Die Jüdische Hochschule Paideia in Stockholm
Promoting Respect for
Multiculturalism*
Von Paul Piwnicki
Stockholm
gehörte bislang nicht zu den Zentren jüdischer Gelehrsamkeit. Seit
kurzem hat die schwedische Hauptstadt aber die Chance, zu einem der
Kristallisationspunkte einer wiedererstarkten europäischen Kultur zu
werden, denn seit September 2001 gibt es in Stockholm eine jüdische
Hochschule: Paideia.
Die Idee, diese Hochschule zu gründen, ist aus dem Bewusstsein heraus
entstanden, dass mit dem Holocaust neben sechs Milionen Menschen auch
eine ganze Kultur verlorengegangen ist, eine Kultur die seit über
tausend Jahren ein Teil Europas war. Die in manchen Gebieten in fast
jedem Dorf gepflegte Tradition jüdische Texte zu studieren und zu
diskutieren ist mitsamt den Menschen untergegangen. Obwohl die letzten
Jahre ein wachsendes Interesse für die jüdische Kultur Ost-Europas mit
sich gebracht haben – die Begeisterung für Klezmermusik und jiddisches
ist ungebrochen – so reicht dieses Interesse doch selten bis zu den
geistigen und intelektuellen Wurzeln dieser Kultur. Diese liegen aber in
den jüdischen Texten, die demjenigen vertraut sein müssen, der an einer
Wiederbelebung jüdischer Kultur in Europa arbeiten will. Obwohl es sich
bei diesen Texten um religiöse Texte handelt, ist Paideia keine
religiöse Hochschule, und es geht auch nicht darum, dass Paideias
Studenten religiös sein oder werden sollen.
Paideias Studenten sollen nach der Rückkehr in ihre Länder und Gemeinden
ihr Wissen und ihre Ideen verbreiten und so zu einem Wiedererstarken
eines selbstbewussten gebildeten europäischen Judentums beitragen, eines
Judentums, das ein aktiver Teil des europäischen Kulturmosaiks, eines
multikulturellen Europas sein kann Das Europa, für das Paideia arbeiten
will, ist ein Europa, das aus dem Neben- und Miteinander verschiedener
Kulturen lebt, die dank des Wissens um ihre eigenen Traditionen ihre
Berührungsängste aufgeben können und sich nicht fürchten müssen, von den
anderen zu übernehmen. Dabei ist schon der Name Programm: Paideia ist
ein griechisches Wort, das eine Kombination von Lehre und Kultur
bezeichnet. Das Hebräische hat für dieses Konzept keinen eigenen Begriff
und deswegen sollte es nicht ungewöhnlich sein, dass eine jüdische
Hochschule einen griechischen Namen trägt und damit zeigt, dass man das
Hellenistische nicht als Bedrohung, sondern als Bereicherung sehen will.
Da die jüdische Kultur vor allem in Texten fixiert ist, verbringen
Paideias Studenten die meiste Zeit damit, jüdische Texte zu studieren,
Tora, Talmud oder die Schriften jüdischer Philosophen. Die Texte werden
in klassischer Weise in einer Chevruta studiert, also einer kleinen
Gruppe, in der der Text gelesen und diskutiert wird, wobei man ermuntert
wird, seine eigene Interpretation dieser Texte zu finden, sie wie
Literatur zu behandeln und nach Aussagen zu suchen, die für einen selber
wichtig sind. Erst nach so einer unvoreingenommenne Diskussion wird der
Text in der gesamten Gruppe unter Teilnahme eines Lehrers besprochen,
der aber auch nicht „die richtige Lösung“ angibt, sondern die Ideen der
Studenten ordnet und auf klassische Deutungen hinweist. Die
Lehrer
sind zum großen Teil Mitarbeiter des
Shalom Hartman Institute in Jerusalem. Die Dozenten des Hartman
Institute waren in den ersten Wochen persönlich in Stockholm, die meiste
Zeit findet der Unterricht in Form von Videokonferenzen statt. Diese
zunächst etwas seltsam anmutende Unterrichtsform stellt sich aber als
erstaunlich effektiv und natürlich heraus. Stets in Stockholm anwesend
sind u.a. Paideias Direktorin und Gründerin, Barbara Spectre und der Scholar
in Residence Prof. David Zisenwine von der Universität Tel-Aviv.
