Ein Gebet für Juden: Theologische
Sabotage
Von Stanislaw Musial
Der Autor, jesuitischer
Priester und Publizist bei der Zeitung "Tygodnik Powszechny", ist Preisträger
des "Polnischen Pulitzer". Jahrelang war er Sekretär der Kommission des
Polnischen Episkopats für den Dialog mit dem Judaismus.
Kann man für jemanden beten und ihn dabei mit den Formulierungen des Gebets
beleidigen und durch das eigene Benehmen diskriminieren? Auf diese Weise beteten
Katholiken auf der ganzen Welt für Juden bis vor kurzem, bis zu den 50er Jahren
des XX. Jahrhunderts. Kann man für jemanden beten und während des Gebets
Unwahrheiten aussprechen? Auf diese Weise beten polnische Katholiken für die
Juden.
Am Anfang beteten Christen für Juden viel
und oft. Seit dem VII Jahrhundert beten sie für sie nur einmal im Jahr am
Karfreitag. Das ist kein gutes Datum für Juden. Die kirchliche Gesetzgebung seit
dem frühen Mittelalter verbat ihnen, an dem Tag auf die Straße zu gehen. In
manchen Ländern erstreckte sich dieses Verbot auf die benachbarten Tage oder
sogar auf die gesamte Karwoche. Manche Kirchensynode beklagte sich, dass Juden
an den christlichen Trauertagen, eben in der Karwoche sich öffentlich, festlich
gekleidet, zeigten. Man vergaß dabei, dass das jüdische Passahfest manchmal auf
die Karwoche fiel. Es gab auch einen anderen Grund für dieses Verbot. Die Synode
in Narbona in Frankreich von 1227 empfahl den Bischöfen eine besondere Fürsorge
für Juden in der Karwoche, sie sollten vor "Belästigungen seitens der Christen"
geschützt werden. Der Grund solcher "Belästigungen" war offenbar: alle Christen
waren damals davon tief überzeugt, dass Juden, selbst die damals lebenden, die
Verantwortung für den Tod von Christus tragen. Mit dem Karwochegebet wollten sie
sie nicht zusätzlich beleidigen. Der Karfreitag war in der Kirche der
feierlichste Gebetstag, deshalb betete man auch für Juden.
EIN GEBET FÜR JUDEN
Die Diskriminierung der Juden in der
Karwoche bestand darin, dass das Gebet für sie einen anderen Verlauf als andere
Gebete hatte. Die Gebete für alle anderen Intentionen hatten eine gleichartige
Struktur. Der die Liturgie lesende Priester machte eine Einführung in das
konkrete Gebet zum Beispiel für den Papst. Danach befahl der Diakon den
Gläubigen zu knien. Einen Moment betete man still. Dann gab der Subdiakon ein
Zeichen zum Aufstehen. Erst danach sang der Priester ein Gebet zu Gott.
Anschließend antworteten die Gläubigen: Amen. In der Fürbitte für Juden gab es
weder einen Aufruf zum Knien, noch ein Gebet in Stille. Eine solche
diskriminierende Weise des Betens für Juden wurde bis 1955 praktiziert. Die
Reform der Liturgie der Karwoche zur Zeit des Pontifikats von Pius XII. führte
in das Karfreitagsgebet für Juden das Knien ein. Heutzutage ist es in jedem
Gebet fakultativ.
Zwei Formulierungen in dem
Karfreitagsgebet (eine erschien zweimal) waren beleidigend. Ich zitiere das
römische Messbuch in polnischer Übersetzung, benediktinische Ausgabe aus dem
Jahr 1931: "Lasst uns auch für die treubrüchigen Juden beten: unser Gott und
Herr soll den Vorhang von ihren Herzen reißen, damit sie zusammen mit uns
unseren Herren Jesu Christi kennen lernen. Allmächtiger, ewiger Gott, der in
seiner Gnade keinem, selbst den treubrüchigen Juden das Verzeihen ablehnt, höre
unsere Gebete für das unwissende Volk, damit es endlich das Licht der Wahrheit,
das Jesu Christi ist, erkennt und aus der Dunkelheit gerettet wird."
