ISRAEL UNTER SCHARON:
Soll denn das Schwert
ohn' Ende fressen?
NOCH am 22. April hatte die Palästinensische
Autonomiebehörde nach einem Bombenattentat in der israelischen
Kleinstadt Kfar Saba "alle Aktionen gegen Zivilisten" verurteilt, gegen
israelische ebenso wie gegen palästinensische. Inzwischen hat es auch
wieder Anläufe zu Sicherheitsverhandlungen gegeben. Doch die
unbelehrbare Haltung des "Falken" Ariel Scharon, der nicht eine einzige
Siedlung aufzugeben bereit ist, wird den Israelis, die ihn mit
unterschiedlichen Hoffnungen gewählt haben, weder Frieden noch
Sicherheit bringen.
Von AMNON KAPELIUK
Journalist, Jerusalem.
Die Wahlplakate sind fast verschwunden, abgerissen
oder vom Regen heruntergewaschen. Überall in Israel war der "neue
Scharon" mit dem Slogan präsentiert worden: "Nur Scharon wird den
Frieden bringen". Hier und da sieht man es noch, das Konterfei jenes
selbstsicher lächelnden Mannes, und den Passanten könnte die Frage
kommen: "Wann kommt er, der viel versprochene Frieden?"
In diesem Frühjahr, das der Vorbote eines stürmischen
Sommers ist, fragt man sich in der israelischen Öffentlichkeit besorgt,
wie es - vor allem nach dem Angriff auf eine syrische Radarstation im
Libanon am 15. April - in den Beziehungen zu den Nachbarländern und den
Palästinensern weitergehen soll. Viele Israelis gewinnen bereits den
Eindruck, dass ihr neu gewählter Regierungschef doch nur der "alte
Scharon" ist und dass er nichts anderes unternimmt, als was er schon
immer getan hat: Krieg führen, Schlachten schlagen, Tod und Zerstörung
bringen.
Die Karriere des neuen alten Mannes begann mit dem
Massaker von Kibié, einem Dorf im Westjordanland. Hier jagte im Oktober
1953 eine von Scharon befehligte Einheit einige Häuser samt ihren
Bewohnern in die Luft. Siebzig Tote blieben zurück. Anfang der
Siebzigerjahre machte Scharon dann erneut durch die standrechtliche
Erschießung hunderter "gesuchter Personen" in Gasa von sich reden, 1982
spielte er eine zentrale Rolle bei der Invasion im Libanon und den
Massakern von Sabra und Schatila.
Scharon legt inzwischen selbst Wert auf den Eindruck,
dass er sich nicht gewandelt hat. Kürzlich wurde er in einem
Interview(1) nach den künftigen Beziehungen mit der arabischen Welt
gefragt, und zwar in den Worten eines Verses aus dem Alten Testament (2.
Buch Samuel): "Soll denn das Schwert ohn Ende fressen?" Scharons
Antwort: "Ein normales Volk stellt solche Fragen nicht." Der Journalist
hakte nach: "Sie wollen also nicht Israels de Gaulle werden?" Scharon:
"Wozu? Es geht doch nicht darum, irgendein Papier zu bekommen. Das kann
ich Ihnen jede Woche besorgen. Aber was bringt das? Gar nichts." Und
dann erklärte Scharon, der israelische Unabhängigkeitskrieg von 1948 sei
noch immer nicht zu Ende . . .
Drei Ziele hat Scharon dem israelischen Volk
vorgegeben: innerhalb von zwölf Jahren eine weitere Million Juden ins
Land holen; Entwicklungsprojekte im Negev (Süden) und in Galiläa
(Norden) vorantreiben; eine Renaissance der zionistischen Werte
einleiten. Der Frieden kommt auf dieser Prioritätenliste nicht vor.
Scharon sagt es selbst: "Ich glaube nicht, dass man ein so hoch
gestecktes Ziel verfolgen muss. Es reicht schon, wenn es einen
Nichtangriffspakt gibt, für eine unbestimmt lange Zeit." Ein Sparta der
Gegenwart - das ist offensichtlich die Vorstellung, die Präsident
Scharon von seinem Staat im Kopf hat. Mangelnde Offenheit kann man ihm
jedenfalls nicht vorwerfen.