Die Textstudien stellen den Kern des Unterrichts dar, der durch einen
Hebräischulpan und zahlreiche Veranstaltungen mit auswärtigen Gästen
ergänzt. Vollständig durchbrochen wird der übliche Rahmen während des
Month of the Arts.
Während dieses vier Wochen andauernden Programms, das auch
Aussenstehenden offensteht, ist jede Woche einer Kunstrichtung gewidmet,
dem Film, der Musik, der Architektur und der Literatur. Auch hier
beginnen die Tage mit dem Textstudium, so dass auch die Besucher
Gelegenheit bekommen, an einer Chevruta teilzunehmen. Der Rest der Zeit
ist Begegnungen mit Künstlern, Filmvorführungen, Podiumsdiskussionen
u.ä. gewidmet.
Die Chevruta-Methode lässt die Studenten stark von den Kenntnissen und
Ideen ihrer Kommilitonen profitieren – und von ihnen kann man wirklich
sehr viel lernen. Das Spektrum an Vorbildung, Sprachkenntnissen und
Erfahrungen ist beeindruckend. Stark vertreten sind Studenten aus
Ost-Europa, alleine drei kommen aus Ungarn, die größte einzelne Gruppe
stellen – naturgemäß – die Teilnehmer aus Schweden. Viele der 19
Studenten haben ein abgeschlossenes Hochschulstudium, meistens in einem
nicht-jüdischen geistes- oder sozialwissenschaftlichen Fach, die meisten
sind gesellschaftlich aktiv, oft in ihren Gemeinden. Es handelt sich
also um aktive, viel beschäftigte junge Menschen, die sich sehr bewusst
ein Jahr Zeit nehmen, um ihre jüdische Bildung zu erweitern. Dass die
Studenten sich von sich aus in ihr Studium engagieren und das Angebot zu
schätzen wissen, ist auch wichtig, weil Paideia bisher kaum
Möglichkeiten hat, anrechnungsfähige Hochschulpunkte zu vergeben, und es
auch keine Prüfungen gibt. Paideia bemüht sich um Zulassung bei der
schwedischen Hochschulbehörde.
Die Idee, eine jüdische Hochschule in Schweden zu gründen, wurde im
Januar 2000 im Zusammenhang mit der damals in Stockholm stattfindenden
Holocaust-Konferenz
präsentiert. Zum einen wurde sich die
schwedische Regierung im Zusammenhang mit den Vorbereitungen der
Konferenz des mit dem Holocaust verbundenen kulturellen Verlustes
bewusst und erkannte, dass es besonderer Anstrengungen bedarf, um die
jüdische Kultur in Europa zu beleben. Die Regierung verpflichtete sich,
40 Milionen (ca. 4 Mio Euro) schwedische Kronen aus den Mitteln der
schwedischen Reichsbank für diesen Zweck zur Verfügung zu stellen,
wobei es sich dabei auch um eine Form der Rekompensation dafür handeln
sollte, dass die Reichsbank während des Krieges möglicherweise geraubtes
Gold entgegengenommen hat. Da es sich bei diesen Geldern nur um eine
einmalige Anschubfinanzierung handelt, müssen in Zukunft andere Quellen
erschlossen werden. Man hofft hier insbesondere auf die Unterstützung
anderer europäischer Regierungen.
