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Achmeds Flucht zurück zur Arbeit

Welche Anstrengungen ein junger Palästinenser unternahm, um sein Geld weiterhin, aber heimlich, auf einer israelischen Tierfarm verdienen zu können

Von Thorsten Schmitz
Süddeutsche Zeitung, 22. Mai 2001, Seite Drei

Rehovot , im Mai – Jeder andere Mensch würde weinen, Sehnsucht haben. Achmed aber lacht, blinzelt in die Sonne und leitet seinen Satz ein, wie er alle seine Sätze einleitet: "Lass mich dir was sagen: Ich bin glücklich." In adidas-Badelatschen schlurft er über einen Kiesweg, vier Köter im Schlepptau und einen schweren Eimer mit Vogelkörnern in der Hand und schaut einen an, ob man auch ja begriffen hat, was er meint. Glücklich als Palästinenser in Israel, gerade jetzt. Normal ist das nicht.

Achmed ist weit weg von seiner Frau, seinen drei Töchtern und dem einen Sohn. Er ist alleine an einem Ort, an dem er nicht sein darf und an dem man nicht seine Sprache spricht, arabisch. Er muss sich verstecken. Und wenn er sich abends zum Schlafen auf sein Pritschenbett legt und die vergilbten Poster der israelischen Sängerin Ofra Haza anschaut, deren Musik er nie gehört hat, liegt neben ihm nicht seine Frau und krault ihm den Rücken. Sondern der schnarchende Mustafa, der nach Schweiß riecht und genauso grobe Hände hat wie Achmed. Und trotzdem ist Achmed glücklich, "zum ersten Mal seit acht Monaten". Denn er hat Arbeit und verdient Geld. Ein Vermögen, sozusagen. Achmed stammt aus Gaza und ist jetzt in Israel, heimlich und illegal.

Früher haben 120000 Palästinenser jeden Tag in Israel Straßen geteert und Gärten gepflegt, Patienten den Po abgewischt und den Müll zusammengekehrt. Heute dürfen höchstens noch 5000 nach Israel. Die Juden fürchten die Muslime seit der Intifada mehr denn je, Thailänder machen jetzt die Jobs der Palästinenser. Dabei ist Achmed gar keiner dieser Palästinenser aus der Tagesschau, die Steine werfen oder Molotowcocktails. Er ist ein einfacher Mann, sagt er von sich selbst. Einer, der die Juden nicht wie viele seiner Freunde dafür hasst, dass sie in Israel eine Heimat gefunden und aufgebaut haben. "Mit Politik habe ich nichts zu tun", sagt er. Eines Tages werde es Frieden geben, "muss doch".

Achmed kommt aus dem Flüchtlingslager Rafiach im Süden des Gazastreifens, er hat dort ein Haus, für dessen letztes Stockwerk ihm das Geld fehlt. Er besitzt also ein Haus ohne Dach, und er hat eine von seinem Vater geerbte Plantage mit Obstbäumen drauf und welchen, an denen gerade Avocados wachsen. Weil in Gaza nur wenige Jobs zu vergeben sind und Achmed nicht auf Arafats Lohnliste als einer der vielen überflüssigen Polizisten stehen mochte, hat er die letzten Jahre in Israel gearbeitet, zuletzt auf einer Farm für Papageien und Vögel im Zentrum Israels. Ist jeden Morgen um halb drei aufgestanden, war um fünf am Grenzkontrollpunkt Eres im Norden, hat sich in die Schlange zur Ausreise eingereiht, eine Stunde jeden Morgen, weil die israelischen Soldaten jeden Palästinenser ganz genau prüfen, hat sich in ein Sammeltaxi gesetzt und war nach vier Stunden auf der Farm. Nach zehn Stunden Arbeit dort wieder vier Stunden zurück. Als aber die Intifada ausbrach, bekam Israel soviel Angst vor den Palästinensern, dass es Gaza ganz abschloss. Achmed musste in Rafiach bleiben und seine Familie mit Gelegenheitsjobs durchfüttern. Eine "furchtbare Zeit", sagt er. Aus Gaza, wo 1, 3 Millionen Palästinenser und etwa 6000 jüdische Siedler leben, kommt seit acht Monaten kaum ein Palästinenser mehr raus. Es ist ein Gefängnis mit Meerblick, der laut UN am dichtest bevölkerte Flecken der Welt. Die 6000 jüdischen Siedler leben auf 40 Prozent der Fläche Gazas, geschützt von einer Armada israelischer Soldaten.

