GRENZENLOSE HEIMAT FÜR
"SUDETENDEUTSCHE"?
Von
Jörg Rensmann
Kaum stand der Jahrestag der Befreiung des deutschen Konzentrations- und
Vernichtungslagers Auschwitz an, noch sind die armseligen Almosen des
keineswegs freiwilligen deutschen Stiftungsfonds an schwerst
traumatisierte Überlebende des historisch präzedenzlosen deutschen
Vernichtungswillens, nämlich des gezielten Massenmordes an den
europäischen Juden, nicht verteilt, da melden sich "sudetendeutsche"
Geschichtsrevisionisten wie der Vorsitzende der "sudetendeutschen
Landsmannschaft" und CSU-Europaabgeordnete Bernd Posselt zu Wort mit
einem Ausfall gegen den tschechischen Ministerpräsidenten Milos Zeman,
der schlicht ein paar historische Fakten referierte.
Die Äußerungen Zemans im Rahmen eines Interviews mit dem
österreichischen Magazin "Profil" Ende Januar haben in Deutschland
heftige, auch öffentliche Kritik am tschechischen Ministerpräsidenten
quer über die Parteigrenzen hinweg hervorgerufen. Alle (!) im deutschen
Parlament vertretenen Parteien, also auch die linksnationalistischen,
distanzierten sich von den Bemerkungen Zemans, so dass es geraten
scheint, einen Blick zu werfen auf Geschichte, Ideologie und
gegenwärtige Politik der "Sudetendeutschen”
und deren integratives
Verhältnis zur deutschen Europapolitik.
In seinem ausgezeichneten Buch "Grenzenlose Heimat", dem eine
Übersetzung ins Tschechische sehr zu wünschen wäre, gibt Samuel Salzborn
einen umfassenden Überblick über Geschichte, Gegenwart und Zukunft der
sogenannten Vertriebenenverbände, einen Überblick, auf den ich mich im
folgenden u.a. beziehen werde.
Die ganz überwiegende Majorität der "Sudetendeutschen" hat unter
Politikern wie Konrad Henlein oder Karl Hermann Frank an der
Zerschlagung der Tschechoslowakei mitgewirkt und ist später an den
Untaten gegenüber den Tschechen beteiligt gewesen. Die Begriffe
"sudetendeutsch" bzw. "Sudetenland" sind reine "Kunstworte", so der
deutsche Historiker Wolfgang Wippermann; Bezeichnungen, die die
"Sudetendeutschen" selbst als rein politische Kampfbegriffe erfunden
haben in bewusster Abgrenzung zum tschechoslowakischen Staat. Der Kampf
der "Sudetendeutschen" war in seinen Grundkonstanten ein explizit
völkisch motivierter, der eine Angliederung der "Sudetengebiete" an das
Deutsche Reich erstrebte und sich gegen das antifeudale,
nationalstaatsorientierte und emanzipatorische Streben der Tschechen
richtete, das zur Gründung der Tschechoslowakei geführt hatte.
Die von Konrad Henlein 1933 gegründete "Sudetendeutsche Heimatfront"
wurde 1935 in "Sudetendeutsche Partei" umbenannt, ging später
umstandslos in der NSDAP auf und war entsprechend völkisch und
antisemitisch ausgerichtet. Bei den tschechoslowakischen
Parlamentswahlen 1935 wurde die SdP zweitstärkste Partei; sie vertrat
etwa zwei Drittel der deutschen Bevölkerung dort. Der Wahlkampf wurde
größtenteils von der NSDAP finanziert. Zwischen 1935 und 1938 wuchs die
Mitgliederzahl der SdP auf 1,3 Millionen (!) an; sie forderte offensiv
die Abtretung des sogenannten Sudetenlandes an Deutschland. 1938 stellte
Henlein ein "Sudetendeutsches Freikorps" auf, das von der SA in
Deutschland ausgebildet wurde. Bei den Wahlen in der Tschechoslowakei im
Jahre 1938 wählten 98% (!) der Sudetendeutschen jene faschistische SdP,
die die Zerschlagung der demokratischen Tschechoslowakei forderte. Der
"Reichsgau Sudetenland" stand bezüglich der Mitgliedschaften in der
NSDAP in Relation zur Bevölkerungsstärke an der Spitze aller
"NSDAP-Gaue". Die "Sudetendeutschen" also waren in ihrer ganz
überwiegenden Mehrheit überzeugte, antisemitisch und antitschechisch
orientierte Nazis.
