Mit dem Tod in der Seele
Frankreichs Linke sind entsetzt und fassungslos: Über den Erfolg Le Pens
und ihr eigenes Versagen. Und wählen Chirac
Von Dorothea Hahn, Paris
Eine weiße Maske über dem
Gesicht. Ein mit Kugelschreiber hastig beschriebenes Schild vor der
Brust: "Ich schäme mich!" So steht der junge Mann in einer lauen
Frühlingsnacht auf der Rue Saint Martin in Paris. "Nie, wirklich nie",
schwört er flüsternd, "habe ich mir vorstellen können, dass in
Frankreich ein Faschist so stark werden könnte." Um ihn herum ist
Schweigen, Ratlosigkeit, Verzweiflung. Hunderte von Menschen, fast alle
unter 25 Jahre jung, haben sich vor dem Hauptquartier des gescheiterten
Lionel Jospin versammelt.
Warum? "Weil wir Franzosen feige
sind. 15 bis 20 Prozent von uns sind feige und egoistisch", sagt Jérôme.
Der 27-jährige Informatiker ist nicht wählen gegangen. Er hat überhaupt
nur einmal gewählt. Das war beim Maastricht-Referendum 1991. Damals hat
er "oui" gestimmt. Heute bedauert er das. "Bitter", versichert er. "Ich
bin Republikaner", sagt er, "aber ich bin gegen Wahlen. Gegen dieses
ganze Theater."
"Jospin hat kein Charisma und er
hat einen miesen Wahlkampf gemacht", hält Fabien dagegen. Der Student
hat den Sozialdemokraten gewählt. Jetzt bemerkt er: "Jospin könnte stolz
auf seine Bilanz sein. Stattdessen ist er als Zentrist in den Wahlkampf
gezogen." "Falsch!", entgegnet der 29-jährige Nuklearphysiker
Guilleaume, "die Sozialisten gehören nicht zum Volk. Finanzminister
Fabius wohnt schick direkt neben dem Panthéon. Und Exminister
Strauss-Kahn kassiert Honorare von 5.000 Franc für eine kleine
Rechtsberatung. Das ist die Elite. Die stehen Chirac näher als dem
Volk." Guilleaume hat seine Stimme der trotzkistischen LCR gegeben. "Ihr
seid naiv", ruft ein älterer Mann, "ihr habt keine Ahnung davon, was
außerhalb eurer Unis und Schulen los ist. Ich bin entlassen. Mein Patron
produziert jetzt in Thailand. Die Sozialisten haben nichts gegen die
Massenentlassungen getan. Sonst hätte ich sie gewählt." Der Mann hat
nicht gewählt und bereut es nicht.
"Ich habe Angst", mischt sich
Malik ein. Er ist 30 und Erzieher, kommt "aus einer
Einwanderungsfamilie", lebt in einer "harten Banlieue" und macht erst
seit drei Jahren von seinem Wahlrecht Gebrauch. Damals hat sich ein
Kumpel von ihm "im Hauseingang unseres Blocks totgespritzt". Damals
merkte er auch, dass man mit Vornamen wie seinem oder als "Mohamed" oder
"Ali" keinen Job findet. "Da kannst du noch so viele Diplome haben." Er
hat Jospin gewählt. Jetzt laufen ihm Tränen übers Gesicht. "In den
nächsten Wochen müssen wir aufpassen, dass es keine Provokationen gibt",
warnt Guilleaume, der Nuklearphysiker, "die Rechtsextremen werden in die
Banlieues gehen, um Autos zu verbrennen. Um ein Gefühl von Unsicherheit
zu erzeugen."
"Tous ensemble, tous ensemble" -
alle gemeinsam -, tönt ein Ruf durch die laue Nacht. Ein paar Dutzend
junge Leute laufen durch die Straßen. Sie schwingen rote Fahnen. "Auf in
die Arbeitervorstädte!" Die Diskutanten vor dem Hauptquartier der PS
schauen schweigend zu. "Das sind Linksradikale, die sind mitschuldig",
sagt ein älterer Mann. An diesem Abend denkt er "unablässig an den 30.