In Gaza gibt es keine Zukunft und also auch kein Geld. Die zehn Mark, die Achmed auf dem Markt in Rafiach als Tomatenverkäufer am Tag verdient hat, sind für Zigaretten draufgegangen und für die Schulhefte seiner Töchter. Nur gut, dass in seinem Garten Äpfel wachsen und Avocados. Mehl fürs Brotbacken bekommt seine Frau von einer UN-Hilfsorganisation–wenn Israel die Lieferungen hineinlässt. An seinem 30. Geburtstag am 1. Mai zieht Achmed während der Feier seine Frau beiseite und weiht sie in seinen Plan ein. Sie weint, wischt die Tränen aber schnell weg, damit die Kinder sie nicht sehen. Die sollen erst gar nicht erfahren, dass ihr Vater das Zuhause verlässt. Er hätte ihnen nicht sagen können, wann er wiederkommt.

Mit gefälschtem Attest

Am nächsten Morgen in aller Frühe macht sich Achmed auf die Reise in das Land, das in gewisser Weise für seine Not verantwortlich ist und in dem er seine Not zu lindern hofft. Mit einem gefälschten Attest, für das er einem befreundeten Arzt in Gaza 200 Mark bezahlt hat und das ihm zu einer Behandlung in ein Krankenhaus in Jerusalem überweist, büxt Achmed aus dem Gefängnis Gaza aus. Ein Ambulanzwagen fährt ihn in ein Krankenhaus nach Ost- Jerusalem. Dort entschuldigt er sich und verschwindet in Richtung Toilette –tatsächlich aber verlässt er das Krankenhaus über die Wäscherei. Erfüllt von Angst, dass israelische Polizisten ihn anhalten könnten, macht er sich auf den Weg zur Tierfarm, benutzt Busse und Sammeltaxis, und meidet es, anderen Leuten ins Gesicht zu schauen. "Augen verraten immer alles", sagt Achmed. Seine sind braun und warm und groß.

Am späten Abend legt Achmed die letzte Strecke zur Tierfarm zu Fuß zurück. Die Zigaretten sind ihm ausgegangen und auch das Wasser, er hat kein Geld mehr in der Tasche, alles für Fahrten und Zigaretten ausgegeben. Staubig und verschwitzt und alleine und ein bisschen ängstlich steht er vor dem Tor zur Farm, die er vor acht Monaten zum letzten Mal betreten hat, und klingelt. Ob die Besitzer sich erschrecken, fragt sich Achmed, als der Türsummer ertönt und er das Gelände betritt. Die vier Hunde kommen zuerst angerannt, ihre Schwänze wedeln vor Freude. Dann kommen Dalia und Zvi und ihr Sohn Ras. Sie schütteln Achmeds Hand und fragen nicht, was er in Israel tut, sondern sie wollen wissen, ob Achmed zuerst duschen oder etwas Warmes zu essen möchte. Ein Bier wäre jetzt nicht schlecht, sagt Achmed. Das war vor drei Wochen.

Wenn man Achmed jetzt besucht, ist er ein "fröhlicher und zufriedener Mensch", sagt Dalia. Sie mag an ihm, dass er sie mag und nicht nur die Jüdin in ihr sieht. Sie sitzt mit Achmed an einem Tisch und schneidet ihm ein Stück ihres selbst gebackenen Schokoladenkuchens ab und will, dass Achmed von seinen drei Töchtern erzählt. Bilder kann er nicht zeigen, er war vor drei Wochen so überstürzt aufgebrochen, dass er noch nicht mal Fotos hat mitnehmen können. Das Geld, das er jetzt bei den Scherfs mit Tierefüttern und Käfigputzen verdient, überweist er nach Gaza. Achtzig Mark am Tag bekommt er, plus Essen und Zahnpasta. Telefonieren mit Daheim traut er sich nicht, er hat Angst, dass die Gespräche abgehört werden könnten.

Die Tage auf der Farm sind immer gleich, denn das Gelände will Achmed besser nicht verlassen: "Wenn ich entdeckt werde, muss ich wieder zurück nach Gaza." Und da will er partout nicht mehr hin, solange die Fundamentalisten den Streifen regieren. Von Palästinenserpräsident Jassir Arafat hält Achmed viel, "er ist wie ein Familien-Oberhaupt". Aber die Intifada sei ihm längst entglitten: "Andere haben die Macht in Gaza, nicht mehr Arafat." Am liebsten wäre Achmed, sagt er und lacht dabei, "dass Gaza zu Israel wird und wir demokratische Verhältnisse bekommen".

Dass Familie Scherf in diesen Tagen einen Palästinenser beschäftigen und ihm Unterschlupf gewähren, ist ihnen so selbstverständlich, dass sie die Frage nach dem Warum erst gar nicht verstehen. "Warum denn nicht?"

haGalil onLine 22-05-2001


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