Judentum.Net

Judentum und Israel
haGalil onLine - http://www.hagalil.com
     

hagalil.com

Search haGalil

Veranstaltungskalender

Newsletter abonnieren
e-Postkarten
Bücher / Morascha
 
Polnische und jüdische Überlebende des Holocaust im Gespräch:
"Wir haben nichts vergessen!"

Podiumsgespräch mit Ingrid Strobl
Jungle World, 16.04.2003

Die Bedingungen im besetzten Polen waren zusammen mit denen im besetzten Teil der Sowjetunion die schlimmsten im von Deutschen besetzten Europa. Die Besatzer haben sich von Anfang an nicht darum gekümmert, wie die polnische Bevölkerung reagieren würde, was sie beispielsweise in Frankreich und Belgien wenigstens zu Beginn der Besatzung noch getan haben. Sie haben sofort mit aller Brutalität und Offenheit zugeschlagen. Die polnischen Juden hatten eine noch geringere Chance als all die anderen, irgendetwas zu tun. Sie waren in den Ghettos eingekerkert. Sie zu verlassen, war unendlich schwierig, ebenso wie Informationen in die Ghettos zu bringen. Es ging ums nackte Überleben, es ging um jedes Stück Brot. Das tägliche Leben war geprägt von Hunger, Erschöpfung, gezielter Irreführung. Es war eine Situation, in der Menschen nichts tun konnten und in der andere Menschen auch nichts getan haben. Die vier Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf diesem Podium waren im April 1943 nicht im Warschauer Ghetto, sie repräsentieren verschiedene Situationen, in denen sich Jüdinnen und Juden im besetzten Polen befinden konnten.

Ingrid Strobl: Anknüpfend an den Widerstand im Ghetto, möchte ich die erste Frage an Jadwiga Gawronska richten. Sie befanden sich in Warschau außerhalb des Ghettos, auf der "arischen" Seite. Sie haben dort politisch gearbeitet und Widerstand geleistet. Frau Gawronska, was haben Sie im April 1943 konkret gemacht?

Jadwiga Gawronska: Ich hatte damals "arische" Papiere und konnte draußen bleiben. Aber was im Ghetto passierte, wie die Stimmung und die Einstellung war, das wussten wir ganz genau, da sich in meinem Haus eine geheime Druckerei befand. Wir hatten eine Kopiermaschine und wir haben eine Untergrundzeitung gedruckt. In dieser Zeitung berichteten wir nicht nur darüber, was im Ghetto passierte, sondern über ganz Warschau, über die Morde, über alle Verbrechen der Deutschen gegen die polnische Bevölkerung. Ich wusste also genau, was im Ghetto vor sich ging und ich möchte noch einmal betonen, dass die Tatsache, dass die Jugend, die 1943 noch lebte, zu diesem Aufstand überhaupt noch fähig war, das größte Wunder bedeutete. Am 19. April 1943 habe ich mein Haus verlassen und sah überall in der Stadt Flugblätter der Deutschen an die Warschauer Bevölkerung, auf denen stand, dass die Juden mit ihrem Aufstand die Verantwortung für die Verhältnisse in Warschau und die Maßnahmen der Besatzer gegen die polnische Bevölkerung tragen. Wir sahen den schwarzen Rauch über dem Ghetto, es kam die Nachricht, dass die Frauen mit ihren kleinen Kindern aus den brennenden Fenstern gesprungen sind und dass sie, als sie kaum noch lebend auf den Bürgersteigen lagen, erschossen wurden. Das habe ich 1943 erlebt. Aber was ich gefühlt habe, das muss ich Ihnen jetzt nicht sagen, das kann ich auch nicht. Meine Gefühle sind nicht zu beschreiben. Eine Geschichte möchte ich noch erzählen. Es gab damals in Warschau ein unterirdisches Kanalsystem, durch das eine Rettung Einzelner unter schwierigsten Bedingungen möglich war. Unsere Organisation hat den Menschen bei der Flucht durch die Kanäle geholfen. Nach einer gelungenen Flucht war eine sichere Unterkunft das Wichtigste. Wir haben Wohnungen für die Flüchtenden gesucht und beschafft. Ich bekam den Auftrag, einer Lehrerin zu helfen, die in einer polnischen Schule unterrichtet hatte und versuchte, sich und ihre achtjährige Tochter aus dem Ghetto zu retten. Zusammen flohen sie durch die Kanalisation. Plötzlich bemerkte die Frau, dass sie die Hand ihrer Tochter nicht mehr hielt. Ihr ist es zwar gelungen, auf die andere Seite zu gelangen und die Grenze zu überwinden, aber ihre Tochter blieb im Kanal. Ich habe die Frau nach dieser Tragödie noch oft gesehen. Können Sie sich vorstellen, wie riesengroß die Verzweifelung war, wie wir beide verzweifelt waren, wie wir geweint haben über diese Frau ohne ihre Tochter?

