Rezension
Orte und Räume:
Jüdischer Almanach 2002
Von Andrea Übelhack
Orte und Räume in der jüdischen Welt sind Gegenstand des neuen Jüdischen
Almanachs. Dabei wurden in dem Sammelband die unterschiedlichsten Ideen,
Projekte und Skizzen von "jüdischen Orten" zusammengetragen: Tel Aviv,
Berlin, Birobidschan, Marienbad, das WorldWideWeb und schließlich "Jews
in Space" als "Jewish Space".
Der Schwerpunkt des Almanachs wurde auf Israel gelegt, wobei vor allem
Tel Aviv im Mittelpunkt der Darstellungen steht. Catherine Weill-Rochant
spürt der Urbanität Tel Avivs und der Renaissance der jüdischen
Bürgerschaft nach, indem sie von den Anfängen der Stadt berichtet. Als
Gartenstadt geplant erwarb Tel Aviv 1921 den Status einer unabhängigen
Kommune. Dabei geht sie der Frage nach dem "gleichermaßen provinziellen
wie urbanen Charakter von Tel Aviv" nach, "der – als Vorstadt geboren –
Hauptstadt wurde und wo ein Jude nicht mehr bloß ein Feierabend- und
Festtagsjude war."
Tel Aviv in der dichterischen Darstellung ist das Thema von Barbara Mann
von der Princeton University. Sie untersucht Diasporaelemente in der
lyrischen Darstellung Tel Avivs und stellt die paradoxe Position der
Stadt in der Erinnerung dar. In Gedichten spiegelt sich einerseits das
Neue der Stadt, das einen Mangel an Erinnerung mit sich bringt,
andererseits der Überschuß an Erinnerung durch das "kollektive Heimweh"
der Einwohner.
Der Leser findet jedoch völlig neue Seiten der Stadt präsentiert, wie in
Ariel Hirschfelds Beitrag über den Unabhängigkeitspark von Tel Aviv.
Eigentlich ist der Park kein besonderer Ort, kein schöner Fleck bei Tag,
die Verwandlung findet im Dunklen statt, wenn der Park zum Treffpunkt
für Homosexuelle wird. Hirschfeld vergleicht ihn mit dem Wald im
Sommernachtstraum, "die Menschen darin betreten das Mondscheingehölz
(erhellt vom Mond und vor allem von den fluoriszierenden Lampen im
nördlichen Teil), um einen Gefährten zu finden". In der Mitte des Parks
ist eine Mauer, die Begrenzungsmauer des Hiltons, die "Kotel", also
Klagemauer genannt wird. An dieser Mauer finden sich die Paare, die
gesamte sexuelle Spannung des Parks entlädt sich hier. Auch das also ein
jüdischer Ort, der vom Umgang des Judentums mit Homosexualität klagt.
Der Park ist übrigens auch Zentrum einer literarischen
Auseinandersetzung mit dem "Schwulsein" in Tel Aviv, Jossi Avni nannte
seinen Roman: "Der Garten der toten Bäume".
Tel Aviv ist zudem der Ort, an dem sich das Mediterrane in Israels
Alltagskultur am besten zeigt. Alexandra Nocke untersucht das Konzept
der "Jam Tichoniut" unter der Frage nach Konstrukt oder gelebter
Realität. Sie sieht in der Suche nach Identität zwischen West und Ost
die "Mittelmeer-Option" als guten Mittelweg. "Jam Tichoniut" wird in
Israel als neues Konzept diskutiert und ist sowohl im Alltag als auch in
den Medien präsent: "Wir finden sie im Trubel der Märkte, im
gemächlichen Lebensrhythmus heißer Sommertage, in Unzulänglichkeiten der
Bürokratie, Aktivitäten im Freien und späten Mahlzeiten mit der
Großfamilie." Die Diskussion ist letztendlich die Suche nach einer
Ordnung der vielfältigen israelischen Gesellschaft.
Esther Zandberg, die in Haaretz eine Kolumne über Architektur schreibt,
stellt die unterschiedlichen Sichtweisen zweier junger Architekten zu
jüdischen und arabischen Ortsbilder in Israel dar. Während Najube
Mazarib, im vergangenen Jahr den Leon-Reiskin-Preis der Universität
Haifa erhielt, das Charakteristikum des arabischen Ortes im ständigen
Wandel, im Chaos in der Bebauung sieht, wendet sich Nabil Hadad gegen
eine schnelle Modernisierung und spricht für das Festhalten an alten
Bautraditionen. Hadad sieht im Gegensatz zu seiner Kollegin die
Architektur eng mit den politischen Gegebenheiten verknüpft.
