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Bücher / Morascha
 
Thomas Hürlimanns "Fräulein Stark":
Antisemitisches Zeichensystem?

Von Thomas Meyer

Ein Buch sorgt für Aufregung in den deutschsprachigen Feuilletons: Thomas Hürlimanns Novelle "Fräulein Stark" (erschienen bei Ammann in Zürich) soll den gewählten Code nicht beherrschen, was dazu führe, dass ein antisemitisches Zeichensystem verwendet werde. Es ist Marcel Reich-Ranicki im "Literarischen Quartett" gewesen, der diese  Entdeckung gemacht haben will, sekundiert von seinen Mitstreitern Hellmuth Karasek, Iris Radisch und dem Wiener Schriftsteller Robert Schindel.

Außerdem, so Reich-Ranicki, habe bis auf Gunhild Kübler in der Zürcher "Weltwoche" niemand  der zahllosen Kritikerinnen und Kritiker  den jüdischen Subtext des Buches – er mache sich am Namen "Katz" fest – erkannt. Ein doppelter Skandal. Kurze Zeit darauf machte Ursula März einen Kotau: sie habe bei ihrer positiven Besprechung in der "Frankfurter Rundschau" tatsächlich die Hinweise und die Art ihrer Verarbeitung in der Novelle missachtet. Und so geht es weiter. Hürlimann erklärte in der "Neuen Zürcher Zeitung" die Absicht seines Buches, wies alle Vorwürfe zurück. Reich-Ranicki insistierte: Wenn er "Jude" meine, dann solle er "Jude" schreiben.

Neugierig geworden las ich das Buch, Antisemitisches konnte ich nicht finden. Reich-Ranicki, man muss angesichts des Vorwurfes so formulieren, ist seinem Literaturbegriff auf den Leim gegangen. Naiver Realismus könnte man nennen, was er in Büchern sucht. Deshalb hat er vor Urzeiten Peter Weiss "Ästhetik des Widerstands" nicht verstanden, und vor einigen Jahren vor Brigitte Kronauers Anthologie "Schnurrer", ein Buch über Katzen, kapituliert.

Worum also geht es? In dem Buch findet der Leser die Geschichte eines Jungen, der den letzten Sommer vor dem Eintritt in die Klosterschule in der von seinem Onkel geleiteten historischen Stifts-Bibliothek verbringt und dort als kleine Aufgabe den Besucherinnen und Besuchern die Pantoffeln überzieht, damit sie nicht das wertvolle Parkett beschädigen. 

Die Handlung spielt vornehmlich in der Schweiz der sechziger Jahre und wird durch zwei Stränge bestimmt. Beide sind für den Protagonisten – "hic est nepos praefecti" – rätselhaft: er wird von dem Fräulein Magdalena Stark als kleiner "Katz" bestimmt und in ihm erwacht die Sexualität. Auch sein Onkel ist ein "Katz", was die Sache, nämlich Träger eines verheimlichten Familiennamens zu sein, nur noch komplizierter macht. Der Erzähler schildert in Exkursen die Schwierigkeiten der Katz’, eine altbekannte Geschichte der gesellschaftlich aufgezwungenen Verleugnung des eigenen Judentums, sich in der Welt zurecht zu finden.

Determiniert sind sie von dem Versuch, sich als besserer Verkäufer, Jurist oder eben Monsignore erweisen zu wollen. Eines allerdings fehlt: das Wort Jude. Beziehungsweise nicht ganz. Einmal besucht der Junge mit dem Onkel dessen Stammtisch und er erhält Aufklärung über eine Wurst, die Fett aber kein Fleisch enthält, daher "g’stauchte Jud’" genannt wird. Hürlimann lässt die beiden Rätsel oder Unbekannte schnell verschränken. Denn zwar drückt sein Körper durch Onanie die Sexualität schon aus, doch ihm fehlt dafür das Wort. Wo doch der Onkel die alte scholastische Formel "Nominia ante res", also: Die Wörter vor den Dingen, ständig wiederholt. Und ausgerechnet Fräulein Stark wirft ihm das entscheidende Wort zu: das Katzenhafte.

Aber das ist doch das zweite Problem. Also fängt der Neffe an, so gut es eben geht, obwohl es nicht gut geht, das katzenhaft und die Sexualität an sich zu verleugnen. Der Monsignore, von Fräulein Stark stets instruiert, wenn der Neffe Unsinn angestellt hat, zeigt Verständnis, weiß natürlich um die Natur. Und die Nase, die er mitten im Gesicht trägt und die ihm groß vorkommt, ist nicht zu überlisten: er will den Duft der Frauen riechen. Der Zirkel zwischen Katz und Sex, der natürlich ein vom Jungen imaginierter ist, wird durch den Besuch der Klosterschule gebrochen.

"Antisemitismus als kultureller Code" heißt eine wichtige Studie der israelischen Historikerin Shulamit Volkov. Hier wird der Antisemitismus in seinen Facetten, seinen Bildern entlang der historischen Entwicklung im deutschen Kaiserreich analysiert. Dabei stellt sie resümierend fest: "Emanzipation und Antisemitismus waren die Inbegriffe zweier Kulturen, die im deutschen Kaiserreich nebeneinander existierten." Seit dem "Dritten Reich" und der vorgesehenen Vernichtung der europäischen Juden hat auch dieses Paradigma unterschiedliche Ausprägungen erhalten und eigene Codes entwickelt.

Rainer Werner Fassbinders "Der Müll. Die Stadt. Und der Tod" scheiterte kläglich, war antisemitisch, weil er den Code der Antisemiten unterlaufen wollte, um Ignatz Bubis als Immobilienhai kritisieren zu können. Bei Hürlimann ist all das völlig anders. Sein Paradigma "Katz/Sexualität" ist eine Beschreibungsfläche, die ein Unbehagen an der Ungewissheit ausdrückt, einem allerdings nicht den Gefallen tut, mit schlichten Hinweisen alles in Wohlgefallen aufzulösen.

Ob Reich-Ranicki der auktoriale Erzähler zu "dumm" ist? Thomas Mann hätte die Sache sicherlich anders erzählt! Dass das Buch tatsächlich von vielen Kritikern auf seinen jüdischen Hintergrund hin befragt wurde, ist eine andere Tatsache, die Reich-Ranicki einfach nicht sehen will. Die Vorwürfe gegen Thomas Hürlimann sind Auswüchse eines "Gesinnungsprüfers", so Gerhard Stadelmaier in der "FAZ".

 
Thomas Hürlimann
Fräulein Stark
Novelle

Amann Verlag Zürich 2001
Euro 19,50
ISBN: 325060075X

haGalil onLine 07-09-2001

 


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