Strobl: Die Kanäle haben insgesamt eine sehr wichtige Rolle gespielt. Zwar wurde das Kanalsystem erst relativ spät genutzt, dann aber diente es besonders dazu, "draußen" darüber zu informieren, was das Ghetto bedeutete, welche unvorstellbaren Zustände dort herrschten. Vor dem Aufstand wurden durch die Kanäle auch Kinder gerettet, leider nicht sehr viele. Eines dieser Kinder ist Teresa Wieczorek. Frau Wieczorek, Sie waren zwei oder drei Jahre alt, als sie durch das Kanalsystem nach draußen gebracht wurden. Was haben Sie über ihre Rettung erfahren können?

Teresa Wieczorek: Alles, was ich Ihnen erzählen möchte, sind nicht meine Erinnerungen. Es sind die Erzählungen meiner zweiten Mutter, die ich durch Zufall gefunden habe. Im Herbst 1942, es war vermutlich im September, wurde ich aus dem Ghetto durch den eben erwähnten Kanal herausgebracht. Der Kanal, von dem ich erzählen möchte, führte vom Muranowski-Platz bis zur Sierakowska-Straße. In dieser Straße befand sich damals eine Straßenbahnreparaturwerkstatt. In dieses Gebäude fuhren die Straßenbahnen hinein und sie hielten über dem Kanaleinstieg. Ich wurde also in einen winzigen Koffer gepackt und unter einem Straßenbahnsitzplatz versteckt. An der nächsten Haltestelle wurde ich abgeholt. Die Reparaturwerkstatt war genau gegenüber der Ghettomauer. Ich weiß weder, wer mich abholte, noch wer mich in die neue Familie brachte. Ein Mann ist gekommen und hat gesagt, alle im Ghetto werden deportiert, und darum gebeten, mich nur für eine Nacht aufzunehmen. Noch einmal zu der Reparaturwerkstatt. Dort arbeitete eine polnische Organisation mit dem Namen Zegota, die damals den Juden half. Ich möchte hier eine Frau mit Namen Sendlerowa erwähnen, eine Lehrerin in Warschau, die mehrere hundert jüdische Kinder gerettet hat. Die Reparaturwerkstatt war nicht der einzige Weg, wie jüdische Kinder gerettet wurden. An meiner Rettung war Leon Szezcko von der Organisation Zegota beteiligt, der später von der Gestapo erschossen wurde. Er hat mehrere Kinder gerettet, aber weil er ermordet wurde, kennen die von ihm Geretteten und auch ich ihre richtigen Namen nicht, sie kennen weder ihren Geburtstag oder das -jahr, ich weiß nichts von meinen Eltern oder meiner Familie. Meine zweite Mutter war eine gute, eine einfache Frau, die weder lesen noch schreiben konnte, aber mir alles, was sie geben konnte, gegeben hat. Bevor ich zu ihr kam, wurde ich von einem Versteck zum anderen gebracht und es wurden auch immer wieder Menschen gefunden, die mich versteckten, obwohl auf das Verstecken von Juden und auch von jüdischen Kindern die Todesstrafe stand. Nachdem für meine neue Familie feststand, dass nach der Zerschlagung des Ghettoaufstandes niemand mehr kommen würde, erhielt ich eine christliche Geburtsurkunde und als Familiennamen den meiner zweiten Mutter. Ich habe keine Erinnerungen an diese Zeit und ich war immer überzeugt, dass ich mich niemals erinnern werde. So war es bis zum Jahre 1970, als ich das erste Mal nach Deutschland fuhr. Am Ostbahnhof in Berlin sah ich durch das Zugfenster einen deutschen Soldaten in seiner Uniform. Da bin ich auf einmal ohnmächtig geworden. Wie war das möglich? Ich muss mich an etwas Verschüttetes erinnert haben, warum wäre ich sonst ohnmächtig geworden.

