Ein Geschenk und seine Tücken
Die Grenzen von 1967:
ISRAEL UND PALÄSTINA UND DIE UTOPIE
EINER NORMALEN ZUKUNFT
Von AMIRA HASS,
Journalistin der israelischen
Tageszeitung "Haaretz", lebt in Ramallah.
Sieben Monate sind seit dem
Ausbruch der zweiten Intifada vergangen, doch die Palästinenser haben
von ihrer wichtigsten Parole keine Abstriche gemacht. Sie verlangen nach
wie vor die Gründung eines unabhängigen Staates an der Seite Israels -
und zwar auf der geografischen Basis der "grünen Linie", also der
Grenzen vom 4. Juni 1967.
Auf öffentlichen Versammlungen und Aktivistentreffen - wenn die Menschen
also nicht in die Mikrofone ausländischer Sender oder zu israelischen
Journalisten sprechen, sondern sich miteinander über ihre künftige
Unabhängigkeit verständigen - ergibt sich das eindeutige Bild, dass
diese Grenze für die Palästinenser längst ein selbverständliches Faktum
ist. Eine Mehrheit von ihnen - repräsentiert durch die Organisationen,
die der PLO angehören - sehen in der grünen Linie eine mögliche und
logische Grenze. Und sie gehen davon aus, dass die Respektierung dieser
Grenze - wie auch der Resolutionen des UN-Sicherheitsrats, durch die sie
legitimiert wird - eine vernünftige nachbarschaftliche Beziehung
ermöglichen, die Ausgangsbasis für eine positivere Entwicklung in der
Zukunft sein kann.
Dieses Geschenk, das die
Palästinenser dem Staat Israel seit nunmehr über zehn Jahren darbieten,
böte Israel die Gelegenheit, sich zu befreien von dem permanenten
inneren Zwang, sein Staatsgebiet auf Kosten der Palästinenser ständig
expandieren und ständig mehr israelische Staatsbürger auf ihrem Gebiet
ansiedeln zu müssen. Dieses Geschenk der Palästinenser böte Israel die
einmalige Gelegenheit, jene alte Haltung zu überwinden, die darin
besteht, Generationen von Israelis heranzuziehen, die ihre besonderen
Privilegien als selbstverständlich ansehen; Generationen von Israelis
heranzuziehen, die sich weigern, zu sehen, dass man die Palästinenser
systematisch ihrer elementaren Rechte beraubt: ihrer Rechte auf Land,
Wasser, Bewegungsfreiheit und auf eine selbständige Gestaltung ihrer
Zukunft; Generationen von Israelis heranzuziehen, die sich weigern zu
erkennen, dass gerade diese elementare Entrechtung alle Chancen auf eine
normale Zukunft verbaut.
Es ist wichtig, dass wir uns dieses
Geschenk der Palästinenser immer wieder vergegenwärtigen. Dieses
Geschenk sollte gerade für uns von Bedeutung sein, die wir der ersten,
zweiten und dritten Generation von Nachkommen der Holocaust-Überlebenden
angehören. Oder jedenfalls für diejenigen unter uns, die den Mord an
ihrem Volk und an ihren Familienangehörigen in Europa nicht als eine
ewige Rechtfertigungsformel für die Unterdrückung und Enteignung des
palästinensischen Volkes ansehen; und die es ablehnen, unsere Nachbarn
als den neuen Feind hinzustellen, der an die Stelle der Deutschen
getreten ist. Das palästinensische Geschenk ist eine Geste der
Großzügigkeit gegenüber den Israelis, aber auch eine Geste des
Verständnisses für ihre Vergangenheit und eine Geste gegenüber den
künftigen Generationen des Staates Israel, den Enkeln der heutigen
israelischen Soldaten.
