Regierung lehnt
Entschädigung ab:
"Lebensborn"-Kinder klagen in Norwegen
Von Reinhard Wolff
Als er in die
vierte Klasse kam, merkte Oskar erstmals, dass er offenbar "anders" war,
als seine MitschülerInnen. "Verdammter Deutscher" wurde er plötzlich
genannt, "Nazischwein". Oskar verstand gar nichts. Als er sich seiner
Mutter anvertraute, erfuhr er, dass er nicht bei seinen leiblichen
Eltern aufgewachsen war. "Deine Mutter war eine Hure", sagte ihm seine
Adoptivmutter. "Sie hatte es mit Deutschen. Als sie dich bekam, hat sie
dich in einer kalten Winternacht vor einer Kirchentür ausgesetzt."
Oskar ist jetzt
57 Jahre alt. Vor knapp 10 Jahren erfuhr er die ganze Wahrheit: Er kam
in einer der "Lebensborn"-Heime zur Welt, die die deutsche
Okkupationsmacht in Norwegen für Kinder deutscher Soldaten und
norwegischer Frauen eingerichtet hatte. Nach der Kapitulation des
Dritten Reiches wurden er und achtzig andere Kinder in diesem Heim ihren
Müttern weggenommen, an Pflegefamilien gegeben und zwangsadoptiert.
Heute beginnt in
Oslo ein Gerichtsverfahren, das Oskar und einige hundert anderen
"Deutschenkinder" gegen den norwegischen Staat angestrengt haben: Wegen
staatlicher Übergriffe und verweigertem Schutz vor solchen durch
Privatpersonen. Sie wollen entschädigt werden für ihre zerstörte
Kindheit und Jugend, für den sexuellen Missbrauch durch Heimerzieher und
für die medizinischen Versuche, die man mit ihnen anstellte.
Die Geschichte
eines "Staatsverbrechens" nennt Oskar das, was man mit ihm machte. Von
jahrelangen Schikanen können fast alle Besatzungskinder erzählen: Per
erinnert sich, dass seine Adoptiveltern mit ihm in eine andere Stadt
zogen, als es mit den "Nazischwein"-Rufen und den Schlägen begann. Doch
auch dort hatte er nur einige Wochen Ruhe: "Es muss wohl Erwachsene
gegeben haben, die den Kindern erzählten, wer mein Vater war. Vielleicht
sogar die Lehrer. Kinder kommen ja nicht allein auf so etwas." Auch
Laila ging es nicht besser, ihr wurde jahrelang "Hurenmädchen"
hinterhergerufen: "Es gab da eben diesen wahnsinnigen Hass auf alles
Deutsche. Die Leute meinten wohl wirklich, dass wir in Norwegen nichts
verloren hätten."
Reidun erging es
noch schlimmer: Sie kam vom "Lebensborn"-Heim direkt in die Psychiatrie.
Ein Oberarzt hatte allen "Deutschkindern" dort nach Ende der Okkupation
kollektiv die Diagnose "schwachsinnig und abweichlerisches Verhalten"
ausgestellt. Die Begründung: Frauen die mit Deutschen fraternisiert
hätten, seien im allgemeinen "schwach begabte und asoziale Psychopathen,
zum Teil hochgradig schwachsinnig". Es sei davon auszugehen, dass ihre
Kinder dies geerbt hätten. "Vater ist Deutscher" genügte zur Einweisung.
"Was waren das für Behörden, die pauschal dutzende von Kleinkindern für
schwachsinnig erklären konnten?", fragt sich Reidun noch heute.
Es waren - neben
den Kindern - die betroffenen Frauen, die die Wut der NorwegerInnen über
die Okkupationsjahre zu spüren bekamen, obwohl sie nichts Illegales
getan hatten. Ihre Kinder wurden ihnen weggenommen, sie wurden kahl
geschoren und misshandelt, in Internierungslager gesteckt, nach
Deutschland ausgewiesen oder in psychiatrische Kliniken eingewiesen.
Auch Marta,
Oskars leibliche Mutter, wurde in eine psychiatrische Klinik gebracht,
wo sie 1951 an den Folgen medizinischer Versuche mit Hirnentnahme
(Lobotomie) starb. Oskar hat erst jetzt die Krankengeschichte seiner
Mutter einsehen können: "Man machte mit ihr Versuche mit operativen
Gehirneingriffen. Dann ließ man sie mehrere Tage lang bewusstlos mit
über 39 Grad Fieber liegen und schaute einfach zu, wie sie starb."
Im Gegensatz zu
den Frauen hatten Männer, die mit deutschen Frauen "fraternisiert" oder
homosexuelle Beziehungen zu deutschen Soldaten hatten, nichts zu
befürchten. Auch die 250.000 NorwegerInnen, die bei den Deutschen in
Lohn und Brot standen, wurden nicht schikaniert. Nichts zu befürchten
hatten auch diejenigen, die durch Geschäfte mit der Nazi-Besatzungsarmee
gut verdient hatten. "Warum nur die Frauen und die Kinder?", fragte Rut
Bergaust - spätere Ehefrau Willy Brandts - schon 1947.
Erst Ende der
Achtzigerjahre tauchten erste Bestandsaufnahmen und Untersuchungen zum
Schicksal der "Deutschenluder" und der "Deutschenkinder" auf. Zuletzt
1998 lehnte eine Mehrheit des norwegischen Parlaments die Einsetzung
einer Untersuchungskommission als "unnötig" ab. Selbst nachdem man sich
1996 dazu bereit erklärt hatte, Opfer von Lobotomieversuchen zu
entschädigen, und 1999 dazu durchgerungen hatte, von NorwegerInnen
enteignetes jüdisches Eigentum zu ersetzen - eine Entschädigung der
"Deutschenkinder" wird auch heute noch abgelehnt. Eine offizielle
Entschuldigung ebenfalls.
Auch in dem heute
beginnenden Prozess weisen die Anwälte der Regierung alle Ansprüche
zurück: Nach dem norwegischen Zivilrecht seien etwaige Ansprüche
verjährt. Die Europäische Menschenrechtskonvention, auf die die
KlägerInnen sich stützen, würde nicht greifen. Denn mit
Menschenrechtsverletzungen hätten die behaupteten "Beeinträchtigungen"
nichts zu tun.
REINHARD WOLFF
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hagalil.com / 18-10-2001 |