Am liebsten würde Scharon Israel in die Ära vor den
Oslo-Verträgen (von 1993) zurückführen, als der Frieden noch nicht auf
der Tagesordnung stand und alle Anstrengungen sich auf die Besiedlung
der besetzten Gebiete richteten. Er hat bereits erklärt, er werde keine
einzige Siedlung aufgeben, auch nicht die entlegenste, denn jede
einzelne sei "für die nationale Verteidigung von enormer Bedeutung". Den
Aufbau eines lebensfähigen Staates an der Seite des Staates Israel lehnt
Scharon ab. Als die palästinensische Führung die Oslo-Verträge
unterzeichnete, war das ein schmerzhafter Kompromiss: Sie begnügte sich
mit etwa 22 Prozent des historischen Palästinas der Mandatszeit (mit dem
1967 von Israel besetzten Westjordanland und dem Gasastreifen). Aber
Scharon will ihnen auch von diesem Gebiet nur ungefähr 40 Prozent
überlassen, und dies auch noch als Flickenteppich isolierter
Gebietseinheiten, die etwa durch Tunnel verbunden werden könnten. Israel
will die Kontrolle über Jerusalem und das Jordantal behalten (wo ein
künftiger Palästinenserstaat eine große Zahl von Flüchtlingen wieder
ansiedeln könnte) und natürlich weiterhin die Grenzen zu den
Nachbarstaaten überwachen.
Um diese Ziele zu erreichen, verfolgt der neue
israelische Ministerpräsident einen Zweistufenplan. Den ersten Schritt,
noch ganz im Einklang mit den Absichten seines Amtsvorgängers Ehud
Barak, kennzeichnet ein Journalist wie folgt: "Militärschläge gegen
Arafat, um ihn zu schwächen und sein Ansehen bei den Palästinensern zu
schmälern."(2) Dabei geht es nicht um spektakuläre Aktionen, die Israel
nur internationale Kritik einbringen würden, sondern um ein Vorgehen,
wie es jetzt täglich zu beobachten ist: Stellungen und Stützpunkte des
palästinensischen Militärs werden durch Panzerbeschuss oder mit
Planierraupen zerstört, Scharfschützen töten zentrale Funktionsträger
des Regimes - Militärs, Funktionäre der Autonomiebehörde oder Aktivisten
der Fatah -, dutzende Häuser in einem Flüchtlingslager in Gasa werden
eingerissen, Felder verwüstet, Bäume entwurzelt; und natürlich werden
die palästinensischen Städte und Dörfer abgeriegelt, was den Alltag der
Palästinenser fast unerträglich macht. Die zerstörerische Phantasie
kennt offenbar keine Grenzen. An das Militär hat Scharon die Parole
ausgegeben: "Nicht reden, sondern handeln. Und zwar jeden Tag."
Gleichzeitig läuft eine Hasskampagne gegen Jassir
Arafat, die seinen Ruf schädigen und seine Stellung schwächen soll.
Diese Attacken begannen, nachdem Arafat im Juli 2000 nicht bereit
gewesen war, das Diktat von Camp David zu akzeptieren.(3) Scharon hat
Arafat als "Terroristenführer" bezeichnet, und einige Minister, die
extremistischen Parteien angehören, fordern ganz offen "die Liquidierung
von Arafat".
Frieden - ein absurder Gedanke
ANDERE Minister schlagen vor, ihm die Rückkehr
in die Autonomiegebiete zu verwehren. Wochenlang durfte Arafat seinen
Hubschrauber nicht benutzen und war auf eine Maschine des jordanischen
Königs Abdallah angewiesen. Im November 2000 hat Scharon noch einmal
klar gemacht, was er von Arafat hält: Er nannte ihn einen "Mörder,
Lügner und unversöhnlichen Feind". Für ihn sei es "eine absurde
Vorstellung, mit den Palästinensern Frieden zu schließen". So las man es
zwei Wochen vor den Wahlen. Scharon hat diese Äußerung nie
dementiert.(4)
Die zweite Phase in Scharons Aktionsplan soll
beginnen, wenn die Palästinensische Autonomiebehörde kurz vor der
Auflösung steht - dann will er Arafat ein Langzeitabkommen nach seinen
Vorstellungen aufzwingen. Gegen Bedenken von verschiedenen Seiten
verwahrt er sich mit dem Hinweis: "Solange ich Ministerpräsident von
Israel bin, wird es für die Palästinenser keine andere Wahl geben." Die
Vorstellung, dass man die Welt mit Gewalt verändern könne, hat Scharon
nie aufgegeben. Während der Libanon-Invasion von 1982 plante er, die PLO
völlig zu vernichten und in den besetzten Gebieten eine mit Israel
kollaborierende Führung (die so genannten Dorfligen) einzusetzen. Diese
Strategie scheiterte damals komplett: Arafat kehrte in seine Heimat
zurück und wurde Chef der Palästinensischen Autonomiebehörde. Doch
derselbe Scharon setzt heute erneut auf gewaltsame Lösungen.