Strobl: Jerzy Pikielny war im Ghetto Lodz in einer ganz anderen Situation. Lodz wurde dem Deutschen Reich einverleibt, und das Leben im Ghetto wurde von den Deutschen anders gehandhabt. Erzählen Sie uns bitte, Herr Pikielny, was es im April 1943 hieß, im Ghetto Lodz zu sein.

Jerzy Pikielny: Am 19. April 1943 war ich zusammen mit meiner Mutter und meinem Vater im Ghetto in Lodz und das schon vier Jahre lang. Offiziell heißt es, das Ghetto sei Anfang 1940 errichtet worden, meine Familie musste jedoch schon Ende 1939 unsere Wohnung innerhalb von zwei Stunden verlassen. Die Lebensbedingungen, nicht nur für die im Ghetto Lebenden, sondern auch für die einfache polnische Bevölkerung, waren anders als im Generalgouvernement. Die Ghettobewohner hatten keinerlei Kontakt zur Welt auf der anderen Seite der Ghettomauern. Ich war zunächst mit meinen Eltern und meinen Großeltern mütterlicherseits im Ghetto, meine Großeltern starben dort. Sie wurden in Lodz begraben. Das Grab gibt es noch. Vor dem Krieg waren wir mehr als 20 Menschen in meiner Familie, nach dem Krieg waren es nur noch fünf. Im August 1944 - mehr als ein Jahr nach dem Aufstand im Warschauer Ghetto, wir hörten schon die sich nähernde Front - erfuhren wir, dass das Ghetto liquidiert werden sollte. Die Deutschen versuchten, uns zu überzeugen, dass wir nur gemeinsam mit unseren Familien woandershin transportiert und dort weiterarbeiten würden. Deshalb sollten wir auch alle persönlichen Gegenstände und Haushaltsgeräte mitnehmen. Es gab in unserem Ghetto eine Untergrundjugendorganisation mit geheimen Strukturen. Vielleicht gab es auch mehrere, ich jedoch wusste nur von der einen. Mit einigen Mitgliedern arbeitete ich zusammen in einem Werk. Ich gehörte nicht dazu, aber meine Freunde informierten mich, was geschah. Die Deutschen, so sagten sie, fordern uns auf, all das zu befolgen, was sie befehlen, um zu vermeiden, dass es auch in unserem Ghetto einen Aufstand gibt. Wir sollten uns ohne Widerstand deportieren lassen. Obwohl uns die Untergrundorganisation darüber informierte, was nach den Deportationen geschehen war und auch uns geschehen würde, wollten es die meisten nicht glauben. Ungefähr 70 bis 80 Kilometer von Lodz entfernt befand sich Chelmno, wo die Deportierten, eingepfercht in Lastwagen, mit eingeleitetem Gas ermordet und dann verbrannt wurden. Warum wir den Informationen nicht glauben wollten und konnten, dafür gibt es eine psychologische Erklärung. Der Verstand begreift es, aber man will es nicht glauben und unterdrückt das Wissen. 1940 oder 1941 gab es die erste Deportation aus unserem Ghetto. Vor allem wurden die Kranken in den Tod geschickt. Ich wusste sehr genau Bescheid, da mein Vater als Arzt im Krankenhaus arbeitete. Eine Gruppe von SS-Männern riegelte das Hospital von der Straßen- und von der Gartenseite aus ab und trieb alle Kranken auf die Lastwagen. Im zweiten Stock zur Straßenseite hin lag die gynäkologische Abteilung, wo die Frauen kurz nach der Entbindung untergebracht waren. Ein SS-Mann stand oben am Fenster, ein zweiter auf einem Lastwagen auf der Straße. Der erste warf die Neugeborenen durch das Fenster auf den Lastwagen und der zweite schichtete sie neben- und aufeinander. Alle hatten es gesehen und dennoch glaubten wir den Informationen bei der Liquidierung des Ghettos nicht. Wir wurden in völlig überfüllten geschlossenen Viehwaggons nach Auschwitz transportiert. Dass wir in den Tod fuhren, sagten uns auch die Lokomotivführer und Heizer. Wir aber wollten es nicht glauben und ich denke, dass es auch anderen Menschen so geht. Niemand möchte wahrhaben, dass er sterben muss und dass es keinen Ausweg gibt. Als man uns in Auschwitz aus den Waggons holte, lautete der erste Befehl, dass alle unsere Sachen dableiben müssten. Dann folgte die erste Selektion in Männer und Frauen. Kinder gab es kaum noch, denn alle unter zwölf Jahren waren schon bei früheren Deportationen weg- und umgebracht worden. Der ersten Selektion folgte sofort die zweite. Bei ihr ging es schon um unser Leben, das vom Gutdünken eines Mannes abhing. Bei uns war es, so denke ich, Josef Mengele. Ein Ereignis habe ich immer noch in Erinnerung und werde es nicht los. Ein Mann - ich kannte ihn gar nicht, aber ich vermute, dass es ein deutscher Jude war - fühlte, was kommen sollte und er bat einen Polizisten, ihn doch am Leben zu lassen, er habe noch viel Kraft. Selbstverständlich gab es keine positive Reaktion. Ich sehe immer noch diesen Mann, wie er zur Gaskammer geht. Am nächsten Tag haben wir den Rauch über dem Krematorium gesehen und ihn noch tagelang gerochen.