Das Wort "treubrüchig" gibt nicht alle
negativen Konnotationen des Wortes, das im Original verwendet wurde, wieder. Auf
Latein benutzte man das Adjektiv "perfidi" und das Substantiv "perfidia" (pro
perfidis Iudaeis, iudaicam perfidiam). Wenn man das Gebet im Original hört, muss
man kein Latein kennen, um die Ausdrücke übersetzen zu können: "die perfiden
Juden" und die "jüdische Perfidie". Ähnliche Assoziationen hatten auch
Italiener, Franzosen, Deutsche, Spanier und viele andere Völker. Bei Cicero,
also in einem klassischen Latein, bedeutet "perfidia" falscher Glauben, Verrat,
Tücke, Perfidie. Im mittelalterlichen Latein bedeutete das Wort eher
Treulosigkeit, Unglaube. Was nutzt das schon, wenn die neuzeitlichen Sprachen
bei der primären Bedeutung blieben - falscher Glaube, Verrat, Tücke, Habgier?
"TREULOS IM GLAUBEN"
Ob das mit Hilfe solch beleidigender
Wörter formulierte Gebet eine Chance hatte, bei Gott anzukommen? Diese Frage
muss man ohne Antwort stehen lassen. Wir wissen nur, dass nach dem II.
Weltkrieg, also schon nach dem Holocaust, bei den Katholiken das "Aufwachen" des
Gewissens anfing. Nach Rom kamen immer wieder "Proteste", also Fragen, wie man
das lateinische "perfidi, perfidia" zu verstehen habe. Am 10.Juni 1948
antwortete die Kongregation der Rituale, wie immer lapidar: "treulos im Glauben,
Unglaube". Juden wurden also von Vorurteilen moralischer Natur befreit, man
blieb jedoch bei einer intellektuellen Bewertung und bei der Behauptung des
Unglaubens, einem Mangel an intellektuellen Anknüpfungen an die Wahrheiten des
christlichen Glaubens. Anschuldigende Ausdrücke blieben jedoch im
Karfreitagsgebet. Man brauchte zehn Jahre und zwei vernünftige Menschen mit
großem Herzen, bis das Adjektiv "perfidi" und das Substantiv "perfidia" aus dem
Gebet entfernt wurden. Johannes XXIII. tat dies sechs Tage vor Karfreitag im
Jahre 1959 nach der persönlichen Intervention von Jules Isaac, einem
französischen Historiker jüdischer Herkunft. Es ist nötig hinzuzufügen, dass
Johannes XXIII. damals seit erst sechs Monaten Papst war. In dem Gebet für Juden
blieben aber andere negativen Bezeichnungen.
Der neue Text des Gebets erschien erst
zum Pontifikat von Paulus VI. im Jahre 1965. Bei der letzten Sitzung nahm das
Vatikankonzil II. die Deklaration "Nostra aetate" über die Bezugnahme der Kirche
zu nichtchristlichen Religionen an. Dies erlaubte eine Bearbeitung des Textes
des Gebets für Juden, das nicht beleidigend und erniedrigend sein sollte. Das
passierte aber nicht sofort. Die endgültige Version legte das römische Messbuch
aus dem Jahre 1970 vor. Basierend auf dem lateinischen Original erschienen nach
und nach Messbücher in verschiedenen Sprachen. Das polnische erschien ziemlich
spät, im Jahre 1986. In dem Buch lautet das Karfreitagsgebet: "Lasst uns für
Juden beten, zu deren Vorfahren der Herr sprach, Er soll ihnen helfen, mit Liebe
zu Ihm und Treue zu Seinem Bündnis zu leben. Allmächtiger ewiger Gott, Du gabst
Deine Versprechen Abraham und seinen Nachfahren; Höre gütig das Gebet Deiner
Kirche, damit das Volk, das ehemals ein auserwähltes Volk war, völlige Erlösung
erlangen könnte. Im Namen Christi, unseres Herren".
