Maxim Billers Roman "Esra":
Nichts als die Wahrheit
Ob Goethe, Goetz oder Biller:
Literatur ist am besten, wenn sie nah an der Wirklichkeit ist. Wenn
sie aus Liebe entsteht oder aus Wut im Bauch. Ein Pladöyer für Maxim
Billers verbotenen Roman "Esra"
Von Joachim Lottmann
Es geht um Maxim Billers Roman "Esra", den ich
über alles schätze und liebe. Und der verboten ist. Weil er so gut,
sozusagen "verboten gut" ist. Ein Gericht in Bayern hat befunden,
die Story sei womöglich zu nahe am Leben einer real existierenden
Person und lässt den Verkauf ruhen.
In meinen Augen ist es aber der erste Roman, der
besser ist als mein eigenes Leben. Der sich aber auch sonst so
angenehm und revolutionär abhebt von den vielen in Deutschland
erscheinenden schlechten Romanen. Der so gar nichts zu tun hat mit
den inhaltslosen, für nichts stehenden, auf ihrem "Talent"
kunstgewerblich klimpernden Gregor Hens dieser Welt - und natürlich
auch nichts mit dem verrotteten halbstaatlichen Literaturbetrieb
mitsamt seinen Bachmann- und anderen Preisen.
Warum habe ich nie Bücher gelesen außer meine
eigenen? Weil sie meistens von Leuten geschrieben werden, die ein
äußerst langweiliges Leben führen. Das spürt man natürlich als
Leser. Diese Leute, prämierte deutsche Gegenwartsautoren, leben ohne
echte Dramen. Die normalen Dramen, die die kleinen Leute haben,
kennen sie nicht, die großen schon gar nicht.
Nehmen wir den Schriftsteller Matthias Politycki. Ich verbürge mich
dafür, dass er seit fünf Jahren nichts, wirklich gar nichts erlebt
hat. Nun hat Politycki aber ein wirklich brillantes Buch
geschrieben: "Weiberroman". Wie ist das möglich, da er doch
angeblich nichts erlebte? Nun, er liebt seine Frau. Wirklich. Es
verwundert nicht, dass Weltliteratur entsteht, wenn dieser
glückliche Autor über seine so sehr geliebte Frau schreibt. Er hat
es im "Weiberroman" getan, im dritten Kapitel. Dieses dritte Kapitel
ist wahr. Es ist so wahr wie Billers Roman "Esra" wahr ist! Genau
solche große, wahre, weil echte Literatur ist seit der Einstweiligen
Verfügung eines deutschen Gerichts im März dieses Jahres verboten.
Sollte es jemals zu einer Trennung kommen, könnte Frau Politycki per
Gerichtsanordnung erzwingen, dass der "Weiberroman" ohne drittes
Kapitel erscheint. Sie hätte nun ein Recht darauf, ihre Privatsphäre
vor der Literatur zu schützen.
Aber: In "Dichtung und Wahrheit" zum Beispiel steht in
beeindruckender Klarheit und auf über 40 Seiten, wie der Autor sich
mit 15 Jahren in eine junge Frau namens Gretchen verliebt und was er
alles mit ihr macht. Es war seine erste und wahrscheinlich einzige
große Liebe, an der er fast starb. Er hätte wohl kaum als
82-Jähriger noch am "Faust" geschrieben, wenn man ihm das schöne
Projekt schon nach der ersten Gretchen-Szene gestrichen hätte. Er
hätte dann vielleicht das Leben vieler deutscher Gegenwartsautoren
geführt. Nie etwas riskieren, nie etwas erleben, alle Energie in den
Aufbau des beruflichen Netzwerkes stecken: Jeden Tag mit den
Vertretern von Gremien sprechen. Jeden Tag auf irgendeiner
Provinzbühne das wertlose Geschreibsel aufsagen, die "clever
gemachten" Fleißarbeiten. Jeden Tag dieselben Kollegenfragen: Für
wen schreibst du gerade? Was kriegst du dafür? Wen kennst du da? Nie
eine inhaltliche Frage. Immer nur: "Der Betrieb". Und wer einmal
nicht den verabredeten Sermon schreibt, dem wird nie verziehen. Der
fliegt raus. Der kommt nie mehr an die Fleischtöpfe der über 1.000
Literaturpreise in der Bundesrepublik.