Der "sudetendeutsche" Politiker Karl Hermann Frank, Regent im
"Protektorat Böhmen und Mähren" und noch 1937 Stellvertreter Henleins,
spielte nach der deutschen Annektierung der restlichen Tschechoslowakei
eine wichtige Rolle bei der "Arisierung" jüdischen Eigentums, des bis
heute nicht zugunsten von Überlebenden und deren Erben kompensierten,
gigantischen deutschen Raubzuges, und dem Erlass antijüdischer
Verordnungen. Frank war es, der den Anstoß gab zur Einführung des
"Judensterns" in ganz Deutschland; er leitete im Oktober 1941 mit
Heydrich in Prag eine Konferenz über die "Endlösung" im "Protektorat".
Frank war es auch, der das tschechische Dorf Lidice vernichten ließ.
Soweit also eine sudetendeutsche Karriere.
Das Potsdamer Abkommen und deutschnationale Mythenbildung
Die Grundlage für die Umsiedlung der deutschen Bevölkerung aus den
ehemaligen deutschen Ostgebieten – von "Vertreibung" sollte man nicht
sprechen, da dieser Begriff eine deutsche Erfindung ist, um die
umgesiedelten Deutschen als unschuldige Opfer unter Ausblendung des
historischen Kontextes darstellen zu können – bildet das Potsdamer
Abkommen vom 2.August 1945. Dieser zwischen Großbritannien, der
Sowjetunion und den USA geschlossene Vertrag regelt völkerrechtlich
verbindlich (!) "die Umsiedlung deutscher Bevölkerung oder Bestandteile
derselben, die in Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn zurückgeblieben
sind, nach Deutschland ...". Diese Festlegung hatte und hat
kategorischen Charakter und ist keiner dehnbaren Interpretation fähig.
Daher richten sich revisionistische deutsche Forderungen, wozu eben das
sogenannte "Recht auf Heimat" gehört, immer gegen die gesamte, von den
ehemaligen Alliierten aus guten Gründen festgelegte Nachkriegsordnung.
Die 1950 verabschiedete "Charta der Heimatvertriebenen", in der es
heißt, dass "die Völker" erkennen müssten, dass das "Schicksal der
deutschen Heimatvertriebenen wie aller Flüchtlinge, ein Weltproblem ist
...", hatte eine Doppelfunktion: Die deutschen Umgesiedelten
präsentierten sich gegen die historischen Tatsachen als Opfer
nationalsozialistischer Politik einerseits, dabei logischerweise die
Präzedenzlosigkeit der Shoah von Anbeginn an leugnend und somit jüdische
Überlebende des deutschen Vernichtungswahnes erneut entwürdigend, und
protestierten andererseits gegen das rechtsverbindliche Potsdamer
Abkommen.
In der restaurativen Adenauer-Ära bis weit in die sechziger Jahre hinein
gelang es den Verbänden der Umgesiedelten, deren Verbandsspitzen
nachweislich vor allem aus alten Nazis bestanden, sich nicht nur zu
etablieren, sondern über eigene Parteien oder auch Arbeitsgruppen in
CDU/CSU und SPD eine Politik zu betreiben, deren Ziel es zunächst war,
über gesetzliche Regelungen möglichst umfassende finanzielle Leistungen
zu erlangen. Zeigte sich die BRD von Anbeginn und grundsätzlich
erinnerungs- und kompensationsabwehrend, was die nur allzu legitimen
Forderungen etwa von Holocaust-Überlebenden betraf, so galt dies nicht
für die Folgen der Umsiedlungen Deutscher. Hier zeigte sich die BRD
ausgesprochen großzügig: Für Nazis, Kriegsverbrecher,
Nazi-Kollaborateure und deren Angehörige etc. hat Deutschland bisher
etwa 400 Milliarden Mark (!) aufgebracht, für überlebende Opfer der
deutschen Vernichtungspraxis dagegen gerade einmal 100 Milliarden Mark.
Ideologie und Programmatik
Auf die Phase der innenpolitischen Etablierung und finanziellen
Konsolidierung der "Vertriebenen" folgte eine Zeit der vor allem nach
außen und innen gerichteten Programmatik. 1964 beispielsweise hieß es in
einer "Berliner Erklärung", "die wichtigste Aufgabe der deutschen
Außenpolitik ist ... das Ringen um Wiederherstellung des Rechts für
Deutschland und seine Menschen", um damit untrennbar verbunden das
"Recht auf die Heimat" aggressiv gegen die souveränen Staaten
Tschechoslowakei und Polen einzufordern.
