
DIE EINWANDERER
UND DIE REGIERUNG SCHARON
Vom Dnjepr ins
Gelobte Land
LIBERAL,
kultiviert und tolerant - so stellt man sich die politische Kultur
Israels vor. Doch spätestens beim Wahlsieg Scharons ist deutlich
geworden, dass im Land der Verheißung inzwischen andere politische
Strömungen dominieren. Das hat auch mit bestimmten Einwanderergruppen zu
tun, wie den orthodoxen Juden aus den USA, die den Kern der Siedler in
den besetzten Gebieten bilden. Als politischer Faktor vielleicht noch
entscheidender sind die Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion. Sie
machen ein Sechstel der jüdischen Bevölkerung aus und sind für die
Scharon-Regierung zu einer unentbehrlichen Stütze geworden.
Von JOHN
KAMPFER
Freier
Journalist, Dokumentarfilmer bei der BBC
Dieser Artikel wurde zuerst im
New Statesman, London, veröffentlicht.
Die Idylle ging mir auf den Nerv.
Ich wohnte im Gästehaus Mishkenot Sha'ananim, wo die von der Jerusalem
Foundation eingeladenen Künstler und Musiker residieren. In diesem Haus,
das auf dem Grundstück eines ehemaligen Armenhauses errichtet wurde,
soll Saul Bellow seinen Roman "Nach Jerusalem und zurück" begonnen
haben. Jeden Abend kehrte ich in diese Oase weltoffener Kultur, im
Herzen der geteiltesten Hauptstadt der Welt gelegen, zurück - nach
Interviews mit Generälen der israelischen Armee oder nach einer brütend
heißen Fahrt durch das Westjordanland, wo ich mit meinem Fernsehteam
mutmaßliche palästinensische Selbstmordattentäter gefilmt hatte.
Mishkenot Sha'ananim ist ganz so,
wie man sich das Land Israel immer gern vorgestellt hat: liberal,
kultiviert und tolerant gegenüber anderen Glaubensrichtungen. Eben so,
wie Juden in der großstädtischen Diaspora, sagen wir in Hampstead oder
auf der Upper West Side von Manhattan, ihr homeland gern
schildern. Die jungen Männer und Frauen an der Rezeption waren kein
gewöhnliches Empfangspersonal, sondern eher Musik- und Kunststudenten,
die sich ein bisschen Geld dazuverdienten. Sie wollen, wie so viele
ihrer Altersgenossen, weg aus Israel. In den letzten 18 Monaten sind
diese jungen Leute nicht einem einzigen Palästinenser begegnet (außer
denen, die sie während ihres Militärdienstes durchs Zielfernrohr gesehen
haben).
Sie sind weder die Kinder des
Holocaust noch die Generation der Staatsgründer, und ihre
Wertvorstellungen unterscheiden sich nicht von denen irgendwelcher
Zwanzigjährigen in London oder New York. Sie sind Juden, die auf ihr
Volk und ihre Religion stolz sind, die aber für den Staat, der in ihrem
Namen geschaffen wurde, keine große Hoffnung mehr sehen.
Israel blutet aus den Wunden des
Idealismus. Die zweite Intifada - bei der schließlich täglich bis zu 40
Israelis und Palästinenser bei bewaffneten Auseinandersetzungen ihr
Leben ließen - hat die Psyche des Landes verändert. Nur die Mutigsten
oder Tollkühnsten besuchen noch eines der früher so belebten Restaurants
oder Cafés. Jeder ist jedem verdächtig. Doch die Krise Israels ist älter
als der Ausbruch der Feindseligkeiten mit den Al-Aksa-Brigaden, dem
Islamischen Dschihad und der Hamas. Tatsächlich sind die Angst und die
Feindschaft, die den Palästinensern entgegengebracht wird, der
wahrscheinlich einzige Klebstoff, der das Land zusammenhält.
Israel befindet sich demografisch
auf einer Straße ohne Wiederkehr. Aus Angst, von den Arabern innerhalb
und den Palästinensern außerhalb ihrer Grenzen überwältigt zu werden,
haben die Israelis ihre großzügige Einwanderungspolitik so weit auf die
logische Spitze getrieben, dass alle hereindürfen, die sich als Juden
bezeichnen. Inzwischen ist so ziemlich jeder willkommen, und je größer
die Gefahr für das Land, desto weniger Fragen werden gestellt.