Zeit und Ort wechselt der Leser mit Michael Brenner, Professor für
jüdische Geschichte und Kultur in München. "Zwischen Marienbad und
Norderney: Der Kurort als `Jewish Space´" führt in eine besondere Welt
der "jüdischen Orte" in "unjüdischer Umgebung". Die Präsenz von Juden in
Kurorten geht auf eine lange Traditionen jüdischen Reiseverhaltens im
19. und 20. Jahrhundert zurück. Die Kurbäder unterschieden sich dabei
explizit in jüdische und unjüdische bzw. antisemitische Orte. In
jüdischen Zeitungen kursierten Listen mit Kurorten, an denen Juden nicht
willkommen waren. Der Haß, der den jüdischen Kurgästen überall
entgegengebracht wurde, verdeutlicht sich in einem Brief Theodor
Fontanes, den er 1881 von der "Judeninsel" Norderney nach Hause sandte:
"Fatal waren die Juden; ihre frechen, unschönen Gaunergesichter (denn in
Gaunerei liegt ihre ganze Größe) drängen sich einem überall auf. Wer in
Rawicz oder Meseritz ein Jahr lang Menschen betrogen oder wenn nicht
betrogen, eklige Geschäfte besorgt hat, hat keinen Anspruch darauf, sich
in Norderney unter Prinzessinnen und Comtessen mit herumzuzieren." Den
besonderen Reiz dieser "jüdischen Orte" machen jedoch die Begegnungen
aus, die nur hier möglich wurden, wie beispielsweise das Zusammentreffen
von Franz Kafka mit dem Belzer Rebben, Issachar Dov Rokeach.
Ein ein anderes Ende der Welt führt auch Antje Kuchenbeckers Beitrag
über "Zionismus ohne Zion. Birobidschan: Die Idee eines jüdischen
Staates in Sowjet-Fernost". Die Idee der Gründung eines jüdischen
Staates innerhalb des Sowjetgefüges geht auf die Frage zurück, wie man
mit der "jüdischen Frage" umgehen soll. Doch das Unternehmen scheiterte,
zumindest aus Sicht derer, die einen sozialistischen jüdischen Ort sehen
wollten. Vom Standpunkt der Sowjetführung aber, der nicht wirklich an
einem vitalen jüdischen Staat gelegen war, sondern die durch das Projekt
nationale Ideen klein halten wollte, hatte Birobidschan seine
Berechtigung.
Einem ganz besonderem Thema widmet sich Shaindy Rudoff in ihrem Beitrag
über "Heilige Cybersites". Sie stellt anhand des Beispiels der
Kotel-Website, Überlegungen zur Beziehung von Juden in Israel und
der Diaspora zum Internet an. Das Internet ist vor allem für Israel von
eminenter Bedeutung, da es keinen Respekt vor realen Orten hat und
dadurch eine Globalisierung ermöglicht: "Als Heimat von Juden aus aller
Welt ist Israel schon seinem Wesen nach stark globalisiert." Daneben ist
Israel eine High-Tech-Nation, die bei begrenztem bebaubarem Land auf den
Export von Technologie setzt. Beides steht im krassen Widerspruch zu
Israels Kampf um realen Raum, um Land, zu den endlosen Debatten um jeden
Meter, die den Nahostkonflikt weiter bestimmen: "Während sich unsere
Betrachtungsweise von Raum revolutioniert, sieht Israel sich weiterhin
gezwungen, über die Bedeutung realer Orte nachzudenken." An der
Nahtstelle verortet Rudoff die Kotelcam.
Die virtuelle Klagemauer ist erstaunlich real, man sieht die Kotel, kann
den Blickwinkel ändern und sogar ein Gebet per Email schicken, daß dann
von einem Jeschiwa-Studenten in eine Ritze der Klagemauer gesteckt wird.
Extreme treffen hier aufeinander, denn gerade die Klagemauer, das
Heiligste wird entkörpert. Rudoff stellt damit die politische Frage, ob
die Simulation genügen kann: "Könnten wir die Souveränität über den
Tempelberg aufgeben, wenn wir dafür eine digitale Kamera garantiert
bekämen?" Dennoch deutet sie die "Kotelcam" als diasporisch, denn sie
ermöglicht zwar das Betrachten, aber gleichzeitig auch die Sicherheit
des "nur" Betrachtens: "Der virtuelle Pilger scheint viel zu bekommen
und wenig zu riskieren."
Der Band schließt mit einem Ausflug Charly Wegmans ins All: "Israels
Weltraumodyssee – `Jews in Space´". 1983 wurde die Israelische Raumfahrt
Agentur gegründet, wenn zwar nur mit einem schmalen Budget, aber dennoch
mit große Wirkung. Im September 1988 startete die Rakete Shavit, um
einen Satelliten (Ofek I) ins All zu bringen: "Auf seinen Triebwerken:
der Davidstern, ein nach oben gerichtetes Dreieck, das alchemistische
Zeichen für Feuer, und ein nach unten gerichtetes Dreieck, das Zeichen
für Wasser. Der Kreis schloß sich: Der jüdische Staat wurde damit zur
achten Weltraummacht".
Weitere Beiträge des Almanachs, darunter auch eine Kurzgeschichte von
Etgar Keret, werden von Fotographien Micha Bar-Ams, der seit 1968 zu
Magnum gehört, umrahmt. Insgesamt bietet der von Gisela Dachs
herausgegebene Band eine spannende Lektüre, die die Vielfältigkeit
jüdischen Lebens über Orte erschließt und dabei unbekannte Aspekte und
aktuelle Diskurse miteinbezieht.
hagalil.com / 18-10-2001 |