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Fast völlig ignoriert:
Die Rosenbergs und der 17. Juni

Victor Grossmann, Junge Welt 14.06.2003

Für mich ein unvergeßliches Bild! Anfang 1953 war ich erst kurz in der DDR. Als ich flüchtete, war Ostdeutschland gar nicht mein Ziel. Nach neun Monaten in der Bundesrepublik hatte ich genug von Leuten, die das "Dritte Reich" fast liebevoll als "Friedenszeit" umschrieben! Was hatte überhaupt ein junger Jude aus Amerika in einem Lande zu suchen, das vor wenigen Jahren all seine in Europa gebliebenen Verwandten ermordet hatte?

Eines Tages sah ich dann am Bahnhof eine Lok einfahren, worauf in großen Buchstaben "Freiheit für die Rosenbergs!" stand. Gewiß, werden Zyniker einwenden, jeder Schlag gegen "den imperialistischen Feind" galt als nützlich. Doch war die große Kampagne für die Rosenbergs in der DDR nicht lediglich eine Waffe im Kalten Krieg. Die Berichte über die beiden in Sing-Sing eingesperrten, als "Atomspione" zum Tode Verurteilten lasen viele, sie sahen mit großer Anteilnahme Bilder von den zwei kleinen Söhnen und folgten besorgt dem Kampf des Rechtsanwalts Emanuel Bloch, der alles für Kinder und Eltern tat, bis er einem Herzschlag erlag. Die DDR-Deutschen waren gerührt. Dabei wußten alle, die Rosenbergs waren Juden, ihre Verurteilung, wenn auch (wohlweislich) von einem jüdischen Richter, heizte den Antisemitismus an. Aber hier, in einem Teil Deutschlands, standen Losungen für ihre Freiheit gar auf Lokomotiven – ich war zwar vom Kampf meiner Genossen und Freunde in New York und Boston weit entfernt, doch ich konnte mich nun auch hier zu Hause fühlen. Ob bei Appellationen an die Obersten Richter oder an Präsident Eisenhower, gemeinsam erlebten wir, wie eine Hoffnung nach der anderen schwand, und das brutale Ende näher kam.

Dann schwand plötzlich das Interesse. Der Tod im elektrischen Stuhl – bei Ethel soll die Qual über zehn Minuten gedauert haben – wurde fast gänzlich ignoriert. Der Grund? Ethel und Julius starben am 19. Juni 1953; zwei Tage zuvor war der "Arbeiteraufstand" in der DDR. In vielen Zeitungen der Welt wurde das letzte Warten von vielen Tausenden in New York und anderen Städten, das so erschreckend endete, fast völlig ignoriert.

In der DDR war das wohl normal. Das Nähere interessiert am meisten, und war diesmal gewiß selbst sensationell. Manche sahen im 17. Juni einen Aufschrei nach Freiheit, einen Protest gegen Ungerechtigkeit, andere sahen darin eher den Versuch, von draußen oder drinnen das soziale Experiment der DDR kaputt zu kriegen. Ich glaube, von allem war etwas vorhanden. Und wer – bei Streiks, Ausgangssperren, geöffneten Gefängnistoren und verbrannten Fahnen – konnte noch an das Schicksal des Ehepaars in Sing-Sing und seiner zwei kleinen Jungen denken?

In späteren Jahren fragte ich mich wieder und wieder, ob angesichts wachsender Wünsche nach Reisefreiheit und Pressefreiheit, dazu auch nach mehr Einkaufsfreiheit, etwa für Bananen oder Volkswagen, nicht die Tendenz überhandnahm, andere zu vergessen? Gewiß, bei eigenem Kummer sind Sorgen, Hunger und Misere weitaus ärmerer Menschen im Süden Afrikas oder in Mittelamerika leicht zu ignorieren. Gerade deshalb war es in diesem Jahr so wunderbar, wie Millionen Menschen über die eigenen Lokalinteressen hinweg, so brennend sie waren oder erschienen, für das Leben der geschundenen Menschen im fernen Irak in unzähligen Städten durch die Straßen demonstrierten. Auch neulich bei Evian. Darin liegt eine Hoffnung.

Zum 50. Jahrestag des Todes von Ethel und Julius entsteht erneut die alte Debatte: Haben sie Atomgeheimnisse an die Sowjets geliefert oder nicht? Viele Bücher widmeten sich dieser Frage, auch der Film einer Rosenberg-Enkeltochter, als Versöhnungsgeste gedacht, kann sie nicht ignorieren. Ich neigte immer dazu, an ihre "Unschuld" zu glauben; ich wußte, wie die Maschinerie des Staates und verlogene Medien damals eingeschaltet wurden, um die beiden zu vernichten, das Land für den Kalten Krieg zu mobilisieren und Widerstand abzuschrecken (ein wenig mit der Wirkung des 11. Septembers 2001 vergleichbar).

Doch empfinde ich diese "Schuldfrage" als immer unwichtiger. Klaus Fuchs und Ruth Werner gaben Atomgeheimnisse des Westens an die Sowjetunion weiter, weil sie eine von den USA dominierte Welt fürchteten, deren Führung Fahnen mit schönen Sternen überall aufpflanzen läßt und dabei auf Kosten der Ärmsten der Welt dem Dollarzeichen huldigt. Ob die Rosenbergs von Arbeitslagern und Unterdrückung in der Sowjetunion wußten, kann ich nicht sagen. Sicher ist, daß sie verfolgt hatten, wie die UdSSR am härtesten von allen Ländern gegen den Faschismus kämpfte und dabei die größten Opfer brachte. Vielleicht lehnten sie es deshalb ab, dem FBI und dem Weißen Haus irgendeine Rechtfertigung zu bieten, gegen die UdSSR zu marschieren – und wenn es um ihr Leben ging. Das wissen wir nicht genau. Wir können aber feststellen: Es waren zwei tapfere Menschen, die ihr Leben eher als ihre Prinzipien hergaben, Menschen, die bis zuletzt mahnten, bei allen Schmerzen und Problemen, die der Mensch spürt, niemals das Bild einer gefährdeten Welt und der leidenden, kämpfenden Mitmenschen zu vergessen, die unsere wahren Schwestern und Brüder sind – wie Ethel und Julius es waren.

hagalil.com 17-06-03


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