Tagtäglich kann man auf dem Ben-Gurion-Flughafen eine Aeroflot- oder
eine Transaero-Maschine sehen, die eine Ladung Immigranten aus den
untersten Schichten der ehemaligen Sowjetunion abliefern. Zwar ist die
Zahl der Einwanderer in den letzten Monaten nicht mehr so hoch wie in
den ersten Jahren nach 1990, aber erstaunlich - angesichts der
herrschenden Gewalt - ist, dass sie überhaupt noch kommen wollen.
Einige dieser Menschen bringen
berufliche Fähigkeiten mit, sie sind Computerspezialisten, Ingenieure,
Ärzte oder Videoproduzenten. Die meisten aber nicht. Sie sind - in
Worten alteingesessener Israelis, mit denen ich gesprochen habe -"weißes
Gesindel". In Moskau, wo ich mehrere Jahre gelebt habe, machte man immer
einen Unterschied zwischen Russen (oder Ukrainern, Armeniern, Georgiern
usw.) und Sows. "Sows" waren Leute, die am sowjetischen Lebensstil
hingen und deren Versorgungsanspruch nur noch von ihrer provinziellen
Ignoranz übertroffen wurde.
Viele der talentierteren Russen,
die aus ihrem Land herauskommen wollten, fanden ihren Weg in die
Vereinigten Staaten oder nach Westeuropa. Der Rest endete in Israel. Zu
diesem Zweck mussten sie gemäß dem israelischen Rückkehrgesetz belegen,
dass sie einen jüdischen Großelternteil haben. Entsprechende Papiere
kann man sich in den meisten exsowjetischen Städten jederzeit gegen Geld
beschaffen.
Eine Million Russen - die meisten
von ihnen "Sows" -, entschieden sich für die aliyah,
die "Heimkehr" nach Israel. Heute stellen sie ein Sechstel der
Gesamtbevölkerung. Über Generationen geprägt durch die sowjetische
Diktatur und entsprechend mental konditioniert, wissen diese Sows über
Israel nur wenig und über die Araber überhaupt nichts. Während sie
früher die "Schwarzen" aus den mittelasiatischen oder transkaukasischen
südlichen Sowjetrepubliken hassten, richten sie ihren Hass nunmehr auf
die Palästinenser und auf die muslimischen Länder, die Israel umgeben.
Mitgebracht haben sie auch jenes Prinzip, auf das sich die
Nachkriegs-UdSSR gestützt hat: Macht geht vor Recht.
Die einzigen Sows, die regelmäßig
Kontakt mit den Palästinensern pflegen, sind die organisierten
Kriminellen, die so lukrativen Tätigkeiten nachgehen wie der Hehlerei
mit gestohlenen Autos oder Waffenschmuggel ins Westjordanland und in den
Gaza-Streifen. Die Waffen bekommen sie von israelischen Soldaten, die
damit ihren Drogenkonsum finanzieren.
Die meisten der Neuankömmlinge
sind alles andere als Idealisten, und sie geben zu, dass ihr Umzug nach
Israel eine ökonomische Notwendigkeit war. Ein Mann, der aus der Stadt
Dnjepropetrowsk in der östlichen Ukraine stammte, sagte mir einmal, er
finde die Verhältnisse in seiner neuen Heimat deprimierend. Ich fragte
ihn, ob er seine Emigration denn bereue. "Waren sie jemals am
Dnjepr?", fragte er zurück. Ich antwortete mit Ja und dass ich es
selbst für sowjetische Verhältnisse schrecklich gefunden habe. Am Ende
waren wir uns einig, dass er, wie schlimm auch immer die in Israel
herrschende Gewalt sein mag, wohl doch die richtige Entscheidung
getroffen hat.
Für die Sows ist Israel eine
Heimat fern der Heimat. Sie haben ihre eigenen Fernsehprogramme - lokale
wie aus Moskau gesendete - und ihre eigenen Zeitungen. Sie wohnen in den
Betonkästen der gesichtslosen Schlafstädte, die die Landstraße zwischen
Jerusalem und Tel Aviv säumen; in vielen Regionen Israels hört man
Russisch weit häufiger als Hebräisch oder Englisch. Sie haben sich auch
ein starkes soziales Netz geschaffen. Wie in der alten Heimat betreiben
sie verschiedene Nebenjobs und wissen dabei, dass ihnen stets ein
Minimaleinkommen sicher ist.
Es ist nicht die Religion, die
sie antreibt. Die meisten Sows haben keine. Sie bilden mit anderen
Gruppen der israelischen Gesellschaft eine zufällige und unheilige
Allianz, die die politische Landschaft stark verändert hat.
