
Ausstellung jüdischer Kinderbücher:
Baby Moses im Binsenkörbchen
Vom Scheitern
der deutsch-jüdischen Assimilation: Mit detektivischer Akribie hat
das Ehepaar Helge-Ulrike und Charles Hyams auf der ganzen Welt nach
jüdischen Kinderbüchern aus Deutschland gesucht - ihre Fundstücke
sind in einer bemerkenswerten Ausstellung in der Berliner
Staatsbibliothek zu sehen
Von Esther Slevogt
Die Berliner Staatsbibliothek Unter
den Linden ist ein monumentaler Ort. Seine Düsterheit steht derzeit
allerdings in einem schönen Gegensatz zum Gegenstand einer hier
gezeigten Ausstellung - noch bis zum 11. Januar sind im Vestibül der
Bibliothek historische Kinderbücher zu sehen. Die kostbaren
Originale hinter Glas, ausgewählte kopierte Leseexemplare liegen
aus. Im fahlen Licht zwischen den enormen Treppen und Säulen will
allerdings keine Atmosphäre aufkommen, die an so etwas wie Kindheit
denken ließe. Man wünscht den Büchern unwillkürlich einen helleren
Ort - besonders, weil viele selbst die Geschichte einer Vertreibung
aus der Kindheit erzählen.
Denn es handelt sich um jüdische
Kinderbücher aus drei Jahrhunderten: Schulbücher, Lesefibeln,
religiöse Schriften, Haggadot, Kinderkalender, Erzählungen und
Romane, die nicht nur Einblicke in untergegangene jüdische
Lebenswelten geben, sondern auch die gescheiterte Geschichte der
deutsch-jüdischen Assimilation erzählen. Das älteste Buch ist eine
Pessach-Haggada aus dem Jahr 1667. Eines der jüngsten Bücher ist ein
Handbuch für jüdische Auswanderer aus dem Jahr 1938, dem Jahr, in
dem jüdische Verlage in Deutschland verboten wurden.
Beide Bücher bilden zeitlich und
thematisch die Klammer der Ausstellung "Jüdisches Kinderleben im
Spiegel jüdischer Kinderbücher". Die Pessach-Haggada erzählt die
biblisch-mythische Geschichte vom Auszug der Juden aus der
ägyptischen Sklaverei ins Gelobte Land. In nahezu jeder jüdischen
Familie ist eine solche Haggada vorhanden, die traditionell am
ersten Abend des Pessachfestes im Familienkreis gelesen wird. Das
Handbuch für jüdische Auswanderer ist im Jahr der so genannten
Reichskristallnacht erschienen. Es bietet Hinweise und Informationen
zu Auswanderungsländern und deren Währungen und klimatischen
Verhältnissen. Ein "ausgesprochen zeitbedingtes jüdisches
Speziallexikon", wie es sarkastisch im Vorwort heißt.
Die meisten Bücher der Ausstellung
wurden zwischen 1976 und 1993 von der in Bremen lehrenden
Pädagogikprofessorin Helge-Ulrike Hyams und ihrem inzwischen
verstorbenen Mann Charles Barry Hyams zusammengetragen. Auslöser war
die Geburt der Tochter und die damit verbundene Feststellung, dass
es in Deutschland keine Literatur für jüdische Kinder gibt. Für
Charles Hyams, der aus einer assimilierten britisch-jüdischen
Familie stammte, führte die Spur der Bücher, die ihn und seine Frau
um die ganze Welt leitete, auch in die eigene Kindheit zurück. Das
Exlibris eines der ausgestellten Bücher bringt das Schicksal vieler
Sammelstücke auf den Punkt: Es stellt ein Buch dar, das zwischen
Europa und Südamerika schwimmt. Mit detektivischer Akribie haben die
Hyams in Antiquariaten und Emigrantennachlässen rund um den Globus
die verlorenen Kinderbücher gesammelt und nach Deutschland
zurückgebracht. 1998 waren sie zuerst im Marburger Kindheitsmuseum
zu sehen und wurde nun aus Beständen deutscher Bibliotheken ergänzt:
sofern es dort überhaupt noch Kinderbücher gab, die der
Bücherverbrennung im Mai 1933 entgangen sind.
Die ältesten Bücher belegen die Euphorie
des Aufbruchs in die bürgerliche Gesellschaft, wie die hebräische
Ausgabe des berühmten "Sittenbüchleins für Kinder" (1846) von
Joachim Heinrich Campe, dem bedeutenden Pädagogen und Erzieher
Alexander von Humboldts. In vier fiktiven Gesprächen bekommen Kinder
ethische Anleitungen, wie sie zu verantwortungsbewussten und freien
Bürgern werden können.
Dies Buch wurde noch ins Hebräische
übersetzt. Doch schon David Friedländers "Lesebuch für jüdische
Kinder" von 1779 setzte auf die Gleichrangigkeit der deutschen und
der jüdischen Kultur bei der Erziehung der Kinder. Es ist das
Zeitalter von Moses Mendelssohn - Leitbild der deutschen Juden
schlechthin. Immer wieder wird sein Leben auch in Jugendbüchern als
vorbildhaft geschildert. Religiöse Identifikationsfigur ist durch
die Epochen das Baby Moses im Binsenkörbchen, das der Verfolgung
entgeht und zum Befreier seines Volkes aufsteigt. In den
Ikonografien vieler Kinderbücher hat es eine ähnliche Funktion wie
das Jesuskind in der Krippe für christliche Kinder.
Auffällig viele Kinder- und Jugendromane
stammen dann aus den Jahren 1933 bis 1938. Ziemlich durchgehend
verfolgen diese Bücher das Ziel, den Kindern im Umfeld
antisemitischer Nazi-Propaganda etwas Positives über ihr Judentum zu
vermitteln. Oft handeln die Bücher auch von der Auswanderung nach
Palästina und schildern das Pionierleben in "Eretz Israel" oder im
Kibbuz in abenteuerlichsten Farben. Eine Fibel aus dem Jahr 1936,
noch in Sütterlinschrift, stellt mit dem Buchstaben J die Stadt
Jerusalem vor. Das letzte jüdische Kinderbuch erschien im Herbst
1938, "Spatz macht sich". Doch weil nach der Drucklegung alle
jüdischen Verlage verboten wurden, ist das Buch nicht mehr in den
Verkauf gelangt. Seine Autorin Meta Samson wurde 1942 zusammen mit
ihrer Tochter Marlene, dem Vorbild für die Titelheldin "Spatz", in
Auschwitz ermordet.
Berlin,
Staatsbibliothek Unter den Linden, Vestibül, noch bis 11. 1.
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04-01-03 |