Der eben noch totgeglaubte
Zionismus ist durch die Intifada wieder salonfähig geworden: "Wir haben
nur ein Land"
Der neue Glanz
des Davidsterns
Schulbücher
werden umgeschrieben, Jugendliche können den Ruf der Armee kaum erwarten
– Israel schwimmt auf einer Welle des Patriotismus
Von Thorsten
Schmitz
Tel Aviv, im November – Die
Verzweiflung bei Dana Deriwianski ist groß, und das Schlimme ist:
Niemand kann ihr helfen. Sie sucht einen Anfang für ihre Geschichte,
Redaktionsschluss ist in fünf Stunden, die Zigaretten sind ihr
ausgegangen. Ohne Marlboro Light aber sind erste zündende Sätze über das
ausschweifende Sexleben Tel Aviver Männer undenkbar. Also huscht Dana an
den hochgezogenen Augenbrauen ihres Chefredakteurs vorbei und rast zum
Kiosk.
Unterwegs klingelt ihr Handy
viermal, einmal ist es ihr Freund Eran, ob sie am Abend zum Essen nach
Hause komme, darauf folgen drei Anrufe von Diskotheken- und
Galerienbesitzern, die sie auf ihre Gästeliste für heute Nacht setzen
wollen. Das fünfte Telefonat tätigt sie selbst: "Eran, mein Süßer, warte
nicht mit dem Salat auf mich, es wird spät." Vorsichtshalber hat Dana
stets ein Outfit in ihrem Büro, das zum Clubben taugt und zum
Kunstanschauen, ein bordeauxfarbenes Stück Stoff à la Gucci.
Dana Deriwianski ist die Suzy
Menkes von Tel Aviv: Wie die Trendsetterin der International Herald
Tribune schreibt Dana, wo es langgeht in Sachen Mode und Kunst und wo
man hingehen sollte nach Mitternacht und am frühen Morgen. Ungetrübt von
der Zermürbungskraft der Intifada und ihren über 900 Toten betreibt Dana
das Geschäft des schönen Scheins – und ruft alle Israelis zur "Love
Parade" am Strand von Tel Aviv auf, wo "wir den Krieg vergessen", oder
zum Gang in die Sommer-Galerie, wo die New Yorker Fotografin Nan Goldin
Nacktbilder von ihren Freunden ausstellt. In Tel Aviv, der
Wochenendbeilage von Jediot Achronot, schreibt sie Kolumnen und
Drehbücher, Theaterstücke und Lifestyle-Reportagen, ihr entgeht kein
Maler, kein Fotograf, kein Filmemacher. Auf dem Weg zurück ins Büro hat
Gott Erbarmen mit ihr und schenkt ihr einen Geistesblitz: Die ersten
drei Sätze für den Artikel.
Mehltau auf den Seelen
Die Politik und die Intifada sind
im Leben von Dana Deriwianski ganz weit weg, so gut das eben geht in
einem Land, in dem man an Bushaltestellen von Palästinensern erschossen
werden kann. Sie versucht, die Gefahr auszublenden. Und auch die
Trostlosigkeit: Seit der Intifada, erklärt Dana, habe sich eine
Depression wie Mehltau auf die Seelen der spaßsüchtigen Bewohner Tel
Avivs gelegt. In ihren wenigen ruhigen Momenten beschleiche sie die
"düstere Ahnung, dass wir noch Jahrzehnte existenziell bedroht sein
werden, weil die Palästinenser in Wahrheit ganz Israel wollen". Ihr
Aha-Erlebnis hatte sie in Akko, der nordisraelischen Küstenstadt, in der
fast nur Araber leben, also Palästinenser mit israelischer
Staatsangehörigkeit. Dana musste nach Akko zum Theaterfestival, und
zwischen zwei Aufführungen ging sie mit Schauspielern in ein arabisches
Lokal. Alle bestellten Berge von Lammspießen, Humus und Salat, nur sie,
sagt Dana, sei von der Wirkung eines Bildes im Lokal "regelrecht
aufgesogen" worden. Das in Öl gemalte Stillleben zeigte einen alten
Palästinenser unter einem Olivenbaum, neben ihm ein Junge, der einen
neuen pflanzt. "Ein Olivenbaum ist das stärkste Zeichen für die
Heimatverbundenheit der Araber. Wenn der Junge einen neuen pflanzt,
heißt das, sie haben eine von Generation zu Generation übertragene
Geduld." "Stoisch" warteten sie darauf, dass "ihr" Land wieder "ihr"
Land werde. Noch während die Theatermeute sich über die Essensberge
hermachte, beschloss Dana, doch ein wenig Politik in ihr Leben
hineinzulassen.
