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Tel Aviv und der Abschied vom Inselstatus: "Die Party ist vorbei"

Eine Stadt verliert ihre Kinder

Lange wähnte man sich in der Spaßmetropole Israels in Sicherheit– der Anschlag hat nicht nur die Angehörigen der Opfer ins Bodenlose gestoßen

Von Thorsten Schmitz
Süddeutsche Zeitung, 05.06.2001

Tel Aviv , 4. Juni-Sascha sitzt auf seinem Bett und ist so müde, dass er sich kaum gerade halten kann. Müde von den Menschen, die er nicht kennt, die in seinem Zimmer stehen und ihn anstarren. Müde von der Wucht, mit der das Schicksal versucht, sein Leben zu zerstören. Außerdem hat Sascha seit drei Tagen nicht richtig geschlafen, ist immer nur eingenickt, dann wieder hoch geschreckt. Sascha ist 14, hat sein Zimmer mit Don-Johnson- Postern zugepinnt und wohnt im Armeleuteviertel Hatikva im Osten Tel Avivs. Hatikva heißt "Hoffnung", und zum ersten Mal in den fünf Jahren seines Hierseins wünscht sich Sascha, dass ihm der Name seines Wohnortes nützen möge. Aber jedesmal, wenn er versucht, sich auf seiner durchgelegenen Matratze auszustrecken und die Augen zu schließen, sieht er "einen Horrorfilm". Seine zwei Schwestern Julia und Jelena spielen darin die Hauptrollen. Beruhigen kann Sascha im Moment niemand aus der Familie. Seine Mutter Ela Nelimov und sein bester Freund Alex haben selbst keine Kraft mehr, die sie weiterleiten könnten. Sascha ist ganz allein. Seine besten Freundinnen Jelena und Julia sind in der Nacht zu Samstag in die Luft gesprengt worden. Es waren seine Schwestern, 16 und 18 Jahre alt.

"Sie waren so fröhlich"

Sascha findet keinen Grund, warum das Leben noch einen Sinn haben sollte. Schon gar nicht in Israel: "Warum sind wir überhaupt hierher gekommen", fragt er und wischt Tränen aus den Augen. Er entschuldigt sich, er könne sich nicht zusammenreißen. Jede Frage ist jetzt eine zu viel, man schweigt. In seinen Händen hält Sascha zwei durchsichtige kleine Plastikbeutel mit Halsketten. Sascha hat die Ketten von einem Doktor bekommen, nach der Autopsie seiner Schwestern. Die Ketten sind die einzigen Gegenstände, die nach der Explosion übrig geblieben sind. Die Leichen Julias und Jelenas waren so verstümmelt, dass man weder Sascha noch seiner Mutter Ela die Identifikation zumuten wollte. Der Doktor hat Sascha und seiner Mutter gesagt, die Schwestern seien sofort tot gewesen. Sie hätten nicht gelitten.

Die Mutter sitzt in ihrem Wohnzimmer, umringt von Freunden, Nachbarn, Verwandten, und weint und trocknet ihre Tränen und weint. Sie steht noch unter Schock, sagt: "Ich hatte drei Kinder, jetzt habe ich nur noch eines." Alle tragen schwarz, alle haben Augenringe, niemand hat geschlafen. Die Mutter, die ohne ihren Mann nur mit den drei Kindern und ihrer Mutter nach Israel emigriert ist, sagt: "Ich habe meinen Töchtern noch gesagt, müsst ihr denn ausgehen, jetzt, wo es so gefährlich ist. Aber sie waren so fröhlich und haben gesagt, ich solle mir keine Sorgen machen." Bei der Beerdigung am Sonntag bricht die Mutter vor den Leichnamen ihrer zwei Töchter zusammen, auch die Großmutter muss gestützt werden. Sascha ist wie versteinert.