Die Unterstützung für Paideia steht in Verbindung mit zwei wesentlichen
Elementen schwedischer Politik. Zum einen sieht Schweden eine wichtige
Aufgabe darin, Wissen über den Holocaust zur Verbreiten. Hierzu wurde
etwa das Projekt
Levande Historia gegründet und das Schulbuch
Tell ye your Children veröffentlicht, das kostenlos in mehreren
Sprachen verteilt wird. Zum anderen definiert sich Schweden – zumindest
im offiziellen Sprachgebrauch – zunehmend als multikulturelle
Gesellschaft. Das bedeutet etwa, dass
nationale Minderheiten bei der Pflege ihrer kulturellen Tradition
unterstützt werden sollen, während sie gleichzeitig Teil der allgemeinen
schwedischen Gesellschaft werden. Hier kann die jüdische Gemeinschaft
sicher eine Vorbildfunktion haben, und man kann sich auch leicht denken,
dass Paideias Gründung andere Gruppen dazu bewegen könnte, über die
Gründung ähnlicher Einrichtungen nachzudenken. Interessant ist auch,
dass im Rahmen des staatlichen Einsatzes für die Minderheiten Jiddisch
in Schweden den Status einer traditionellen Minderheitensprache bekommen
hat. Damit wollte man natürlich vor allem andeuten, dass man sich um die
Erhaltung der jiddischen Kultur bemühen will, da in Schweden niemand
darauf angewiesen ist, bei Behörden Jiddisch sprechen zu dürfen, was ja
eines der sonst mit einem offiziellen Minderheitenstatus verbundenen
Rechte ist.
Aber „The Swedish setting“, von dem bei Paideia oft die Rede ist, steht
nicht nur für eine bestimmte Haltung der lokalen Behörden.
Es steht auch für eine Kultur des toleranten und ruhigen Umgangs
miteinander, eine Kultur, in der man miteinander reden kann und am Ende
stets eine Kompromisslösung findet. Ein Besuch in der großen Synagoge
von Stockholm zeigt, wie sich diese Kultur im Rahmen der
jüdischen Gemeinschaft äußert. Die Gemeinde konnte sich vor einigen
Jahrzehnten nicht einigen, ob man in der Synagoge nach Geschlecht
getrennt oder gemischt sitzen sollte. Die schwedische Lösung war, die
rechte Seite im unteren Teil für „family sitting“ einzurichten, links
sitzen nur Männer und auf der Empore nur Frauen. In der Großen Synagoge
werden die Gottesdienste vom Oberrabbiner geleitet, der zur Zeit der
konservativen Bewegung entstammt. Im Rahmen der Gemeinde gibt es aber
auch zwei orthodoxe Synagogen, die auch einen eigenen Rabbiner haben.
Beide Rabbiner arbeiten eng zusammen, und alle Bildungs- und
Kultureinrichtungen der Gemeinde werden keiner religiösen Richtung
zugerechnet. Die Gemeinde stellt auch Räume für die seit einiger Zeit
stattfindenden egalitären Gottesdienste zur Verfügung, es werden immer
wieder Vertreter der Reformbewegung eingeladen, die ihre Richtung
vorstellen. Und schließlich bekommt auch die außerhalb der Gemeinde
agierende liberale Gruppe die Möglichkeit, in Gemeindeveröffentlichungen
über ihre Aktivitäten zu berichten. Die jüdische Gemeinschaft unterhält
auch gute Kontakte zu einer Reihe christlicher Kirchen und zu Teilen der
islamischen Gemeinschaft.
Diese Atmosphäre von Toleranz und respektvollem Miteinander ist auch ein
Teil dessen, was Paideias Studenten in Schweden lernen können – um dann
zu Hause an einer jüdischen Kultur weiterzuarbeiten, die sich zusammen
mit anderen als Teil eines großen ganzen sieht.
*Der Titel des Textes
stammt von einem der Lesezeichen, die Paideia als Werbung verteilt und
die mit Motti versehen sind, die Paideias Zielsetzung beschreiben
sollen. Auf den
anderen steht etwa: Appreciating
Diversity; Listening to the
Past, Speaking to the Future;
To Deepen Ourselves and Be Open to Others;
In Conversation with the Sources u.a.
hagalil.com / 02-05-2002 |