Es ist natürlich auffällig, dass ausgerechnet Maxim Biller der erste
Schriftsteller seit Klaus Mann ist, der bei uns verboten wird. Ich
weiß, wie das ist, wenn "der Betrieb" einen mobbt. Bei Biller ist es
nun kein Mobbing mehr, es ist die fristlose Kündigung, ja, es ist
Berufsverbot. Für einen Mann, der Kollegenfragen nicht mag und bei
Lesungen Depressionen bekommt.
Biller ist nun mit "Esra" das, was Goethe leider nur mit 15 war:
schwerstens verliebt und zwar mit Grund. Und das ist bei ihm keine
schnell durchschaubare, blutleere Projektion aus dem Laptop, sondern
die pure Wirklichkeit. Seine Titelheldin "Esra" gibt es wirklich.
Unmöglich, sie hier zu beschreiben. Selbst Biller muss alle Kraft
bündeln, um es auf 230 Seiten zu schaffen. So ist das nämlich mit
Menschen, die es tatsächlich gibt, sie sind so komplex wie das sie
umgebende Universum. Nur die Literatur, vor allem die hoch
entwickelte der letzten Jahre, die der Krachts, Billers,
Stuckrad-Barres und Goetz, kann äquivalente Annäherungen an sie
hervorbringen.
Nicht mal aus Servicegründen kann ich etwas über den Inhalt des
Romans sagen. Es wäre sonst genau wieder jene "Verdichtung", für die
die althergebrachte, reaktionäre Literatur sich rühmt, jenes sich
Aufschwingen zu allgemeiner Wahrheit. Die Wahrheit von "Esra" gehört
aber einzig diesem einen und unverwechselbaren Fall. Nehmen wir
lieber ein kleines Beispiel aus dem Buch, einen Mosaikstein: Esra
ist schwanger, aber von einem falschen Mann, nämlich von Thorben und
nicht von Maxim. Den Namen Thorben gibt es übrigens gar nicht, den
hat sich der Autor kongenial ausgedacht für den entsetzlichen,
unterwürfigen deutschen Mann, einen selbstgerechten, stummen
Frauenhinterherschleicher. Esra will kein Kind von ihm und geht zu
ihrem alten jüdischen Hausarzt, der schon sie und später ihr erstes
Kind zur Welt gebracht hat. Der soll abtreiben. Aber sie verpasst
ihn, er ist krank, und so geht sie zu einem deutschen Arzt. Anstatt
mit ihr vernünftig zu reden und abzutreiben, macht er ein
Ultraschallfoto von dem Fötus und erklärt silbrig, das Kind würde
bereits lächeln. Daraufhin behält sie es. Das komplett
vorausberechenbare Unglück nimmt seinen Lauf. Biller benötigt für
diese Szene eine halbe Seite, er kommentiert sie auch nicht. Die
ganze Superblödheit neudeutscher Gegenwartsideologie erschließt sich
auch so.
Allein die Tatsache, dass Biller nicht pc-mäßig schreibt, ist eine
Befreiung für die Leserhirne. Es ist, als käme Luft in einen seit
Jahren dahinmuffenden Dachboden. Im Text wimmelt es von Türken,
Kurden, Juden, Armeniern, Deutschen, und zwar so, wie sie auch in
Wirklichkeit auftauchen, auch in der durch die Medien vermittelten.
Die Nachrichten kommen vor, der türkische Fernsehsender TRT int, der
alternative Nobelpreis, Friedman, die Dritte-Welt-Popmusik. Wenn
heute alle Fernsehsprecher den Vornamen des Bärbel-Schäfer-Freundes
nicht mehr Mischäl, sondern wie den deutschen Michel ausprechen:
Biller könnte es aufschreiben. Nach dem Motto: Die Freiheit nehm ich
mir.
Das Schöne an "Esra" ist, dass es auch jene verschlingen und
genießen können, die etwas älter sind und den Deutschenhass noch
anders genannt haben. Ich spreche von den Altlinken. Die haben
dieselben Phänomene beobachtet wie Biller, hatten dieselbe
Wahrnehmung, dieselben Gefühle, denselben nie erschöpften Hass gegen
bestimmte Menschen. Man nannte diese nicht "die Deutschen", sondern
"die Schweine", "die Nazis" oder, am trennschärfsten: "die Spießer".
Das waren die fetten, Unterhemden tragenden, Auto waschenden,
verbohrten, humorlosen, nach der Polizei rufenden Arschlöcher und
Blockwarte. Bald waren 80 Prozent der Bevölkerung solche "Spießer",
und je mehr wir sie hassten, umso tiefer grub sich diese Haltung in
unser Gemüt sein.