Eigentümliche Stille

Am Freitag zogen Julia und Jelena nach dem Schabbat-Abendessen die schönsten Klamotten raus, schminkten ihre Gesichter und hörten dabei Back street Boys. Sascha saß vorm Computer, surfte im Internet. Als Jelena und Julia aufbrachen, riefen sie der Mutter zu, sie seien jederzeit erreichbar auf ihren Handys. Wenn sie nicht antworteten, sei die Musik eben zu laut. Ab 23 Uhr 35 verstummten die Handys von Jelena und Julia. Saschas Schwestern lagen tot auf dem Boden vor dem Eingang des Dolphinariums, einer Open-Air- Disco am Strand von Tel Aviv. Er sagt: "Weil die Handys aus waren, wusste ich, dass ihnen etwas zugestoßen war." Ein Palästinenser hatte sich in die Luft gesprengt und Julia und Jelena und 18 ihrer Freundinnen und Freunde mit in den Tod gerissen. Die Explosion war in der ganzen Stadt zu hören, ein dumpfer Knall, gefolgt von einem kleineren. Nach einer eigentümlichen Stille, von der alle Passanten erfasst wurden, schossen Krankenwagen mit durchdringendem Sirenengeheul durch Tel Aviv, die Nord-Süd-Achse entlang des Strandes wurde gesperrt, das Handynetz war so überlastet, dass man nicht durchkam, Menschen rannten zum Dolphinarium, dem Ort des Grauens: Überlebende schrieen um Hilfe, irrten blutüberströmt herum, Sanitäter versuchten, noch vor der Disco, Schwerverletzte wiederzubeleben, Anwohner eilten herbei, Fernsehreporter begannen ihre Live-Übertragungen, im Hintergrund verletzte und verwirrte Menschen.

Der Attentäter, ein 22 Jahre alter Palästinenser aus Kalkilia in Westjordanland, hatte sich unbemerkt unter eine Gruppe von 300 jungen russischen Immigranten gemischt, die darauf warteten, dass die Diskotheken Pascha und Infinity öffneten. In der Schlange standen auch Julia und Jelena, zusammen mit Schulfreundinnen. Bis heute ist nicht klar, weshalb niemand den Attentäter bemerkt hatte. Nach Polizeiangaben muss er "auffällig angezogen" gewesen sein. Die Wucht der Explosion und der mörderische Schaden ließen darauf schließen, dass der Attentäter einen großen Mantel oder eine Jacke getragen habe, unter der die Bomben versteckt gewesen seien.

Der Diskothekenmanager Avi Mizrachi erzählt: "Wir waren kurz davor, aufzumachen. Vor der Tür waren Hunderte junger Mädchen und Jungs, sie sprachen am Handy und lachten, alles versprach, eine gute Party zu werden." Avi ging zurück in seinen Club und wollte den Türstehern das Okay zum Öffnen geben, "als ich eine wahnsinnig laute Explosion hörte". Zuerst habe "unwirkliche Stille" geherrscht, dann waren da nur noch Schreie, Stöhnen, Weinen. "Ich habe versucht zu helfen, aber es war nicht mehr viel, was ich tun konnte. Manche lagen tot auf dem Boden, andere hatten keine Arme mehr, keine Beine, ich werde diese Bilder nie wieder vergessen."

Auch Ilena steht noch unter Schock. Umringt von ihren Freunden im Krankenhaus, berichtet sie: "Wir haben alle gelacht, als plötzlich etwas explodierte und ein riesiger Feuerball zu sehen war." Sie selbst sei von der Wucht erfasst und auf den Boden geschleudert worden. Ihre Freundin Marina, mit der sie eben noch geredet hatte, starb. Ilena sagt, sie wisse nicht, wie sie weiterleben soll. Schon gar nicht kann sie sich vorstellen, in die Schule zu gehen: "Wir haben auch Araber in unserer Klasse. Ich will sie nicht mehr sehen. "