Am Abend kramte sie in ihrer
Schmuckschatulle nach dem "Magen David", einem goldenen Davidstern, den
sie seit ihrer Bar Mizwa nicht mehr getragen hatte. Seitdem hat Dana den
goldenen Stern nicht mehr abgelegt. Wenn sie jetzt jemand fragt, warum
ausgerechnet sie das Zeichen trägt, sagt sie je nach Laune "Weil ich die
Palästinenser hasse", was nicht ernst gemeint sei, oder "Weil ich stolz
auf Israel bin", was stimme. Wie dieses Volk in 50 Jahren ein High-
Tech-Land aus dem Boden gestampft habe, beeindrucke sie maßlos.
Wenn Dana nach New York fliegt
oder nach Berlin, "fungiere ich automatisch als Botschafter Israels,
weil alle Welt gegen uns ist". Da helfe ihr jetzt der "Magen David", er
soll sie schützen. Danas Eltern trauten ihren Augen nicht, als die
kosmopolitische Tochter, die Feiertage und Synagogen hasst, mit dem
Davidstern um den Hals auftauchte. "Was hat dich zur Nationalistin
gemacht?", wollte die Mutter wissen. Sie glaubt an Schimon Peres und
dessen Vision vom "Neuen Nahen Osten", in der Palästinenser und Israelis
keinen Hass, sondern gemeinsam Mikro-Chips produzieren. Dana zischte:
"die Intifada" und dass sie deshalb "jetzt erst recht" den Davidstern
trage. Ihre Freunde und Bekannten fanden die Idee zunächst nur witzig,
inzwischen auch richtig. "Fünf Freundinnen laufen jetzt schon mit dem
Stern herum."
Danas Gag ist nicht nur ein
Trend, über den sie schreiben würde, hätte sie ihn nicht kreiert. Es ist
ein Indiz für die Renaissance des Zionismus, der Israel und seine fünf
Millionen Juden erfasst hat. Die eben noch tot geglaubte Idee Theodor
Herzls aus dem 19. Jahrhundert, der den Zionismus propagiert hatte und
dessen immanente Forderung, eine jüdische Heimstätte zu schaffen, ist 14
Monate nach Beginn der Intifada wieder salonfähig geworden – auch wenn
es den Staat Israel ja längst gibt. Israel, schreibt der Jerusalem
Report, sei so "geeint" wie schon seit dem Jom-Kippur-Krieg 1973 nicht
mehr. Auf der Love Parade und auf der Gay Pride, ihrem schwulen
Äquivalent, liefen Jugendliche im Oktober, nur mit der israelischen
Flagge beschürzt, zu lauter Techno-Musik die Straßen entlang, und selbst
die aktivsten Tänzer waren bereit, auf zeitlich denkbar ungünstige
Fragen des Reporters patriotische Statements abzugeben. "Je mehr die
Palästinenser uns angreifen, umso mehr bin ich bereit, für unser Land zu
kämpfen", sagte David aus Netanja etwa, der einen Davidstern an eine
Brustwarze gepinnt hatte. "Wir haben nur ein Land, die Palästinenser
haben mehr als zwanzig Länder, in die sie gehen können", pflichtete ihm
seine Freundin Tali bei. Auf ihrem T-Shirt stand "Made in Israel".
Spät in der Nacht, als Tausende
von Love-Parade-Tänzer am Ende der Strandpromenade auschillen, dort, wo
im Juni ein Palästinenser sich und 22 israelische Jugendliche in die
Luft gesprengt hat, zog Ofer, der DJ, an einer Zigarette. Er war seit
zehn Stunden in eine Welt aus Ecstasy, Joints, Red Bull mit Wodka und
Mineralwasser abgetaucht und saß auf einem Stück Rasen vis-à-vis vom
Tatort, als er sagte: "Morgen muss ich in die Armee für einen Monat. Und
auch wenn ich weiß, dass sie uns allen Schaden zufügt und wir alle mit
einem Trauma herumrennen, das uns das ganze Leben lang verfolgen wird:
Ich bin stolz auf mein Land und ich werde es verteidigen. Wenn wir es
nicht tun, tut es niemand." Im Verteidigungsministerium heißt es, viele
Schulabgänger könnten die Einberufung in Elitekampfeinheiten der Armee
"kaum abwarten, die bestürmen uns regelrecht, wann es denn los geht",
erklärt ein Sprecher.
