Ein Wegweiser
für die Toleranz
Leo Baeck
engagierte sich für ein deutsches Judentum, das in der Hinwendung zu
Mystik und wieder entdecktem "Eigenen" nach mehr Identität suchte. Doch
der Nationalsozialismus machte dieses Vorhaben zunichte. Eine
Ausstellung in Frankfurt markiert nun Leben, Werk und Schicksal des
Rabbiners
Von RUDOLF
WALTHER
Selten kommen all die Elemente
der spannungsvollen, widersprüchlichen und katastrophal endenden
Geschichte des deutschen Judentums zusammen. Plastisch wird dieser Weg
der Emanzipation, Assimilation, Ausgrenzung und Vernichtung im Leben,
Werk und Schicksal des Rabbiners und Religionsforschers Leo Baeck. Zu
seiner Geschichte gehört auch, dass es bis heute keine
wissenschaftlichen Standards genügende Biografie Baecks gibt und dass es
fast fünfzig Jahre gedauert hat, bis eine Ausstellung zustande kam.
Das
Jüdische Museum in Frankfurt zeigt jetzt weltweit erstmals eine
Ausstellung über Leben und Werk der Symbolfigur des deutschen Judentums
im 20. Jahrhundert. Fritz Backhaus und Daniela Eisenstein haben die
Materialien für die übersichtliche Ausstellung zusammengetragen und die
Beiträge für den informativen Katalog organisiert.
Leo Baeck wurde am 23. Mai 1873
in Lissa in der preußischen Provinz Posen als Sohn eines Rabbiners
geboren. Hier bildeten die 6,4 Prozent jüdischen Einwohner - fünfmal
mehr als im Durchschnitt des Kaiserreichs - eine starke und geachtete
Minderheit, die zwischen deutschen Protestanten und polnischen
Katholiken eine ausgleichende und liberale Mittlerrolle spielte. Nach
der Matura absolvierte Leo Baeck eine Rabbinerausbildung am
jüdisch-theologischen Seminar in Breslau, der ältesten jüdischen
Hochschule in Deutschland. Ab 1893 studierte er in Berlin und
promovierte 1895 bei Wilhelm Dilthey mit einer Arbeit über Spinoza. Von
1897 bis 1907 war er Rabbiner im schlesischen Oppeln, von 1907 bis 1912
in Düsseldorf. Ab 1913 und bis zu seiner Deportation ins
Konzentrationslager Theresienstadt (Januar 1943) bekleidete er ein
Rabbinatsamt in Berlin und unterrichtete gleichzeitig an der "Hochschule
für die Wissenschaft des Judentums".
In den Auseinandersetzungen
zwischen den liberalen, orthodoxen, ostjüdischen, zionistischen und
antizionistischen Fraktionen nahm Baeck eine vermittelnde Funktion ein
und vertraute auf Toleranz und Neutralität als Wegweiser seines
Handelns. Das hinderte ihn jedoch nicht, in wichtigen Fragen eindeutig
Stellung zu beziehen: Bereits 1897 votierte er gegen eine Erklärung des
"Allgemeinen Rabbinerverbandes", die sich im Namen von "Religion und
Vaterlandsliebe" von der zionistischen Bewegung distanzierte.
Baeck tat dies jedoch nicht, weil
er dieser Bewegung viel abgewinnen konnte, sondern aus Protest dagegen,
dass Juden Zionisten zu religiösen Ketzern machen wollten. Aus dem
gleichen Motiv setzte er sich für einen Berliner Rabbinerkollegen ein,
der entlassen worden war wegen angeblicher zionistischer Propaganda im
Religionsunterricht: "Was Ihnen widerfahren ist, ist so illiterat, so
unreligiös und so unjüdisch, daß man kaum begreifen will, wie es im
Namen einer jüdischen Religionsgemeinschaft, die sich liberal nennt, hat
geschehen können."
Den Ersten Weltkrieg verbrachte
Baeck an der militärischen Front als Feldrabbiner. Insgesamt waren nach
dem September 1914 rund 30 Rabbiner im Kriegseinsatz, in dem sie
Feldgottesdienste abhielten, Verwundete betreuten und Tote begruben. Die
"Burgfriedenrede" Kaiser Wilhelms II., der plötzlich "keine Parteien,
sondern nur noch Deutsche" kennen wollte, schlug auch bei der jüdischen
Bevölkerung ein. Baeck kompilierte ein "Feldgebetsbuch für die jüdische
Mannschaft des Heeres", das auch "vaterländische Lieder" in deutscher
Sprache enthielt. Es wurde - von den jüdischen Gemeinden finanziert - in
17.000 Exemplaren gedruckt. Im Unterschied zur protestantischen und
akademischen Elite, die für den "Gott der Deutschen" bzw. für die
"deutsche Kultur" die Kriegstrommel rührten, verfiel Baeck jedoch nicht
in dumpfen Chauvinismus, obwohl auch er sich mit bedenklichen Worten um
"eine Sinngebung des Kriegsgeschehens" (Ulrich Sieg) bemühte.
