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Im Vorhof zur Hölle

Jerusalem in diesen Tagen: Eine geisterhafte Stadt, die sich erstarrt ihrem Schicksal ergibt und in Apathie zu versinken droht

Von Richard Chaim Schneider

Von Tel Aviv aus betrachtet galt Jerusalem lange als "Frontstadt", als Brennpunkt des Konflikts zwischen Palästinensern und Israelis. Die Selbstmordattentate der jüngsten Zeit haben bewiesen, dass die Front überall ist. In Netanya ebenso wie in Kfar Saba oder in Tel Aviv. Und doch ist das Leben in Jerusalem nach wie vor anders als in den anderen Städten Israels. 

Die seit 1967 vereinte Stadt ist endgültig eine geteilte Stadt. An ihr, in ihr wird sich das Schicksal der Region entscheiden. Die politischen und religiösen Auseinandersetzungen um die "Stadt des Friedens" sind hinlänglich bekannt. Doch was geschieht mit den Bewohnern innerhalb ihrer Mauern? In seinem Gedicht "Touristen" beschreibt Yehuda Amichai das Dilemma der Jerusalemer Bürger. Da sitzt er mit zwei schweren Einkaufskörben und hört einem Touristenführer zu, der seine Gruppe auf einen Bogen aus der Römerzeit hinweist, der sich "etwas rechts von dem Kopf des Mannes mit den Körben befindet". Daraufhin sinniert Amichai: "Ich dachte mir: Die Erlösung kommt nur, wenn man ihnen sagt: Seht ihr dort den Bogen aus der Römerzeit? Es spielt keine Rolle, doch daneben, etwas nach links und unter ihm, sitzt ein Mann, der Obst und Gemüse für seine Familie gekauft hat."

Jerusalem ist leer geworden, eine erstarrte Stadt, wie aus einem unheimlichen Märchen. Touristen sind nur selten auszumachen. Nirgends mehr die Busse, die vor den Sehenswürdigkeiten und heiligen Stätten Gruppenreisende zu Hunderten, ja Tausenden ausspucken. Nirgends mehr die verzückten, verschwitzten Gesichter der Fremden, die vor so viel Geschichte, so viel Religion staunen und die Heiligkeit dieser Stadt irgendwie zu verspüren meinen. Nirgends mehr die Pilgerreisenden, die ehrfürchtig vor dem vermeintlichen Grabe Christi erstarren, kaum noch Juden aus der Diaspora, die mit ihren Fingern ehrfurchtsvoll die rauen Steinquader der "Klagemauer" streicheln und dabei längst vergessen geglaubte Gebetsfetzen aus ihrer Kindheit vor sich hinstammeln. Ohne die Touristen ist Jerusalem nichts, nur noch eine Geisterstadt, trotz seiner rund 500000 Einwohner. Es ist nicht mehr die Stadt dreier Weltreligionen, sondern lediglich ein kleines, umkämpftes Provinzkaff irgendwo in den judäischen Bergen. Verlassen und vergessen von der Welt, ein völlig belangloser, unbedeutender, beinahe beliebiger Ort.

Jerusalem in diesen Tagen: eine erstarrte Stadt. Seine Bewohner haben sich eingeigelt und die Zugbrücken hochgezogen. Neuralgische Punkte werden gemieden: Busbahnhöfe, Märkte, Einkaufszentren, Fußgängerzonen, all jene Ort, die beliebte Ziele von Selbstmordattentätern wurden, sind Tabu-Zonen. Nur wer keine andere Wahl hat, betritt diese hochbrisanten Schauplätze, die augenblicklich explodieren können.

Doch mit der Einschränkung der Bewegungsfreiheit scheint sich auch die Offenheit des Geistes aus Jerusalem verabschiedet zu haben. Die Wagenburgmentalität auf beiden Seiten wirkt auf Außenstehende erschreckend und verwirrend zugleich. Alle scheinen den status quo akzeptiert und verinnerlicht zu haben. Rien ne va plus. Jeder verharrt genau an dem Platz, den er seit Ausbruch der Intifada eingenommen hat. Da weiß man zumindest, was einen erwartet, jeder Schritt zur Seite kann im konkreten und im metaphorischen Sinne tödlich sein.

