O, fand Wasser für ihn. Ohne ihn hätte er nicht
überlebt.
Das Transkript der Aussage des
Zeugen O umfasst achtzig Seiten. Auf alle Fragen antwortet er im
gleichen Duktus. Er räumt stets ein, wo er etwas nicht genau gesehen hat
oder sich nicht erinnert, etwa an die Uniformen und die Rangabzeichen
der Soldaten. Das Zeugnis des Mannes weist weit über Srebrenica hinaus.
Es löscht den Ruf nach Rache, indem es nur ein Entsetzen ohne Echo
hervorruft.
Richter Rodrigues bedankte sich
bei dem Zeugen mit ungewöhnlichen Worten: "Danke, Zeuge. Sie haben Ihre
Aussage beendet. Sie haben noch viele Jahre Leben vor sich . . . Es gibt
starke, sehr starke Gründe für Sie, weiterzuleben und das Beste aus
Ihrem Leben zu machen, und der Welt, allen Menschen mitzuteilen, dass
sich solche Ereignisse nie wiederholen dürfen."
Das ICTY versteht sich auch als
eine ethische Institution, die der Rache vorbeugt.(9) Allein schon, dass
sie als Zeugen gebraucht werden, gibt den Betroffenen eine reale
Existenz und ist ein Schritt zur Versöhnung. Die Journalistin Julija
Bogoeva war immer wieder beeindruckt von der Würde der Zeugen. "Selten
sind sie bitter, und meistens sehr gefasst."
Als "Zeuge O" am Ende seiner
Aussage von Richter Rodrigues gefragt wurde, ob es noch etwas hinzufügen
möchte, sagte er: "Nach allem, was ich hier gesagt habe und was ich
gesehen habe, konnte ich zu dem Schluss kommen, dass es extrem gut
organisiert war. Es war systematisches Morden. Und die das organisiert
haben, verdienen nicht, in Freiheit zu leben. Und wenn ich das Recht und
den Mut hätte, im Namen der Unschuldigen und der Opfer zu sprechen,
würde ich den Tätern verzeihen, die die Exekutionen ausführten, denn sie
waren in die Irre geleitet."(10)
Fußnoten:
(1 )UN-Sicherheitsrat, Resolutionen 808 und 827. International
Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia,
www.un.org/icty.
(2) Amended Indictment IT-98-33 des ICTY vom 27. Oktober 1999.
Anzufordern bei: ICTY Public Information Services, Churchillplein 1,
2517 JW The Hague, Netherlands.
(3) Anklageerhebungen beim ICTY: IT-95-18/1-I (Karadzic) und IT-95-5-I
(Mladic)
(4) "Individual, criminal responsibility" ist die für eine
Strafverfolgung durch das ICTY verlangte Schuld-Anklage. Der Frage einer
kollektiven Schuld geht das ICTY nicht nach.
(5) Interview mit Dani, Ausgabe 183, 1. Dezember 2000. Auch:
www.ipr.net,
Archiv.
(6 )Dutchbat ist das Kürzel für "Dutch Bataillon". Zahlreiche
Dutchbat-Soldaten sagten vor dem ICTY aus, einige unter Zeugenschutz mit
Pseudonym.
(7) Zeuge O, Aussage im Krstic-Prozess, 13. April 2000, Transkript des
ICTY:
www.un.org/icty/transe33/000413ed.htm, Seiten 2861 bis 2939.
(8) Balija: serbisches Schimpfwort für Muslime.
(9 )Siehe Gary Jonathan Bass, "Stay the Hand of Vengeance. The Politics
of War Crimes Tribunals", Princeton University Press. Princeton and
Oxford 2000.
(10 )Transkript der Zeugenaussage vom 13. April 2000, ICTY-Dokument:
www.un.org/icty/transe33/000413ed. htm.
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01-08-2001 |