Bei Kriegsende verabschiedete
sich Baeck vom Machtstaatsdenken ("Das Streben nach der bloßen Macht ist
am letzten Ende Selbstvernichtung") und hegte zunächst große Hoffnungen
auf eine doppelte Erneuerung - eine politische im Namen der
Gleichberechtigung und eine religiöse im Sinne einer "jüdischen
Renaissance": "Eine neue Zeit will beginnen, eine Zeit, die an den alten
preußischen Idealismus wieder anknüpfen will, in der weithin auch Ideen,
die aus dem jüdischen Geiste geboren sind, sich durchsetzen wollen ...
Die Welt will anders werden."
Solche Erwartungen, die auch mit
Namen wie Franz Rosenzweig und Martin Buber verbunden sind, gediehen
kaum über Ansätze hinaus. Eine wissenschaftliche Diskussion unter
Gleichberechtigten über Judentum und Christentum, wie sie Leo Baeck und
andere Religionsforscher intendierten, kam weder vor noch nach dem
Ersten Weltkrieg zustande.
Die angestrebte Verlebendigung
der jüdischen Religion sollte dadurch erreicht werden, dass Mystik,
Irrationales und das wieder entdeckte "Eigene" in der religiösen Praxis
stärker berücksichtigt wurden. Das hoch riskante Vorhaben stand in einem
unübersehbaren Spannungsverhältnis zur Hochkonjunktur des Irrationalen
in der rassistischen Propaganda und in antisemitischen Ausschreitungen.
In den neun Jahren zwischen 1923 und 1932 kam es in Deutschland zu 112
Friedhofsschändungen.
Zwischen 1933 und 1943 war Baeck
Präsident der "Reichsvertretung der Deutschen Juden", die sich zweimal
umbenennen musste: 1935 zur "Reichsvertretung der Juden in Deutschland",
weil Juden ihren rechtlichen Status als Staatsbürger verloren hatten,
und 1939 zur "Reichsvereinigung", weil Juden jetzt faktisch nichts mehr
vertreten konnten. Baeck hätte die Möglichkeit gehabt, wie seine Frau
und Kinder aus Deutschland auszuwandern. Aber das ausgeprägte
Pflichtbewusstsein des jüdischen Kantianers hinderte ihn daran, seine
Glaubensgenossen zu verlassen. Baeck blieb und arbeitete, bis man ihm
auch dies verbot. Vor seiner Deportation musste er den "Heimkaufsvertrag
H" unterschreiben, mit dem er Geld und Wertpapiere im Wert von 14.500
Reichsmark formell an die "Reichsvereinigung" (faktisch an die Gestapo)
abtrat und damit das illusionäre Recht erwarb, in einem "Altersheim"
untergebracht zu werden.
Bevor die Nazis Baeck nach
Theresienstadt schickten, wollten sie jedoch noch sein Wissen als
Religionshistoriker abschöpfen. Im Auftrag des "Referats IV B 4 (Juden)"
im Reichssicherheitshauptamt verfassten Baeck und seine Mitarbeiter eine
1.600 Seiten starke Studie über "Die Entwicklung der Rechtsstellung der
Juden in Europa, vornehmlich in Deutschland". Sturmbannführer
Regierungsrat Suhr war persönlich bemüht, dass Baeck die Bücher aus der
für ihn nicht mehr zugänglichen Preußischen Staatsbibliothek erhielt.
Auch der deutsche Widerstand, zu dem Baeck Kontakte hatte, interessierte
sich - aus ganz anderen Motiven - für diese historische Studie, um sich
auf den "Tag danach" vorzubereiten. Als Häftling in Theresienstadt mit
einem Einzelzimmer leicht privilegiert, verweigerte Baeck zunächst jede
Mitarbeit bei der "Selbstverwaltung" im "Ältestenrat". Maßgeblich
beteiligt war er jedoch beim Bildungsprogramm mit Vorträgen über
Philosophie und Religionsgeschichte. Insgesamt hielten 516 Referenten
2.280 Vorträge. Nachdem Paul Eppstein im Dezember 1944 von den Nazis
ermordet worden war, wurde Baeck gezwungen, im "Ältestenrat"
mitzuwirken, dem die Lagerleitung perfiderweise die Auswahl der Opfer
für den Transport in die Vernichtungslager übertragen hatte. Für Baeck,
der seit August 1943 wusste, was in Auschwitz und anderswo vorging, war
"die Gratwanderung zwischen Verantwortung und Verstrickung" (Beate
Meyer) eine unerhörte psychische Belastung. Er erlebte das Lager als
"ein Experiment des Willens zum Bösen". Nach dem Krieg ließ sich Baeck
in London nieder, unterrichtete regelmäßig für einige Monate im Jahr am
Hebrew Union College in Cincinnati (Ohio) und unternahm zahlreiche
Vortragsreisen. Leo Baeck gab dem, wofür er selbst als Symbol stand -
ein assimiliertes, liberales, deutsches Judentum -, nach 1945 keine
Chance mehr: "Die Geschichte des deutschen Judentums ist definitiv zu
Ende ... So viel Mord, Raub und Plünderung, so viel Blut und Tränen und
Gräber können nicht ausgelöscht werden." Er starb am 2. November 1956.
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27-06-2001 |