Da der Verwirklichung der letztgenannten Forderung lange Zeit objektive
Grenzen durch die gesamteuropäischen Konstellationen gesetzt waren und
noch sind, vollzog sich in der Programmatik der "Vertriebenenverbände"
in den sechziger Jahren ein gleichsam taktisch bedingter Wandel, ohne
dabei die ursprünglichen, gegen die Nachbarstaaten gerichteten
Gebietsansprüche aufgeben zu müssen, weil "hierin traditionelle
Forderungen mit einem Europa-Gedanken verbunden wurden, der für die
Ideologie und die weitere Geschichte der Vertriebenverbände prägend
werden sollte" (Salzborn). So forderte 1969 paradigmatisch für sämtliche
"Vertriebene" die "Landsmannschaft der Oberschlesier" die Durchsetzung
und gesicherte Anwendung "aller Menschen- und Gruppenrechte für alle
Völker und Volksgruppen", eine "föderale Ordnung in Europa", ein
"europäisch gesichertes, freies Volksgruppenrecht in europäisch und
föderal organisierten, also internationalisierten Territorien am Rande
nationaler, nur von einem Volk bewohnter Kerngebiete" und "Hoheitsrechte
und Teilsouveränitäten" für "größere Volksgruppen".
Zentral dabei ist, dass deutsche Selbstbestimmungsvorstellungen im
Unterschied zum Verständnis des Verhältnisses von Selbstbestimmung und
Nation etwa in Frankreich, Großbritannien und den USA, das zumindest der
bürgerlichen Ideengeschichte nach auf die Emanzipation des Individuums
zielte, im Unterschied dazu also stets völkisch konnotiert waren, eine
"Abstammungsgemeinschaft" ( das deutsche Staatsbürgerrecht ist bis heute
ein ius sanguinis, ein "Blutrecht" ) imaginieren und wie im
Nationalsozialismus auch massenmörderisch wahnhaft realisiert wurden. So
ist ein wichtiger Bestandteil deutscher "Volkstumspolitik" der
Antisemitismus. Nicht zufällig verknüpft deshalb die "Sudetendeutsche
Landsmannschaft" "das Sudetenproblem und die Palästina-Frage", um in
wiederkehrenden Artikeln den eigenen Antisemitismus hinter einem
Antizionismus nur notdürftig zu kaschieren. Der Kampf der "Vertriebenen"
gegen eine vermeintliche "Entwurzelung" im Rahmen von
Globalisierungsprozessen führt jedoch auch zu offen antisemitischen
Bekenntnissen, die das wahnhafte Phantasiebild einer angeblichen
jüdischen Weltverschwörung zur Grundlage haben. Die Vorsitzende des
"Bundes der Vertriebenen", Erika Steinbach, setzt nicht zuletzt die
Judenvernichtung mit der Umsiedlung der Deutschen gleich.
Dementsprechend gibt es fließende Übergänge zwischen den Organisationen
der "Vertriebenen" und deutschen Nazis.
Ein europäischer Einigungsprozess unter solch deutschvölkischer
Prämisse, wie sie im übrigen durchaus in die deutsche Europapolitik
bereits eingegangen ist, hätte logisch die Aushöhlung der staatlichen
Souveränität vor allem der EU-Beitrittsländer unter deutscher Ägide zur
Folge, ein schleichender Prozess, der sich beispielsweise in Polen schon
verifizieren lässt. Der CSU-Kanzlerkandidat Stoiber, nicht zufällig der
sogenannte Schirmherr der "Sudetendeutschen", der sich angelegentlich
gegen die "Durchmischung und Durchrassung"(!) der deutschen Gesellschaft
ausgesprochen hat, redet einer "Regionalisierung" Europas in aus
deutscher Sicht überschaubare Wirtschaftseinheiten das Wort, um die vor
allem ökonomische Vorherrschaft Deutschlands in Europa zu zementieren.
Der "sudetendeutsche Witikobund" sekundiert mit der Aufforderung an die
"Vertriebenen", europäische Politik zu betreiben, denn "je stärker sich
Europa in Zukunft integriert, desto stärker werden als Ausgleich zum
zentralen Regiment die Regionalisierungstendenzen".