Die Gewalt der Palästinenser, die
die Rückeroberung der alten Heimat als Ziel vorgibt, hat die Kinder der
vom Zionismus beseelten Einwanderergeneration zu neuen Patrioten
gemacht. Die Bedrohung durch palästinensischen Terror, Versuche wie den,
auf der UN-Konferenz im südafrikanischen Durban den Zionismus als
"Rassismus" zu geißeln, das Gefühl, von der Welt im Stich gelassen zu
werden – alles das lässt Alt und Jung zusammenrücken. Selbst
Schriftsteller wie David Grossman und Amos Oz, die Ehud Barak bei seinem
gewagten Versuch unterstützt hatten, den hundertjährigen Konflikt zu
beenden, haben sich von ihren strikt linken Ideen abgewendet. Oz heißt
gezielte Tötungen mutmaßlicher palästinensischer Terroristen gut, und
Grossman beobachtet: "Immer wieder lese ich in der europäischen Presse
feindselige Bemerkungen über Israel. In den letzten Wochen spüre ich,
dass sich die Feindseligkeit nicht nur aus dem Verhalten der
Scharon-Regierung speist." Die Juden in Israel besinnen sich auf ihre
Wurzeln und trotzen dem Anti-Israelismus, indem sie sich hinter Ariel
Scharon scharen, dem 74 Jahre alten Premierminister und Protegé von
Staatsgründer David Ben Gurion. Nach dem Mord an Tourismusminister
Rechawam Seewi hielt Scharon in der Knesset eine Rede, die in der
Aussage gipfelte: "Von nun an verlassen wir uns nur noch auf uns
selbst."
Scharon präsentiert sich als
Vater der gefährdeten Nation und hält bei jeder Gelegenheit die
Traditionen und Wertvorstellungen der Juden hoch – sie münden in
zionistische Gedanken und Taten. Scharon verfolgt die Absicht, innerhalb
der kommenden zehn Jahre eine Million Juden zur Immigration nach Israel
zu bewegen. Emissäre der Jewish Agency sind in diesem Sommer nach
Argentinien, Südafrika und Frankreich ausgeschwärmt und suchen dort die
"Alija", die Auswanderung nach Israel, schmackhaft zu machen. In
Argentinien hätten sie, berichten Mitarbeiter der Jewish Agency,
"leichtes Spiel". Die wirtschaftliche Situation dort ist katastrophal.
Scharon möchte mit seinem Lockruf ins Heilige Land der Demographie ein
Schnippchen schlagen: denn schon bald werden mehr Araber als Juden in
Israel leben. Die Alija soll das verhindern. Die Immigration einer
Million Juden, die auf Herzls Zionismus beruht, ist Scharons "größter
Wunsch".
Verbunden mit dem Boden
Manchmal gewährt der Witwer
Einlass in seine Gemächer und gestattet handverlesenen Journalisten
einen Blick auf sein Reich, eine 1500 Hektar große Farm am Rande der
Negev-Wüste im Süden des Landes. Eine Reporterin des englischen Guardian
erhielt letzte Woche einen Anruf aus Scharons Büro, sie dürfe den
Premierminister auf seiner Farm besuchen. "Ich weiß selbst nicht, warum
Scharon ausgerechnet mich ausgesucht hatte." Einen neuen Scharon hatte
sie nicht entdecken können, aber eine Vorstellung davon bekommen, wie
verbunden der Mann mit dem Boden ist, auf dem er lebt. Unter Zitronen-
und Orangenbäumen, irritiert von Fragen der Journalistin nach dem
Schicksal palästinensischer Flüchtlinge, blaffte Scharon: "Wie können
Sie nur gerade hier und jetzt von Arafat reden. Das ist Zionismus",
sagte Scharon, "Land bestellen und besitzen." Und pflückte Zitronen für
die Reporterin. Im gepanzerten Jeep führte Scharon die Gäste zu seinen
Rindern und zu den Schafen. Als er den Blick über sein Land schweifen
ließ, rechtfertigte er sein militärisches Vorgehen gegen
palästinensische Gewalt so: "Hier war schon immer jüdisches Leben. Im
Moment kämpfen wir um unser Überleben." Wie man so leben könne, fragt
die Reporterin, ständig auf der Hut und mit dem Gewehr im Anschlag. "Zu
allererst bin ich Jude", erwiderte Scharon. "Das ist meine Pflicht."
Israel schwimmt auf einer Welle des Generationen übergreifenden
Patriotismus.
Der Enthusiasmus jüdischer
Israelis für Israel ist groß – und dass er ja nicht abebbt, dafür sorgt
Limor Livnat. Die strenge Likud-Aktivistin ist von Scharon zur
Erziehungsministerin erkoren worden. Kaum hatte die 51 Jahre alte Livnat
sich mit ihrem Amt vertraut gemacht, zog sie Tausende neuer Schulbücher
für Neuntklässler aus dem Verkehr. Es waren Geschichtsbücher, die
Livnats linker Vorgänger Jossi Sarid hatte einführen lassen. In ihnen
war erstmals die palästinensische Seite bei Israels Staatsgründung
eingehender beleuchtet worden. Zu eingehend, meint Livnat, die sich
übrigens weigert, von einer deutschen Zeitung interviewt zu werden –
wegen des Holocaust. Die Bücher hätten "den Zionismus außer Acht
gelassen". Seit Beginn des neuen Schuljahres werden Israels jüdische
Schüler deshalb einmal wöchentlich über die Wurzeln des Zionismus und
das jüdische Erbe unterrichtet, auch Archäologie kommt zur Sprache, mit
besonderem Augenmerk auf die Geschichte Jerusalems. Zudem "empfiehlt"
Livnat allen Schulen, statt modischer Pausenmusik alte israelische
Lieder zu spielen. Die israelische Flagge solle fortan auf dem Schulhof
gehisst werden – schließlich "weht selbst auf der Fifth Avenue auch die
amerikanische Fahne". Es sei ihr "wichtig", dass "kein einziges Kind in
Israel es versäumt", die Grundlagen der jüdischen und zionistischen
Geschichte parat zu haben. Die Jugend solle sich auf ihre "Wurzeln"
besinnen und "patriotischen Stolz" empfinden für die "Nation".