Um seinen aktuellen Plan durchzuführen, muss Scharon
eine Reihe von Faktoren einkalkulieren: die israelische Innenpolitik,
Europa, die arabische Welt und nicht zuletzt die Haltung des Partners
USA. Der Unterstützung durch die Mehrheit der Israelis kann er sich
gewiss sein: Nach einer Umfrage glauben 63 Prozent der Befragten nicht
an das Zustandekommen eines Friedensabkommens mit den Palästinensern.(5)
Sogar die linke Opposition hat sich hinter Scharon gestellt, und Jossi
Sarid, der Führer der Meretz-Partei, spricht immer wieder von dem
"Fehler Arafats", die großzügigen Angebote von Camp David ausgeschlagen
zu haben. Diese Analyse, die von Ehud Barak stammt, wird von fast allen
führenden Politikern und von der Mehrheit der Intellektuellen geteilt.
Anderer Meinung ist allerdings Schimon Schiffer von
der Tageszeitung Yedioth Aharonoth, einer der prominentesten
politischen Kommentatoren des Landes, der Ehud Barak auf allen Reisen
begleitete und die Hintergründe seiner Politik kannte. Er erklärte
kürzlich, der damalige Premier habe der Sache des Friedens irreparablen
Schaden zugefügt und "ein Trümmerfeld" hinterlassen. Es sei gerade Barak
gewesen, der unter den Israelis die Ansicht bestärkt habe, die
Palästinenser seien "Extremisten, die nur die Konfrontation suchen".
Am 28. September war Scharon unter dem Schutz von
Barak zu seinem provokativen Besuch im Heiligen Bezirk der Moscheen auf
dem Tempelberg angetreten. Gegen die palästinensischen Jugendlichen, die
daraufhin protestierten und Steine warfen, wurden hunderte von
Polizisten eingesetzt, die mit scharfer Munition schossen. Das Ergebnis
waren 40 Tote und 500 Verletzte innerhalb von zwei Tagen. Mit diesen
Zusammenstößen begann die neue Intifada.
Ob Peres geht, ist mir egal
ARIEL SCHARON hat nicht versäumt, sich für
seine Regierung auch ein paar "Feigenblätter" zuzulegen - die
prominenteste Figur ist dabei Schimon Peres. Scharon trifft sich nicht
gern mit ausländischen Staatsoberhäuptern, stattdessen entsendet er
Peres auf das internationale Parkett. Das funktioniert nicht schlecht:
Wer will schon einen Friedensnobelpreisträger kritisieren?
Doch in Israel mehren sich die Stimmen, die Peres
vorwerfen, er lasse sich für Scharons Politik einspannen, indem er die
Bedenken und Einwände des Auslands zerstreue. Geht es ihm darum, seine
politische Karriere fortzusetzen, oder will er verhängnisvolle
Entscheidungen Scharons verhindern? Natürlich könnte er jederzeit
zurücktreten, um damit zu versuchen, eine schädliche Maßnahme zu
verhindern. Aber dazu hat Scharon bereits erklärt: "Ob Peres geht, ist
mir egal."
Für Ministerpräsident Scharon mag alles zum Besten
stehen, aber die Stimmung in der israelischen Bevölkerung ist auf dem
Tiefpunkt angelangt. An die Brennpunkte der Auseinandersetzung mit den
jungen Palästinensern, die demonstrieren, Steine werfen und manchmal
auch schießen, sind neue Truppenkontingente entsandt worden. Für den
Einsatz im Westjordanland und im Gasastreifen sind inzwischen auch
Reservisten einberufen worden, während im Südlibanon die israelischen
Streitkräfte noch aus Wehrpflichtigen und Berufssoldaten bestehen.