Der Anschlag hat auch Außenminister Joschka Fischer die Ruhe geraubt. Er sei noch immer "geschockt", sagte Fischer am Wochenende. Er denke an seine zwei Kinder, die 17 und 22 Jahre alt seien, "genauso alt wie die Opfer". Zusammen mit seiner Delegation aus Berlin war Fischer am Freitagabend auf dem Weg zurück in sein Hotel "Dan", das gerade mal 500 Meter vom Attentatsort entfernt liegt, als die schwarze Limousine trotz ihres Blaulichts stecken blieb. Fischer kam vom deutschen Botschafter Rudolf Dreßler, der für den Außenminister in seiner Villa in Herzliya nahe Tel Aviv einen Empfang mit deutschen Israel-Korrespondenten ausgerichtet hatte.

Strauß weißer Lilien

Gegen elf brach Fischer von Herzliya auf, er war müde, wollte am Morgen joggen, bevor er am Nachmittag Palästinenserpräsident Jassir Arafat in Ramallah treffen sollte. Als Fischer dann in seiner Limousine von dem Attentat unterrichtet wurde, ließ er sich sofort zu seinem israelischen Amtskollegen Schimon Peres durchstellen. Vom Hotelbalkon aus verfolgte Fischer die Rettungsarbeiten am Dolphinarium, die bis zum nächsten Morgen andauerten. Auf den Frühmarathon am Strand entlang verzichtete Fischer, stattdessen beriet er sich mit den Mitarbeitern der deutschen Botschaft, was zu tun sei. Fischer fand, Arafat aufzusuchen sei "wichtiger denn je", weshalb er auch kurzerhand eine Verlängerung seines Besuchs beschloss und zwischen Arafat und Scharon pendelte. Aber noch wichtiger war dem Außenminister eine Geste: Gegen zehn Uhr legte er einen Strauß weißer Lilien am Attentatsort nieder und hielt eine Schweigeminute lang inne-noch bevor überhaupt ein israelischer Politiker erschienen war. In den Zeitungen bekam er dafür so viel Lob, dass selbst die CNN-Chef-Korrespondentin Christiane Amanpour Fischer für ein Interview haben wollte.

Das Selbstmordattentat gilt als das verheerendste seit der Gründung Israels-und es hat eine landesweite Depression ausgelöst. Ärzte der drei Krankhäuser, die Opfer aufnahmen, erklärten, sie hätten solche Verletzungen "noch nie" gesehen. Doktor Zeev Rothenstein sagt, die "entsetzlichen Wunden" resultierten aus Nägeln, Kugeln, Schrauben und Metallteilen, die der Attentäter den Bomben beigefügt hatte. Sie seien tief in die Körper der Jugendlichen eingedrungen, hätten lebenswichtige Arterien zerschnitten, Knochen pulverisiert, Gehirnmasse verletzt. Der Eingang zum Dolphinarium und parkende Autos waren überströmt mit Blut, übersäht von Hautfetzen. Ein Feuerwehrmann sagte im Rundfunk noch in der Nacht: "Das war das Schrecklichste, was ich je in meinem Leben gesehen habe. Verletzte lagen auf Toten und wimmerten um Hilfe."

Für die Menschen in Tel Aviv war der blutige Freitag ein Schock, der sie aus ihrem Inseldasein gerissen hat. Eigentlich fühlen sich die Leute hier auserwählt für Saus und Braus, die Stadt, in Windeseile hochgezogen, ist gerade mal 80 Jahre alt und blickt also auf wenig Vergangenheit. Eine Klagemauer sucht man hier vergebens, und im Gegensatz zu Jerusalem, wo jeder Stein Geschichte ist, gaukelt Tel Aviv ein Manhattan am Mittelmeer vor. So wähnten sich vor Ausbruch der Intifada die Menschen in Tel Aviv in größerer Sicherheit, fühlten sich dem Meer, den Clubs und dem vibrierenden Nachtleben näher als dem Nahost-Konflikt. Die Bombe vor der Stranddisco erinnerte die Tel Aviver jetzt daran, dass sie nicht in Santa Monica leben, sondern zwanzig Minuten von den Palästinenserghettos entfernt. Das Massenblatt Jediot Achronot titelte: "Die Party ist vorbei". Aus Entsetzen schlossen manche Clubs im Süden der Stadt, und bis heute sind die Straßencafés und die Strände leerer als sonst, die Menschen sitzen vor ihren Fernsehern und versuchen zu begreifen, was passiert ist.