Biller ist ein später Nachfahre dieser Geisteshaltung. Freilich
identifiziert er sich nicht mit einer linken Gegenkultur, sondern
mit einer noch schmaleren Basis, dem jüdischen Leben in Europa. In
"Esra" ahnt man, dass ihn nun auch andere Migrantenkulturen, das
heißt ihre Menschen, interessieren. Für Billers Gedankenwelt ist
dieser Zuwachs nicht nur ein Gewinn, sondern die Erlösung. Mit
seinen offen ausgesprochenen Verdikten gegen die Deutschen konnte er
sich zwar eine Zeit lang eine Gasse durch den Kulturbetrieb
schlagen, aber als Literat ist er damit an die Wand gefahren. Das
zeigte zuletzt der missratene Roman "Die Tochter". Die reale Esra
hat ihm wirklich den Kopf verdreht. Danke, Esra! In "Esra", dem
Roman, finden sich keine hundert Zeilen Hass mehr und keine einzige
Stelle, die die Miesheit der Deutschen behauptet. Sie wird
kommentarlos beschrieben, das ist viel besser. Um richtig verstanden
zu werden: Ich habe "Hundert Zeilen Hass", die Tempo-Kolumne, wie
kein zweiter geliebt. Aber nicht in der Literatur.
Schön ist natürlich auch, dass es nun etwas gibt, das Maxim viel
mehr hasst als die nebulöse deutsche Bevölkerung, nämlich diese
unmögliche Frau, Esra. Es ist zwar in gewisser Weise der vitalste,
kräftigste Liebesroman seit Nabokovs "Lolita", aber jeder, der
einmal an der Liebe verrückt geworden ist, weiß, dass im Nachhinein,
im Stadium der Abrechnung, die negativen Gefühle fast ebenso hoch
lodern. Die gnadenlosen Tiraden gegen das Objekt der Begierde: Wie
gut kann ich sie verstehen! Und wie gerecht sie sicherlich sind!
Natürlich wehrt sich die Angesprochene mit einer Einstweiligen
Verfügung gegen das Buch. Aber sie soll damit nicht durchkommen,
nach all dem, was sie dem armen Maxim Biller angetan hat!
Der Roman muss erscheinen, so viel Rache muss sein. Nun sagt zwar
Nicola Reidenbach, Rache könne niemals Kunst sein. Doch ich sage:
Die besten Texte wurden immer mit Wut im Bauch geschrieben. Wie
Billers "Esra". Nein, man sollte das edle, archaische Motiv der
Rache nicht aus der Literatur verbannen. Sonst lesen beim nächsten
Klagenfurter Wettbewerb nur noch die Gregor-Hens-Typen, bei denen es
buchstäblich um nichts geht. Soll ich die Titel der Weltliteratur
aufzählen, die aus Rache geschrieben wurden? Meistens wurde die Frau
im Roman am Ende auch noch fürchterlich bestraft. Goethe ließ
Gretchen schwanger werden, durchdrehen und ins Wasser gehen. Das war
geschickt von Grandmaster Goethe: Damit konnte er beweisen, dass
sein Text Fiktion war, denn die angeschwärzte Person lebte ja noch.
Maxim Biller hat sich verkniffen - was man ihm hoch anrechnen muss
-, seine feingliedrige orientalische Romanheldin am Ende vom
ausflippenden, grobschlächtigen deutschen Maniak Thorben erdrosseln
und vierteilen zu lassen, wahrscheinlich unter Absingen von
Böhse-Onkelz-Liedern. Er entlässt sie aus der Geschichte so heil wie
wahrheitsgemäß. Dafür wird er nun bestraft. Noch mal Klagenfurt: Der
berühmteste Bachmanntext aller Zeiten ist "Subito" von Rainald
Goetz. Es geht dort um Diedrich Diederichsen, der da "Neger
Negersen" heißt und in der Hamburger NDW-Bar Subito verkehrt, die
auch im Text so heißt. Goetz schneidet sich beim Lesen die Stirn
auf. Das dürfte er auch heute noch ungestraft tun. Den Text dürfte
er nicht mehr vortragen.
Am 9. Juli gibt es das voraussichtlich
abschließende Urteil im Fall Biller beim Münchener
Oberlandesgericht.
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