MEHR ALS EIN SKANDAL
Die polnische Übersetzung ist schlecht,
an zwei Stellen sogar skandalös. Der Satz: "zu deren Vorfahren Gott sprach"
sollte laut Original lauten: "zu denen unser Gott früher sprach" (ad quos prius
locutus est Dominus Deus noster). Die polnische Formulierung entstellt einen
tiefen theologischen Gedanken des Originals. Die zweite schlechte Übersetzung
betrifft den Satz: "das ehemals ein auserwähltes Volk war". Diese Übersetzung
ist etwas mehr als ein Skandal, es drängen sich auf die Lippen die Wörter: "das
ist eine theologische Sabotage". Wer approbierte diese Übersetzung in Rom? Sie
steht im Widerspruch zu den Lehren der Kirche und zu den exakten Lehren der
Bibel. Der Satz im lateinischen Original besteht aus drei Wörter: populus
acquistionis prioris. In der wörtlichen Übersetzung lautet er: "Volk der
früheren Erwerbung", was man noch besser mit den Wörtern: "das früher zum
Eigentum erworbene Volk" (in der Annahme: durch Dich, Gott) wiedergeben kann,
oder mit den Wörtern: "Das Volk, das Du als das erste Eigentum erworben
hattest".
Man kann über die Nuancen in der
Übersetzung streiten. Die Deutschen brauchten mehrere Monate für die Beschaffung
einer wörtlichen, literarischen und theologischen Übersetzung dieser drei
Wörter. In Polen mangelte es an solcher Genauigkeit. Vor ein paar Wochen bei
einem Gespräch am Mittagstisch in meiner Ordensgemeinschaft fiel (nicht aus
meinem Mund) der Satz: "Juden, das auserwählte Volk". Daraufhin antwortete einer
der Brüder: "Juden sind kein auserwähltes Volk mehr". Ich fragte: "Warum?" Die
Antwort war: "Weil das die Kirche lehrt". "Wo?" "In dem Karfreitagsgebet für
Juden". Wir überprüften das sofort. Tatsächlich. Wenn ein Priester, der im
Ausland ausgebildet wurde, so etwas behauptet, was kann man dann von den
Gläubigen, die keine Zeit für Theologie haben, erwarten?
Während des Krieges halfen viele
Katholiken den Juden nicht, eben deshalb, weil sie behaupteten, dass Juden kein
auserwähltes Volk mehr seien und dass sie von Gott abgelehnt wurden; aus diesem
Grund sah man ihr Los als Urteil des Gerichts Gottes. Es ist hier nicht die Zeit
und der Platz, um die Bezeichnung "auserwähltes Volk" im Bezug auf die Juden zu
erklären. Das ist kein soziologischer Begriff, sondern ein theologischer. Darauf
verwies Paul Johannes II. im Jahre 1979, als er vor der Tafel in der hebräischen
Sprache in Auschwitz - Birkenau anhielt. Die Aufschrift der Tafel lautet: "Gott,
der gute Lehrer wählte für sich ein Volk: die Juden aus. Er offenbarte sich
ihnen, gab ihnen auch die Tafel der Zehn Gebote mit dem Ziel, die Menschheit in
Einigkeit zu sammeln. Die erste Auswahl wurde in Jesu Christi erweitert und ist
dadurch nicht abgeschafft worden."
Vielleicht werden die Wörter von dem
heiligen Hieronymus, der im übrigen keine Juden mochte, den Lesern, vor allem
den Christen viel mehr als alle anderen theologischen Überführungen sagen:
"Wollt ihr wissen? Petrus war einer von ihnen [den Juden - S.M.]. Paulus war
einer von ihnen. Alle Apostel waren von ihnen. Wir wurden in ihre Wurzeln
gepflanzt. Wir sind die Äste, sie die Wurzeln. Wir sollen die Wurzeln nicht
verfluchen, sondern für sie beten. Wir, die in die Wurzeln gepflanzt wurden,
beten zu Gott, dass sie genau wie die Äste die Erlösung erlangen".
Der Artikel erschien am 15. April 2001 in
WPROST.
Übersetzung: Magdalena Rensmann
hagalil.com / 24-11-2001 |