Der Kurs der "Eisernen Lady" mag
das jüdische Israel einen – es entfremdet die Israelis zweiter Klasse,
die eine Million Araber. Die meisten fühlen sich wie Fremde im eigenen
Land, auf dessen Gebiet sie und ihre Vorfahren oft schon länger leben
als die meisten jüdischen Israelis. Ihre Schulen und die Infrastruktur
ihrer Städte in Galiläa sind oft schlechter ausgestattet als die
jüdischer Kommunen. Zum Schuljahresbeginn streikten arabische Schüler
und Lehrer, weil Wände porös, Klassen zu groß und Unterrichtsmaterialien
knapp waren. Israelische Araber fühlen sich doppelt benachteiligt – und
in einer seltsamen Situation. "Als Araber in einem jüdischen Staat zu
leben, ist schizophren", sagt Sanaa Chamud. Gleichwohl, meint die
Rechtsanwältin in einem arabischen Café in der Küstenstadt Haifa, "geht
es uns natürlich hier viel besser als in den Palästinensergebieten."
Selbst wenn Arafat seinen Staat ausriefe, würde Chamud in Israel
bleiben. Wenn auch mit "zwiespältigen Gefühlen". Das Land sei von
Patriotismus erfasst, unter Ausschluss der arabischen Israelis.
Ungalante Fragen
Chamud begleitet den Or-Prozess,
der seit Monaten herauszufinden versucht, weshalb israelische Polizisten
im Oktober vor einem Jahr bei Demonstrationen in Galiläa 13 arabische
Männer erschossen haben – anstatt sie einfach nur festzunehmen. Die 27
Jahre alte Chamud hört sich die Klagen von arabischen Lehrern und
Schülern an und versucht, Projekte auf die Beine zu stellen, die die
arabischen Jugendlichen von der Straße holen. Denn viele von ihnen
flüchteten aus "dem Gefühl der Minderwertigkeit" heraus in Alkohol und
Drogenkonsum. "Israel hat uns Palästinenser zu Israelis gemacht und
lässt uns jetzt allein." Chamud kämpft für die Gleichberechtigung der
arabischen Israelis – und sie verwirrt.
Als der Kellner ihren
Pfefferminztee bringt, stammelt er erst, dann traut er sich doch: "Sie
sind doch bekannt?" Chamud lächelt. Sie spricht perfektes
Hoch-Hebräisch, hat einen offenen Blick und traut sich vieles zu. Seit
ihrem Auftritt in einer Talkshow vor zwei Monaten will ihr das
israelische Fernsehen ein eigenes Programm geben. In der Talkshow saß
Chamud alleine einem bekannten israelischen Talkmaster gegenüber – und
konterte selbst noch die ungalantesten Fragen mit entwaffnender
Offenheit. Warum sie so gut Hebräisch spreche, wenn doch nur alle Araber
so wären wie sie, ob sie sich mehr zu Israel hingezogen fühle oder zu
den Palästinensern. Nach der Sendung, die wegen der großen Resonanz
wiederholt wurde, erhielt Sanaa Chamud über 300 Anrufe – bis sie ihre
Telefonnummer bei der Auskunft sperren ließ. Jüdische Israelis riefen
sie an, "zwischen 17 und 70 Jahren", und sie alle wollten einfach nur
mit ihr reden – manche sprachen zum ersten Mal mit einer israelischen
Palästinenserin: "Ich habe mich gefühlt, als hätte ich ein Tor
geöffnet." Ein Mädchen aus Tel Aviv rief gleich dreimal an, weil Sanaa
Chamud ihr durch ihre sanfte und zugleich direkte Art gezeigt habe,
"dass wir Juden und die Araber dieselbe Sprache sprechen". Beim letzten
Anruf jedoch versetzte das Mädchen aus Jerusalem Sanaa Chamud einen
Dämpfer: "Sanaa, wir lieben dich, aber wir denken leider anders."
hagalil.com / 25-11-2001 |