Maß für Maß
Weltpolitik is coming home - tote Juden, Joschka Fischer und der Zufall
bringen die globalen Ansprüche Berlins und Brüssels voran
Von
Ralf Schröder
konkret - Zeitschrift für Politik und Kultur, 07/2001
Die Europäische Union hat sich vorgenommen, im Nahostkonflikt eine
deutlich prominentere Rolle zu spielen als bisher. Sie will in der
Region nicht nur der großzügigste Geber von Finanz- und
Entwicklungshilfe sein, sondern auch größeren politischen Einfluß
ausüben. Das entspricht dem neuen Selbstverständnis einer Gemeinsamen
Außen- und Sicherheitspolitik, die ein breites Instrumentarium zur
Konfliktverhütung und Krisenbewältigung verlangt und erkennbar nach
Bewährung drängt.
"FAZ", 22.5.2001, 10 Tage vor Fischers Nahost-Mission
Was Shakespeare Isabella in "Maß für Maß" sagen läßt, das wäre eine gute
Devise für Amerikas Auftreten in der Welt: "Ach, 's ist groß des Riesen
Kraft; doch tyrannisch, dem Riesen gleich sie zu gebrauchen."
"FAZ", 13.6.2001, 10 Tage nach Fischers Nahost-Mission
Drei Tage vor dem Bush-Besuch auf dem Göteburger EU-Gipfel und pünktlich
zum Redaktionsschluß dieser KONKRET-Ausgabe befaßte sich der Leitartikel
der "FAZ" wieder einmal mit dem Zustand der europäisch-amerikanischen
Partnerschaft. Nach dem Kalten Krieg habe es ein "Auseinandertreiben der
Politik" gegeben. "Regionale, globale
und strategische Fragen" würden heute "unterschiedlich beurteilt", das
zeige sich u.a. am "Beispiel des Iraks". Trotz der
"Interessendivergenzen" müsse die transatlantische Partnerschaft die
"großen Aufgaben" gemeinsam angehen, allerdings: "Was der Regierung in
Washington guttäte, wäre eine Portion Bescheidenheit ..., unbeschadet
der Tatsache, daß sich die Vereinigten Staaten im Zenit ihrer Macht
befinden." Die Hinweise auf den Irak und auf die Endlichkeit
amerikanischer Dominanz sind kein Zufall; sie lesen sich wie das
diskrete Fazit der jüngeren Großmachtkonkurrenz im Nahen Osten. An
diesem mörderischen Wettbewerb nimmt, nachdem Außenminister Fischer
Anfang Juni einen (sicherlich prekären) Waffenstillstand zwischen den
Palästinensern und Israel vermittelte, Deutschland ganz offiziell teil.
Bereits vor der Fischer-Mission war die strategische Gesamtlage im Nahen
Osten für die USA nicht gerade erfreulich. Seit langem streng verfeindet
mit den Staaten Irak und Iran, die als Öllieferanten sowie als Adresse
für Waren- und Kapitalexporte ziemlich bedeutend sind, scheiterte im
vergangenen Spätsommer mit dem Treffen von Camp David Clintons Versuch,
zumindest in Palästina geordnete Verhältnisse herzustellen. Seitdem
sehen auch die Palästinenser Washington wieder uneingeschränkt als
Gegner. Betrachtet man es in diesem Zusammenhang als - arbeitsteiligen -
Block, steht EU-Europa ungleich besser da. Während die USA äußerst enge,
aber sehr subventionsträchtige Beziehungen zu Ägypten und Saudi-Arabien
unterhalten, sind die Deutschen und Franzosen in Teheran, in Bagdad und
bei den Palästinensern hoch angesehen. Darüber hinaus herrschen zwischen
Paris und Damaskus außerordentlich freundschaftliche Beziehungen.
Wirkliche Feinde haben die Europäer in der Region nicht, echtes
Mißtrauen wird ihnen allein von Israel entgegengebracht. Während die
arabisch/iranischen Beziehungen der Europäer zudem wirtschaftlich
lukrativ sind oder es werden sollen (Irak), haben sie zudem in den
meisten politischen Streitfragen Rußland und China auf ihrer Seite.