Strobl: Ludwik Hoffman, Sie waren in Ostgalizien, einer Gegend, über die man hier gar nichts weiß und Sie sind von dort zu einer unfreiwilligen Odyssee durch verschiedene Lager aufgebrochen. Wo waren Sie im April 1943, und wie sah ein Tag unter den Bedingungen aus, unter denen Sie leben mussten?

Ludwik Hoffman: Vor dem Überfall auf die Sowjetunion hatten mich die Russen bereits von meinem Geburtsort in eine kleine Stadt zwangsverbracht. Dort lebten etwa 600 Juden. Viele von ihnen waren Ärzte, die aus Westböhmen geflohen waren und sich dort niedergelassen hatten. Im August 1942 haben die deutschen Besatzer beschlossen, diesen Ort "judenrein" zu machen und alle mussten sich bei einer in der Synagoge eingerichteten Sammelstelle melden. Wer zur Sammelstelle ging, wurde ins Vernichtungslager Belzec deportiert. Auf dem Weg zur Sammelstelle hat mein Vater einen ukrainische Polizisten getroffen, der ihm die Information gab, dass Kinder in ein Lager in der Nähe gebracht würden, das zur Wehrmacht gehörte. Wir konnten - ich glaube, dass war mit Geld verbunden - in einer Polizeistation bleiben und mein Vater hat noch ein junges jüdisches Mädchen dorthin gebracht. Später sind wir ins Wehrmachtslager mit ungefähr 30 Menschen gekommen und haben dort bis zum Mai 1943 gearbeitet. Das Lager war nicht eingezäunt, wir hatten Abzeichen, die uns als Wehrmachtsarbeiter auswiesen, in der Ortschaft war ein Krankenhaus für verwundete Soldaten. Und innerhalb des Lagers war ein Pferdestall, in dem wir kranke Pferde pflegten, und außerdem lieferten wir Gemüse für das Krankenhaus. Im Mai 1943 hat man uns ins Ghetto Drogobytsch transportiert, dass liquidiert werden sollte. Nur durch Zufall blieben meine Schwester und ich dort am Leben. In Drogobytsch gab es zwei große Industriewerke, zum einen die Karpathen-Ölgesellschaft und zum anderen die Keramikwerke. Wir schliefen im Ghetto und arbeiteten in der Fabrik. Als das Keramikwerk geschlossen wurde, wurden alle Juden, die dort arbeiteten, an einen Ort gebracht, an dem sie erschossen werden sollten. Bevor die Erschießung jedoch stattfand, wurden 120 Männer, die Fachleute wie Feinmechaniker, Schlosser und Automobilschlosser waren, für die Karpathen-Ölgesellschaft ausgesucht. Im Werk arbeiteten über 1 000 Menschen, darunter auch 600 Juden, die meisten waren Ingenieure. Sie wohnten mit ihren Familien in zwei bis drei von Stacheldraht umzäunten Häusern außerhalb des Ghettos. Ich war nicht unter den 120 Ausgewählten, da ich Baumeister war. Meine Kusine hat jedoch jemanden gebeten, auch mich mitzunehmen. Und so wurde ich vor der Erschießung gerettet. Meine Familie im Arbeitslager hat gedacht, meine Schwester und ich seien tot. Später ist meine Schwester aus dem Lager geflohen. Ich blieb dort bis zum April 1944, dann wurde ich nach Westen ins Konzentrationslager Krakau-Plaszów deportiert. Im Herbst 1944 kam ich nach Groß-Rosen und dann in eine Nebenstelle nach Waldenburg, wo ich befreit wurde. Ich war 22 Jahre alt und wog 33 Kilo.