Über viele Jahre hinweg sahen die
Araber, die Palästinenser und diverse linksradikale Gruppierungen in
aller Welt im israelischen Staat das direkte, wenn auch verspätete
Produkt kolonialistischer Ambitionen und Konzeptionen des Westens, und
speziell auch als Produkt des jüdischen Kolonialismus in Gestalt des
Zionismus. Diese Erklärungsschablone für die Gründung des Staates Israel
war blind für die Tatsache, dass der Zionismus im 19. und frühen 20.
Jahrhundert nur eine Antwort unter vielen war, mit der Juden in Europa
auf ihre Unterdrückung und Diskriminierung reagierten. Sie ignoriert
völlig, dass nur eine Minderheit der Juden diese zionistische Antwort
übernommen hatte, und sie ignorierte ebenso vollständig die Tatsache,
dass das Naziregime und seine europäischen Kollaborateure die Juden
Europas (die dort als Diaspora-Nation überlebt hatten) nicht nur aus
Europa vertrieben, sondern überhaupt aus dem Land der Lebenden verbannt
haben. Erst und nur in dieser Situation wurde die zionistische
Lösungsformel von den meisten Juden akzeptiert. Was im Übrigen noch
nichts über die Richtigkeit der zionistischen Behauptung besagt, dass
nur ein jüdischer Staat die Juden vor den deutschen Todesfabriken retten
konnte. Denn wenn Nazi-Deutschland nicht von den Alliierten besiegt
worden wäre, hätte Hitlers Armee womöglich auch das damalige Palästina,
Eretz Israel, erobert.
Es ist kaum anzunehmen, dass die
Vereinten Nationen der Gründung eines Staates für die Juden - auf Kosten
eines anderen Volkes - zugestimmt hätten, wenn dem nicht der Holocaust
vorausgegangen wäre. Und die europäischen Länder wären ohne dieses
Kapitel ihrer Vergangenheit wohl kaum bereit gewesen, über 34 Jahre -
und insbesondere während der letzten sieben Jahre - derart nachsichtig
auf die Missachtung internationaler Resolutionen und Konventionen durch
Israel zu reagieren. Wenn die Palästinenser heute mit fast religiöser
Inbrunst an den UN-Resolutionen festhalten, verinnerlichen sie damit im
Grunde die historisch argumentierende Erklärung, dass Israel eben nicht
einfach ein provisorisches koloniales Gebilde ist; sie akzeptieren, dass
Israels Existenz nicht nur in der Kolonialgeschichte Europas und ihrer
Überlegenheitsideologie wurzelt, sondern auch in Europas mörderischer
antisemitischer Vergangenheit.
Doch für die Palästinenser geht es
nicht darum, Israel "Gerechtigkeit" widerfahren zu lassen, indem man es
anerkennt. Denn der Staat Israel konnte ja trotz der propagandistischen
Reden von "Holocaust und Wiedergeburt" die sechs Millionen Juden und die
mit ihnen vernichtete Kultur nicht wieder zum Leben erwecken. Für die
Palästinenser handelt es sich vielmehr um die Anerkennung einer überaus
schmerzvollen historischen Aufeinanderfolge von Ereignissen. Im Laufe
der unvermeidlichen Ansiedlung von Überlebenden des Holocaust und ihrer
Nachkommen, und mit Hilfe von kolonialistischen Gründungen, die es
innerhalb der zionistischen Siedlungsbewegung tatsächlich gibt, wurde
ein anderes Volk seines Grund und Bodens beraubt. Wurde ein anderes Volk
- die Palästinenser - zu einem Volk von Flüchtlingen, dessen angestammte
Lebensweise völlig auseinander fiel.
Heute weiß dieses Volk, dass das Rad
der Geschichte nicht zurückzudrehen ist, und es macht der Welt auch
klar, dass es das weiß. Die Palästinenser schlagen Grenzen vor, die für
beide Seiten den Weg in eine andere Zukunft eröffnen können. In eine
Zukunft, die auf Annäherung setzt, auf die Herausbildung von zwei
Staaten, die irgendwann vielleicht einmal zu einer Konföderation werden,
oder zu irgendeiner anderen fairen Lösung führt. Und sie machen diesen
Vorschlag in einer Zeit, in der man sich auf israelischer Seite kaum
noch eine andere Lösung vorstellen kann als eine, die auf fortgesetzte
Expansion der Siedlungen setzt, auf den Ausbau militärischer
Kapazitäten, auf die Militarisierung des Alltags.