Die Likud-Regierung von Ariel
Scharon stützt sich auf sowjetische Einwanderer, sephardische Juden und
Ultraorthodoxe (die einzige Bevölkerungsgruppe mit einer ebenso hohen
Geburtenrate wie die der Palästinenser). Diese disparaten Gruppen haben
nur eines gemeinsam: Sie sind Gegner jeder annehmbaren Lösung für die
Palästinenser. Die Sows verachten die Sephardim (vor allem die aus
Marokko, Äthiopien, dem Irak und dem Jemen); die orthodoxen Juden
verachten alle anderen; und alle zusammen verachten die arabischen
Israelis und die Palästinenser.
Diese Koalition hat Ariel Scharon
seine Wahl zum Ministerpräsidenten gesichert - und er ist bei weitem
nicht das extremste Mitglied seiner Regierung. Wirklichen Druck auf
Scharon gibt es nur von Seiten derer, die einen noch härteren Kurs
vertreten als er selbst. Wenn sie ihn stürzen können, werden sie mit
ziemlicher Sicherheit Benjamin Netanjahu an seine Stelle setzen.
Furchtbare Aussicht.
In der israelischen Arbeitspartei
geht es derweil drunter und drüber. Zu allem Übel haben sich viele ihrer
einst liberalen Anhänger dem politischen Lager der Haudegen
angeschlossen - nach dem Motto "Erst schießen - dann fragen". Die
demografische Entwicklung ist gegen die Arbeitspartei. Die
aschkenasischen Juden, die vor oder nach dem Holocaust aus Europa
geflohen sind, stellen einen rapide kleiner werdenden Anteil der Wähler.
Manche kehren Israel aus Verzweiflung oder Abscheu den Rücken; und bei
denen, die bleiben, geht die Geburtenrate weiter zurück. Scharons
Vorgänger Barak musste sich auf die arabische Minderheit stützen, um bei
den Wahlen von 1999 den kaum wahrscheinlichen Sieg zu sichern. Diese
Tatsache wird von der Arbeitspartei nicht gerade an die große Glocke
gehängt.
Heute ist es kaum vorstellbar,
wie die Arbeitspartei je wieder an die Macht kommen soll. Das Porträt
Baraks hängt immer noch an der Wand des Tel Aviver Hauptquartiers der
Armee, schließlich war er einmal Generalstabschef der israelischen
Verteidigungsarmee Zahal. Aber für viele Generäle ist er heute nur noch
Zielscheibe des Spotts.
Ein Vertreter der Armee machte
mir gegenüber in einen Gespräch eine erstaunliche Bemerkung über den
Mord an Jitzhak Rabin, dem einzigen israelischen Regierungschef, der den
Mut hatte, sich gegen die Siedlerlobby zu stellen, die systematisch und
über viele Jahre die Hoffnungen auf eine friedliche Konfliktlösung
untergraben hat. Meinte dieser Offizier über Rabin: "Ihn umzubringen war
eine schreckliche Sache. Aber man kann die Frustration verstehen, die
einen dazu treiben konnte." Dieser Riss, der mitten durch das Herz der
israelischen Gesellschaft geht, ist auch nachdenklicheren
palästinensischen Politikern nicht verborgen geblieben. Marwan
Barghouti, der Kopf der Fatah im Westjordanland, sagte mir einmal: "Wir
hatten auch die Option, uns einfach ganz ruhig zu verhalten, gar nichts
zu tun, nicht zu kämpfen und Israel sich einfach selbst zerstören zu
lassen." Diese Bemerkung ist wohl eher ein Beispiel für Hybris denn für
Strategie, aber sie verweist auf eine der Nebenwirkungen der Intifada:
Sie gestattet es den Israelis, ihre internen Widersprüche zu
übertünchen.
Sicherheit und Identität bilden
seit je die Säulen der israelischen Psyche. Die Sicherheit Israels war
nie garantiert, und jetzt ist die Identität ebenso gefährdet.
Die steile, gewundene Straße, auf
der man in den Westen Jerusalems gelangt, führt am
Andrej-Sacharow-Friedensgarten vorbei, einer schlichten, aber
ergreifenden Gedenkstätte. Sacharow war ein ganz anderer Typ von
Dissident, er war der Überzeugung, dass die Raison d'être einer Nation
nicht in ihrer Bevölkerungszahl oder in ihrer Macht liegt, sondern in
ihren Idealen. Was würde er von dem Staat halten, der Israel heute ist -
und von der Rolle, die seine ehemaligen Landsleute darin spielen?
aus dem Engl. von Niels
Kadritzke
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hagalil.com / 16-04-2002 |