Abends, wenn wieder einmal gekämpft wird, sind die Schüsse der Palästinenser und die Granaten der Israelis, die in Beit Jalla und Gilo einschlagen, in vielen Teilen der Stadt zu hören. Der Lärm des Krieges ist zur allnächtlichen Begleitmusik der Menschen geworden, die in ihren Gärten oder auf ihren Balkonen zu Abend essen. Niemand regt sich mehr darüber auf, niemand fragt nach, niemand protestiert. Der Ausnahmezustand ist zur Normalität verkommen, er wird akzeptiert als ein gottgewolltes Schicksal, das sich über die Stadt gelegt zu haben scheint wie ein Fluch. Jerusalem: eine antike Tragödie, in der die Menschen nicht Agierende sind, sondern Marionetten, die von einer größeren, mächtigeren Hand gelenkt werden.

Schon gar keiner regt sich mehr über den zusammengebrochenen Verkehr in der Stadt auf – da die Umgebung und viele Stadtteile lebensgefährlich geworden sind, weicht man auf die wenigen, vermeintlich "sicheren" Strecken aus. So ist es einfach, da kann man nichts machen, heißt es achselzuckend. Auch hier nichts als Apathie, eine merkwürdige Akzeptanz einer angeblichen Unvermeidlichkeit, die unter normalen Umständen jeden heißblütigen israelischen Autofahrer zum Wahnsinn treiben würde. Kein Israeli wagt sich mehr in den Ostteil der Stadt, kein Palästinenser in den Westen – auch das wird nicht weiter hinterfragt. Soll Jerusalem geteilt werden oder vereint bleiben? Fragen, mit denen sich Politiker auf der ganzen Welt auseinander setzen, nur nicht die Einwohner dieser Stadt. Als in diesen Tagen bei der Beerdigung Faisal Husseinis das israelische Militär und die Polizei de facto Ostjerusalem zumindest für einen Tag der PLO überlassen hatten, blieb das unerwarteter Weise ohne Folgen. Ariel Sharon sah sich nur mit wenigen Protesten aus dem ultrarechten Lager konfrontiert, irgendwie hatten sich selbst die radikalsten Israelis ganz schnell mit dieser ungewöhnlichen Situation abgefunden. Ebenso ungewöhnlich: Die Palästinenser nutzten die Gunst der Stunde nicht. Die Massen gingen nach der Beerdigung wieder friedlich auseinander, die Bewohner der Westbank kehrten in ihre Städte und Dörfer zurück, alles blieb ruhig, und irgendwie war Ostjerusalem nur einen Tag später wieder unter israelischer Aufsicht, vor dem Damaskustor patroullierten die mit kugelsicheren Westen ausstaffierten israelischen Soldaten und Polizisten wie eh und je. Und die Palästinenser ließen sie gleichmütig gewähren.

Keiner scheint zu wagen, den Ist-Zustand aufzulösen, man fürchtet die Folgen noch mehr als die gegenwärtige Situation. Eine ganze Stadt hält den Atem an und hofft, dass die Katastrophe irgendwie an ihr vorüberziehen wird. Ist es ein Zufall, dass Jerusalem in den letzten Tagen vom Chamsin heimgesucht wird? Jenem Wüstenwind, der die Stadt in einen Brutofen verwandelt, der das Atmen fast unmöglich macht, weil die Luft in den Lungen wie Feuer brennt.

Das Jerusalem von heute ist der Vorhof zur Hölle. Es ist eine Stadt ohne Zukunft, eine Stadt, in der junge Männer – wie im ganzen Land – in den letzten Tagen ihren Einberufungsbefehl außerhalb des normalen Reservedienstes erhalten. "Apocalypse now" steht an ihren Mauern geschrieben. Das Menetekel ist überall zu sehen. Doch niemand mag so recht hinschauen, denn dann müsste man reagieren, etwas tun, sich bewegen, aus der Apathie erwachen. Doch das scheint in diesen Tagen einfach zu viel verlangt in Jerusalem ...

haGalil onLine 12-06-2001

 


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