Nach dem Libanonkrieg im Jahr 1982 war es noch eine
Bewegung der Mütter gewesen, die dafür kämpfte, ihre Söhne aus den
endlosen Konflikten an der Nordgrenze zurückzuholen. Heute sind es die
Reservisten selbst, die solche Proteste organisieren. Hunderttausende
von Berufstätigen erleiden schwere finanzielle Einbußen, wenn sie zu den
Fahnen gerufen werden, und viele Studenten fühlen sich benachteiligt,
weil zehntausende von Talmudstudenten nicht nur vom Militärdienst
befreit sind, sondern für ihr Thorastudium auch noch staatliche Gelder
erhalten. Doch nur eine kleine Minderheit argumentiert politisch - wie
folgender Reservist: "Wir sehen nicht ein, warum wir unseren Dienst in
jenen Gebieten leisten und unser Leben riskieren sollen. Wenn man dort
ankommt, vor allem im Gasastreifen, begreift man nicht, welche absurde
Logik zum Bau von diesen Siedlungen mitten in palästinensischem Gebiet
geführt hat. Alle Welt weiß, dass dieses Territorium niemals Teil des
Staates Israel sein wird." (6)
Was die Außenpolitik betrifft, so ist klar, dass
Scharon von den Europäern, die er als "Feiglinge" bezeichnet, nichts zu
befürchten hat. Hier verlässt er sich ganz auf das Schuldgefühl, das aus
dem Genozid an den Juden während des Zweiten Weltkriegs herrührt. Die
frühere Ministerin und renommierte Pazifistin Shulamit Aloni stellt dazu
resigniert fest: "Wir werden niemals vor ein internationales Tribunal
gestellt werden, weil wir Juden sind und die Christen und Europäer sich
uns gegenüber schuldig fühlen. Wir sind die ewigen Opfer, und als solche
dürfen wir uns alles herausnehmen."
Was die arabischen Länder angeht, muss sich Scharon
nur über die Reaktionen in Jordanien und Ägypten Gedanken machen. Würde
er einen entscheidenden Schlag gegen die Palästinensische
Autonomiebehörde führen, müssten diese beiden Länder unweigerlich ihre
Beziehungen zu Israel für einen mehr oder weniger langen Zeitraum
abbrechen - und das würde Israel um 25 Jahre zurückwerfen.
Bleiben die USA, die kein israelischer Politiker
ignorieren kann. Präsident Bush und seine Regierungsmannschaft sind
geradezu obsessiv auf die Irakfrage fixiert und möchten darum jede
Unruhe in den gemäßigten arabischen Staaten vermeiden, die zu einer
weiteren Auflösung der prekären Koalition gegen Saddam Hussein beitragen
könnte. Folglich kann Washington den Israelis bei ihrem Vorgehen gegen
die Palästinenser nicht freie Hand lassen - dafür steht einfach zu viel
auf dem Spiel. Dies gilt umso mehr, als Scharon für seine
antiamerikanische Haltung bekannt ist. Als er noch Außenminister war,
erklärte er zum Kosovokonflikt: "Israel darf die aggressive Intervention
der Nato unter Führung der USA nicht legitimieren. [. . .] Das nächste
Opfer einer Aktion im Stil der augenblicklichen Kosovo-Intervention
könnte Israel sein." (7)
Als Scharon am 20. März 2001 in Washington erstmals
mit George W. Bush zusammentraf, versicherte er dem US-Präsidenten,
dieser brauche von ihm "keine Überraschungen" zu befürchten, also keine
wichtigen Schritte ohne Rücksprache mit den USA. Das funktionierte
allerdings nur bis zum 17. April, als die israelische Armee ihre
Operation im Gasastreifen durchführte und ein General erklärte: "Wenn
nötig, werden wir hier Tage, Wochen oder Monate bleiben." Dass die
Grenzen der in den Oslo-Verträgen so bezeichneten Zone A derart offen
verletzt wurden, löste im Weißen Haus helle Empörung aus. Zwei Anrufe
bei Präsident Scharon genügten dann, um den Abzug der israelischen
Truppen zu bewirken. Präsident Bush und Außenminister Colin Powell gaben
Scharon deutlich zu verstehen, dass ein militärisches Vorgehen gegen die
Palästinenser ohne genaue diplomatische Abstimmung nicht in Frage kommt.
Welche Lehren wird der neue israelische Premier daraus ziehen?
dt. Edgar Peinelt
Fußnoten:
(1) Ha'aretz, Wochenendbeilage, 13. April 2001.
(2) Yedioth Aharonoth, 13. April 2001.
(3) Eine Karte, die Israels damalige Vorschläge zeigt, findet sich in
Le Monde diplomatique, Dezember 2000.
(4) The New Yorker, 22. Januar 2001.
(5) Yedioth Aharonoth, 30. März 2001.
(6) Jerusalem, wöchentliche Beilage von Yedioth Aharonoth,
20. April 2001.
(7) Yedioth Aharonoth, 19. April 1999, siehe auch Amnon Kapeliuk,
"Wie Israel auf das Kosovo blickt", Le Monde diplomatique,
Mai 1999.
Le Monde diplomatique Nr. 6443 vom
11.5.2001, Seite 8, 374 Dokumentation AMNON KAPELIUK
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12-05-2001 |