Dieser informellen Koalition, die das von der Uno verhängte und von den
USA überwachte Embargo gegen Saddam Hussein mit wachsendem
Selbstbewußtsein unterläuft, galten mittelbar die Bomben, die George
Bush in seiner ersten größeren außenpolitischen Aktion Mitte Februar
über dem Irak abwerfen ließ.
Auch in der Palästinafrage hat die EU bzw. eine Reihe ihrer Staaten nach
dem Scheitern von Camp David, das endgültig eine ernste Krise der
Hegemonialpolitik Washingtons markierte, verstärkt die Konfrontation mit
den USA gesucht. Und mit Israel. Im Oktober 2000 stimmten in der
Uno-Vollversammlung neun der 15 EU-Staaten, darunter Frankreich und
Österreich, für eine arabische Resolution, die Israel einseitig wegen
der Anwendung "exzessiver Gewalt" verurteilte. Die übrigen EU-Mitglieder
enthielten sich der Stimme. Ein solches Abstimmungsverhalten wurde
danach in internationalen Gremien, etwa der
Uno-Menschenrechtskommission, zur Regel.
In den vergangenen Wochen absolvierten Repräsentanten der
EU-Mitgliedsstaaten sowie Mitglieder des Brüsseler EU-Apparates
gemeinsam mit ihren arabischen Freunden einen Staffellauf gegen die USA
und Israel. Anfang März stellte die "Süddeutsche Zeitung" in einer
Analyse der europäischen Nahostpolitik "ein Ende der übergroßen
Vorsicht" gegenüber Israel fest. In dem Artikel wird die
palästinensische Autonomiebehörde als "Pflegekind der EU" bezeichnet.
Zudem werden EU-Diplomaten mit der Feststellung zitiert, für den Nahen
Osten sei "Europa die langfristige Antwort". Im April verlangte der
Außenminister Belgiens, das im Juli die EU-Ratspräsidentschaft
übernimmt, von den Europäern eine "aktivere Rolle bei der Lösung des
Nahost-Konflikts". Ende April besuchte Ägyptens Präsident Mubarak Berlin
und forderte ein stärkeres Nahost-Engagement der EU sowie Bundeskanzler
Schröder auf, eine Vermittlerrolle zu übernehmen. "Mubaraks Appell", so
die "FAZ", "stößt in Brüssel auf offene Ohren." Anfang Mai forderte
Dänemark "im Namen vieler EU-Regierungen die israelische Führung scharf
zu einer politischen Kursänderung" auf ("FR"). Zwei Tage später mußte
der israelische Außenminister Peres anläßlich der Eröffnung der neuen
Botschaft in Berlin nach Angaben der "FR" zur Kenntnis nehmen, "im
Moment" liege "das Haupthindernis für einen neuen Anlauf zu
Nahost-Verhandlungen nach deutscher Einschätzung auf israelischer
Seite". Einige Tage später meldete die "FR": "Die derzeitige
EU-Ratspräsidentin, Schwedens Außenministerin Anna Lindh, und der
EU-Außenkommissar Chris Patten fahren verbale Attacken auf Israel."