In diesem politischen Rahmen ist es
für die Palästinenser nur logisch und realistisch, von Israel die
Anerkennung ihres Rechtes auf Rückkehr in ihr Land und ihre Häuser zu
fordern. Aber die Israelis nehmen diese Forderung als die allergrößte
Bedrohung wahr: als ein besonders heimtückisches Manöver, um den Staat
Israel als jüdischen Staat zu vernichten. Ein solches Kalkül mögen
einige Personen und Gruppen wirklich im Kopf haben, und in der
Vergangenheit war das sicher der Fall. Aber in der heutigen Situation
ist die allgemeine Stimmung unter den Palästinensern ganz anders. Viele
reden von dem Rückkehrrecht als einem Prinzip und glauben, dass es in
der Realität so fair umgesetzt werden kann, dass die Existenz des
jüdischen Staates und die kulturell-nationalen Unterschiede zwischen
beiden Völkern nicht gefährdet werden.

Nachdem die UNO am
29.11.1947 die
Teilung des ehemaligen britischen Mandatsgebietes Palästina (britisch
seit 1918, zuvor Randprovinz des Ottomanischen Imperiums) beschlossen
hatte, zogen die Briten ab.
Die jüdische Bevölkerung des ehem. Mandatsgebietes rief im ihr
zugesprochenen Teil am
14.Mai 1948 den Staat Israel aus.
http://www.hagalil.com/israel/geschichte/kriege-1.htm
Wenn also Israel seine
Verantwortung für das Leid anerkennt, das sie den Palästinensern im
Jahre 1948 zugefügt haben, dann werden sich die Palästinenser ganz
sicher auf die schmerzvolle Tatsache einstellen müssen, dass eine
physische Rückkehr in die konkreten ehemaligen Heimatorte unmöglich ist.
Heute ist es gewiss noch zu früh, darüber zu befinden, wie viele der
Flüchtlinge wie und wohin zurückkehren können. Das darf nicht übereilt
und einseitig entschieden werden. Die Palästinenser werden begreifen
müssen, dass die jüdischen Ängste vor einer Vernichtung nicht
eingebildet sind oder auf historischer Manipulation beruhen, sondern von
einer sehr konkreten Vergangenheit herrühren. Und die Juden werden ihre
Augenbinden ablegen und erkennen müssen, dass im Kontext des Nahen
Ostens die Palästinenser sehr viel mehr Grund zur Angst haben, als sie
denken; Angst davor nämlich, dass die Juden sie vertreiben wollen und
auch - zumindest kurz oder mittelfristig - über die Mittel dazu
verfügen.
"Eine
andere Zukunft", die das Recht auf Rückkehr ermöglichen würde, ist eine
Zukunft, in der nicht mehr die demografischen Fakten und das Recht der
Mächtigen den Ausschlag geben. Sollten diese Prinzipien aber weiterhin
dominieren, dann ist in der Tat die israelisch-jüdische Existenz
gefährdet. Denn innerhalb eines Jahrzehnts wird es mehr Palästinenser
als Juden geben.
Eine "andere Zukunft" setzt also
voraus, dass die politische Entwicklung nach und nach über die Logik des
Nationalstaates hinausdrängt. Und zwar auf beiden Seiten. Aus heutiger
Sicht ist eine solche Perspektive völlig utopisch. Viel konkreter und
realistischer erscheint die Aussicht auf einen Konflikt, der sich wie im
früheren Südafrika zwischen einer rechtlosen Mehrheit und einer
privilegierten Minderheit abspielt. Es sei denn, Israel begreift im
letzten Moment, welche Chance das palästinensische Geschenk darstellt.
Und greift endlich zu.
aus
dem Engl. von Niels Kadritzke
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