Unter "Ausgleich" mit Tschechien versteht die "sudetendeutsche
Landsmannschaft" den Kampf gegen die Deutsch-Tschechische Erklärung von
1997; mit "wirklicher Versöhnung" meinen die "Sudetendeutschen", dass
die legitime und durch das Potsdamer Abkommen abschließend geregelte
Ausweisung aus der Tschechoslowakei zu Unrecht erklärt werden soll.
Der "sudetendeutsche" Kampf gegen die Benes-Dekrete schließlich bedeutet
nichts anderes als die gewollte Aufhebung der Grundlagen der
Nachkriegs-Tschechoslowakei, versinnbildlicht also das "sudetendeutsche"
Streben nach Zerstörung einer tschechischen Souveränität, um zu einer
Vorkriegsordnung zurückkehren zu können.
Gegenwart und Zukunft
Die gegenwärtige rot-grüne Regierung in Deutschland steht den
"Vertriebenen" und ihren Anliegen nicht etwa distanziert, sondern
ausgesprochen wohlwollend gegenüber. Die finanziellen Mittel aus dem
Bundeshaushalt zur Unterstützung der reaktionären Verbände der
Umgesiedelten sind im Vergleich zur Praxis der konservativen Vorgänger
sogar gewachsen. Großzügig wird auch ein von den "Vertriebenen" schon
lange gefordertes "Dokumentationszentrum" gefördert, das an zentraler
Stelle in der Hauptstadt offenkundig das ebenfalls in Berlin zu
erstellende "Mahnmal zum Gedenken an die ermordeten Juden Europas"
konterkarieren soll.
Für die künftige deutsche Europapolitik gilt, dass das von Deutschland
auf seinen Hegemonialraum ausstrahlende "Volksgruppen- und
Selbstbestimmungsrecht" als Expansionsmedium erkannt wird: "Unter ...
moralischen Prämissen wird vermittels des Volksgruppenrechts auch heute
das Recht auf nationale Selbstbestimmung zu einem europäischen Recht auf
separatistische Sezession so erweitert und umgebogen, dass die den
deutsch-europäischen Hegemonialinteressen jeweils genehmen
völkisch-nationalen Minderheiten als Operateure missliebige
Nationalstaaten destabilisieren, zerstückeln und zerstören können, denn
auch heute gibt es in Europa nur einen Staat, nämlich die Bundesrepublik
( Deutschland, J.R. ), der aufgrund seiner geografischen Lage und seiner
wiedererlangten territorialen Größe , der wegen seiner ökonomischen
Potenz und seiner kulturellen Einfluß-Sphären die Rolle der europäischen
Zentralmacht wahrnehmen kann."
Die deutsche Kritik an Milos Zeman ist also weder vereinzelt noch
verdeckt, sondern Teil einer sich immer offener gerierenden
Hegemonialpolitik. Die schon zitierte Vorsitzende des "Bundes der
Vertriebenen" und CDU-Abgeordnete Steinbach hielt Zeman gar vor, er
verteidige die "die Rassenpolitik (!) Edvard Benes´".
Nach wie vor verlangt der Verband der "Vertriebenen" von den
EU-Beitrittsländern Polen, Tschechien und Slowenien die Aufhebung der
"Vetreibungsdekrete" und von den deutschen Parteien eine entsprechende
Politik, um anschließend weitergehende Forderungen erheben zu können.
Wenn der deutsche Bundeskanzler Schröder einen Besuch in Tschechien vom
erwarteten Kotau Zemans abhängig macht, ist das sichtbarer Ausdruck
eines deutschen Selbstverständnisses, das die Forderungen der
Umgesiedelten notwendig miteinschließt: Zeman müsste sich schließlich
für historische Tatsachen entschuldigen.
Solche Positionen sind in Deutschland, wo gerade auf breiter Ebene u.a.
aufgrund der aktuellen Novelle des Schriftstellers Günter Grass, der
ebenfalls das "Schicksal" der "Vertriebenen" thematisiert, einmal mehr
die Selbststilisierung Deutschlands als unschuldiges Opfer selbst
initiierter geschichtlicher Prozesse betrieben wird, nicht marginal,
sondern zunehmend mehrheitsfähig.
hagalil.com / 22-02-2002 |