Mitte Mai verlautbarte die EU, bei den anstehenden Gesprächen über die
Handhabung des Assoziierungsabkommens werde Israel wegen falsch
deklarierter Waren aus den besetzten Gebieten zur Rede gestellt. Obwohl
es um eine Zollfrage und nicht um Sanktionen gehe, so zitiert die "SZ"
EU-Sprecher, handele es sich bei der schärferen Beobachtung
"israelischer Exportpraktiken" um eine Maßnahme "von hohem symbolischen
Wert". Am 20. Mai forderte die Arabische Liga das sofortige Eingreifen
internationaler Streitkräfte, um Israel am "organisierten Töten von
Zivilisten" zu hindern. In der "Spiegel"-Ausgabe vom 21. Mai
beschuldigte der Uno-Sonderbeauftragte Larsen die israelische Armee, den
Aufstand der Palästinenser weiter anzuheizen, und forderte, neben den
USA müßten auch die Uno, Europa und Rußland in eine Konfliktlösung
eingebunden werden. Am 27. Mai verlangten die Außenminister der 56
islamischen Staaten ein stärkeres Engagement der Europäer im
Nahost-Konflikt. In einem Resümee dieser israelkritischen Kampagne
schrieb die "FAZ" am 22. Mai, ein stärkeres Engagement der Europäer im
Nahen Osten" werde "von den arabischen Staaten seit langem gefordert und
von Israel inzwischen widerstrebend akzeptiert". Das Letztere ist Unfug:
Wenn israelische Politiker ein stärkeres Engagement der Europäer
befürworten, dann fast ausschließlich mit der richtigen Begründung, die
EU-Staaten seien am ehesten in der Lage, mäßigend auf die Palästinenser
einzuwirken.
Damit sah die Lage vor der Nahost-Reise Fischers so aus: Durch die
konzertierte arabisch-europäische Agitation hatte die alte PLO-Forderung
nach einer Internationalisierung des Konflikts einen bisher nicht
gekannten Nachdruck erhalten. Dieser wurde befördert durch das in
Politik und Medien festgestellte aktuelle amerikanische Desinteresse an
dem Konflikt; das dadurch entstandene Vakuum, so hieß es einhellig, sei
gefährlich und müsse gefüllt werden. Untermauert wurde der Anspruch auf
europäische Zuständigkeit plötzlich durchweg mit dem geopolitisch
gefärbten Hinweis, das "nahöstliche Pulverfaß" liege vor der
EU-"Haustür" ("SZ") bzw. in einer "Nachbarregion", in der "unsere Leute
Urlaub machen" (Fischer).
Unmittelbar vor seiner Abreise hatte Fischer geäußert, mit seiner Tour
wolle er lediglich die europäische Rolle in Nahost sowie die zugehörigen
Friedensbemühungen des ehrlichen Maklers Solana stärken, keineswegs aber
den USA in die Parade fahren. Auch nachdem ein palästinensischer
Hamas-Selbstmordattentäter am 1. Juni vor einer Diskothek in Tel Aviv 21
Israelis ermordet und ca. 120 verletzt und Fischer in der Folge Arafat
die Zustimmung zu einer Waffenruhe abgerungen hatte, um mögliche
israelische Vergeltungsmaßnahmen abzuwenden, blieb er demonstrativ
bescheiden. Es sei zusammen mit anderen gelungen, eine "schlimme
Tragödie vorläufig abzuwenden" (die in Wahrheit doch gerade
stattgefunden hatte). Das Gewicht Europas, log der Minister in der
Sprache der Diplomatie, sei durch seine Mission im Vergleich zu den USA
nicht gewachsen.
Die politische Verwertung der jüdischen Leichen übernahm das zuständige
Personal. Für die Berliner "Morgenpost" wurde Fischer zum
"Friedensengel"; der "Spiegel" lobte, der Außenminister habe "den Sturz
der Region ins Kriegschaos" verhindert. Tagesthemen-Kommentator
Cichowicz stellte am 5. Juni zunächst klar, die "wahren Ursachen" für
die Selbstmordattentate seien in der israelischen Politik zu finden,
durch Fischer allerdings sei nun "das Fenster zum Frieden" wieder offen
- "Chapeau, Herr Außenminister!"