Januar 1933 in Deutschland". Michel, arbeitsloser Ingenieur, ist
geläutertes KP-Mitglied, "nie wieder Stalinismus". Er hat Jospin
gewählt. Am 5. Mai wird er zum ersten Mal rechts wählen. "Mit dem Tod in
der Seele" wird er für Chirac stimmen. "Wenn ich die Wahl zwischen einem
Betrüger und einem Faschisten habe, wähle ich den Betrüger."
Gegen Mitternacht strömen die
jungen Leute in Richtung Bastille. Auf dem Platz hat sich die Generation
vor ihnen vor 21 Jahren versammelt, zum Freudenfest nach dem Wahlsieg
von Mitterrand. Die Feiernden hatten die Geschichte studiert, die Dritte
Welt und die Revolution. Sie wollten Frankreich verändern. Dieses Mal
geht es darum, das Schlimmste zu verhindern.
Die jetzt zur Bastille strömen,
sind Ahnungslose. Kaum jemand hat gemerkt, wie stark die Rechtsextremen
geworden sind. Niemand hat erwogen, dass Le Pen in den zweiten Durchgang
der Präsidentschaftswahlen kommen könnte. "Niemand hat uns gewarnt",
klagt Elise, 20, "die Politiker nicht und auch die Medien nicht." Wenn
sie "das" gewusst hätte, hätte sie ihre Stimme schon im ersten Durchgang
Jospin gegeben: "So schlecht war er wirklich nicht." Ihre Mitstudentin
Cecile hat sich schwarze Tränen auf das Gesicht gemalt. Um ihren Hals
baumelt ein Zettel: "Der Faschismus wird nicht siegen." Beide fühlen die
"Angst im Bauch".
Auf Baugerüsten sitzen in dieser
Nacht Trommler, auf den Dächern von Kiosken Sänger und auf den Stufen zu
der Säule des Genies in der Mitte des Platzes wechseln sich die Fahnen
und Transparente sämtlicher linken Parteien ab. Mal taucht der Aufruf
auf: "Résistez", mal die Sonneblumenfahne der Grünen. Die ganze
französische Linke ist vertreten. Alle, außer der trotzkistischen Sekte
"Lutte Ouvrière" - Arbeiterkampf. Ihre Kandidatin Arlette Laguiller gibt
als einzige keine Empfehlung ab, im zweiten Durchgang gegen den
Rechtsextremen zu stimmen.
Steeven, 22, ist Gebäudemaler.
Und er ist schwarz. Dass es in Frankreich Rassisten gibt, hat er "nicht
gemerkt". Er hat "links" gewählt. Aber nicht Jospin. Seine Freunde
stammen aus Einwandererfamilien aus Nordafrika. Die meisten von ihnen
haben "vergessen", sich in die Wählerlisten eintragen zu lassen. "Ich
hatte keine Zeit, ich musste arbeiten", sagt Bachir, 21-jähriger
Student. Jetzt muss er untätig zusehen. Auch bei den Parlamentswahlen im
Juni. Als ihm "zwei nordafrikanische Freunde" neulich erzählt haben,
dass sie Le Pen wählen wollten, hat er ihnen nicht geglaubt. An diesem
Abend hofft er, dass "sie es sich noch mal anders überlegt haben".
Lange nach Mitternacht scheren
Gruppen von Rollerskatern von der Bastille weg. Sie rollen in Richtung
Elysée-Palast und Concorde. Für viele ist es die erste Demonstration.
Gegen 4 Uhr nachts wird sie von der CRS mit Tränengas aufgelöst. Ein
alter Mann, der schon 1981 auf der Bastille dabei war, fragt: "Werden
Sie jetzt schreiben, dass wir alle Faschisten sind?" Ein anderer mischt
sich ein: "Das soll sie ruhig. Hauptsache Sie flehen Ihre Leser an, dass
sie Schröder wählen. Trotz allem. Deutschland ist jetzt unsere letzte
Chance."
hagalil.com / 23-04-2002 |