Strobl: Frau Wieczorek, Sie haben, als Sie acht Jahre alt waren, von ihrer zweiten Mutter erfahren, dass sie nicht ihre leibliche Mutter ist und dass Sie Jüdin sind. Dann sind Jahrzehnte vergangen, bis Sie erfuhren, dass Sie nicht allein sind mit ihrem Schicksal und es noch andere jüdische Kinder gibt, denen es wie Ihnen ergangen ist. Daraufhin haben Sie den Verband "Kinder des Holocaust" gegründet.

Wieczorek: Ich möchte zunächst einmal erzählen, wie es dazu gekommen ist, dass ich die Wahrheit erfahren habe. Ich war damals acht Jahre alt und bin zum Einkaufen gegangen. Eine Bekannte meiner Mutter ist zu mir gekommen, sie hat mich angesprochen und mir gesagt: Hör mal, du bist doch Jüdin, dich haben doch Juden gebracht, Kazia ist doch nicht deine Mutter. Das war 1948 oder 1949, ich erinnere mich nicht mehr. Selbstverständlich habe ich nicht eingekauft. Ich bin sofort nach Hause gelaufen und wir haben uns hingesetzt, meine zweite Mutter und ich, und sie hat mir die Wahrheit erzählt. Ich weinte sehr, denn ich liebte meine zweite Mutter und sie liebte mich auch. Ich war so überzeugt davon, dass ich Polin war. Ich bin dann von ihr erzogen worden. Mein Judentum versteckte ich tief in meinem Herzen. Selbstverständlich habe ich meinem Mann und meinen späteren Freunden erzählt, dass ich Jüdin bin, aber nicht immer wurde das akzeptiert. In Polen sind die Verhältnisse so, dass Antisemitismus selbstverständlich vorhanden war. Viele Jahre war ich davon überzeugt, dass ich die Einzige bin, die eine solche Geschichte hat. Aber 1990 habe ich eine Anzeige gelesen, in der stand, dass sich alle Kinder, die den Holocaust überlebt haben und meinen, jüdischer Herkunft zu sein, im Jüdischen Institut melden und zu einem Treffen kommen sollten. Zu diesem Treffen bin ich gegangen und mit mir 42 andere.

Strobl: Ich habe noch eine Frage an Sie, Frau Gawronska, die Sie vielleicht auch stellvertretend für andere beantworten können. Sie waren in Warschau, Sie haben von der Seite jenseits der Ghettomauer gehört, gesehen, was geschah, und Sie haben von Ihrer Verzweiflung gesprochen. Was bedeutet der Ghettoaufstand für Sie heute, 60 Jahre später?

Gawronska: Zurzeit lebe ich in Warschau, wie vor 60 Jahren. Oft fahre ich mit verschiedenen Verkehrsmitteln ins frühere Ghetto. Wenn ich vorbeifahre, dann erinnere ich mich jedes Mal an den Aufstand. Wenn ich über den Umschlagplatz fahre, dann sehe ich ein Denkmal. Ich schließe die Augen und sehe, was es damals dort gab. Ich sehe das kleine Denkmal für die große Tragödie. Sie sollten den Umschlagplatz sehen, um zu verstehen, was er für die Menschen damals bedeutete. Wenn ich mit jungen Leuten dorthin fahre, dann sage ich immer: "Schaut einmal, hier war die Ghettomauer, hier der Eingang ins Ghetto, dort standen die SS-Männer, da haben sie die jüdischen Kinder erschossen, die Essen ins Ghetto bringen wollten." 60 Jahre sind vergangen, aber ich habe nichts vergessen. Es ist mir wirklich bewusst, dass dort jeder Stein und jedes Stück Boden mit Blut getränkt sind. Ich werde das bis zu meinem Lebensende nicht vergessen.

Übersetzung: Julia Komarowicz.

hagalil.com 18-04-03


Spenden Sie mit PayPal - schnell, kostenlos und sicher!
 
haGalil.com ist kostenlos! Trotzdem: haGalil kostet Geld!

Die bei haGalil onLine und den angeschlossenen Domains veröffentlichten Texte spiegeln Meinungen und Kenntnisstand der jeweiligen Autoren.
Sie geben nicht unbedingt die Meinung der Herausgeber bzw. der Gesamtredaktion wieder.
haGalil onLine

[Impressum]
Kontakt: hagalil@hagalil.com
haGalil - Postfach 900504 - D-81505 München

1995-2013 © haGalil onLine® bzw. den angeg. Rechteinhabern
Munich - Tel Aviv - All Rights Reserved