Während Hintergrundberichte vom stillen Stolz im Auswärtigen Amt
kündeten, wurde anderswo geklotzt. Die "FAZ": "Während ein
amerikanischer Diplomat von Arafat vermutlich als Befürworter vor allem
israelischer Belange angesehen worden wäre, erkannte Arafat in dem
Europäer und Deutschen einen ehrlichen Mittler." Die Amerikaner hätten
"ein wenig irritiert ... zur Kenntnis nehmen müssen, daß Fischer ...
gelang, was Sonderbotschafter Burns vor einer Woche nicht erreicht
hatte." Der "Spiegel" sah bereits Anzeichen amerikanischer
Subordination: "Artig klopfte US-Botschafter Martin Indyk an Fischers
Suite im Jerusalemer King David Hotel, um sich ... persönlich zu
informieren. In der jordanischen Hauptstadt Amman kam der
US-Sondergesandte William Burns - der unlängst in eigener Mission
gescheitert war - zum Flughafen, um den Deutschen zu treffen."
Der PLO-Gesandte Frangi bewertete die Fischer-Mission als "Glücksfall"
und erklärte, die Vermittlerrolle der USA reiche nicht aus: "Ohne Europa
kommen wir zu keinem Ergebnis." Im "Spiegel"-Interview warnte der
saudische Kronprinz Abdullah, der wenige Tage zuvor in Damaskus Rache
für das vergossene Blut der Palästinenser geschworen hatte, eindringlich
vor der jüdischen Lobby in den USA. Die Europäer hingegen besäßen "das
politische, moralische und strategische Gewicht dafür", eine
Vermittlerrolle zu übernehmen. Während in den ersten Tagen nach der
Fischer-Mission nahezu alle Medien über eine von der EU forcierte
"Friedensinitiative der Staatengemeinschaft" (z.B. "FR") halluzinierten,
zu der Washington nicht eine Silbe verlautbarte, setzte der "Spiegel"
noch eine Lüge drauf und behauptete, "Israelis und Palästinenser"
hofften auf "eine Friedensinitiative der Europäischen Union". Auf den
Punkt gebracht wurde das Ganze in einer Bildunterzeile des "Spiegel",
die den Außenminister bündig als "Nahost-Vermittler Fischer" vorstellt -
eine Bezeichnung, auf die US-Diplomaten bisher ein Monopol hatten.
Der von deutschen und europäischen Strategen reklamierten weltweiten
militärischen Zuständigkeit der künftigen EU-Eingreiftruppe hat Fischers
Nahost-Auftritt die überfällige politische Basis verschafft. Hatten
bisher in ähnlichen Fällen stets die USA die Federführung, rangen
Fischer und Solana den Israelis die Etablierung einer
EU-Beobachtergruppe aus "Sicherheitsspezialisten und
Geheimdienstmitarbeitern" ab, die an "besonders brisanten Punkten die
Einhaltung des Waffenstillstands" ("Spiegel") überwachen soll. Eine
offene Dynamik, die nicht nur vor Ort die europäisch-arabische Sache
voranbringen kann, sondern auch materieller Ausdruck der in Brüssel und
Berlin um sich greifenden Ambitionen in Sachen Weltpolitik ist. Mit dem
Chor der einheimischen Gratulanten, die ihren Außenminister bei seiner
Heimkehr beglückwünschten, lobte die "FR", Fischer habe nun "erstmals
außerhalb Europas eine tragende Rolle gespielt. Das ist eine neue
Erfahrung." Weitere werden hinzukommen. Maß für Maß.
P.S. Das Auswärtige Amt hat Berichte dementiert, die besagen, Fischer
habe Arafats Einwilligung zu einer Waffenruhe durch die Drohung erpreßt,
die umfangreiche deutsche Finanzhilfe für die Palästinenser zu
streichen. Laut "Hamburger Abendblatt" (6.6.) hatte Fischer selbst diese
Berichte zunächst als "Mischung zwischen Dichtung und Wahrheit"
bezeichnet. Das läßt den Schluß nicht ganz abwegig erscheinen, Arafats
Zustimmung sei durch die Zusage weiterer Unterstützung erkauft worden.
Bezogen auf den politischen Ertrag wäre das Geld in Ramalla fraglos
besser angelegt als an der Wall Street.
Ralf Schröder schrieb in KONKRET 6/2001 über die rotgrüne Sozialpolitik
haGalil onLine
03-07-2001 |