Ein paar hundert Tel Aviver entluden am Samstag ihren Schock in Gewalt: Bei brütender Hitze schmissen sie Steine auf eine Moschee israelischer Araber gegenüber dem Dolphinarium und brüllten "Tod den Arabern!", einen Falafel- Stand am Strand zerstörten sie ganz. Die Gäste des Hotels "David Intercontinental", das vis-a-vis der Moschee steht, sahen von ihrem Pool aus den Straßenschlachten zu, sahen die Plakate, auf denen geschrieben stand: "Ihr Feiglinge, kommt raus!" Polizisten mussten die 30 verängstigten israelischen Araber aus der Moschee retten und sie in Jeeps in ihr Wohnviertel, nach Jaffa bringen. Während die Minister aus Ariel Scharons Kabinett in mehreren Sicherheitssitzungen berieten und auf einen Gegenschlag zunächst verzichteten, um Arafat eine letzte Chance zu gewähren, Waffen einzusammeln und palästinensische Terroristen zu inhaftieren, besuchten andere Minister die Verwundeten in den drei Krankenhäusern.

Stühle, die leer bleiben

Erziehungsministerin Limor Livnat hatte es besonders schwer: Im Ichilov-Krankenhaus in Tel Aviv schrie sie der Vater einer Schwerverletzten an, man solle Arafat und die Palästinensergebiete unverzüglich "kaputtbomben". Hinterher sagte die sonst stets redefreudige Livnat: "Mir fehlen die Worte." Scharon selbst besuchte am Wochenende leichter Verletzte mit einem Staatsaufgebot von Bodyguards, stellte sich vor die Betten der Kranken und fragte unsicher lächelnd: "Wie geht es?" Weil er keine Antworten bekam, gab er eine persönliche Krankenhaus-Anekdote zum Besten. Die Krankenzimmer verließ Scharon mit der Bitte um "Geduld", er werde Sicherheit und Schutz verschaffen. Die verletzten Mädchen schauten ihn an und sagten kein Wort.

In den Schulen der Toten versammeln sich Eltern und Schüler und zünden Kerzen an, Unterricht ist nicht möglich. In einer Tel Aviver Schule bleiben am Sonntagmorgen fünf Stühle unbesetzt, darunter die zwei von Jelena und Julia. Die Buchmesse in Tel Aviv wurde verschoben, genauso die Europareise Scharons nach Berlin, Brüssel und Paris, Tanzgruppen aus Amerika und England sagen ihre Auftritte ab, Air France streicht ersatzlos drei Tage lang die zwei täglichen Israel-Verbindungen, Delta Airlines auch, laute Konzerte werden abgesagt, der Strand hinterm Dolphinarium, wo sonst Hippies und Kiffer trommeln und im Yoga- Sitz meditieren, ist wie leer gefegt. Die Menschen bleiben zu Hause, haben Angst, auf dem Weg zum Geldautomaten in die Luft gesprengt zu werden- und schauen Fernsehen. Das bringt ununterbrochen Sondersendungen über das kurze Leben der 20 Toten und ihrer Familien.

Und es zeigt den Vater des Attentäters Hassan Chudri. Wie er ein Foto seines Sohnes vor der Kamera hochhält und es küsst, wie er lacht und sich freut, dass sein Sohn zum Märtyrer geworden ist. Und dass er sich noch mehr freuen würde, wenn er zwanzig Söhne hätte und sie es seinem Hassan gleichtäten.

haGalil onLine 06-06-2001

 


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