Identitätsspiele
Eine Tagung über Juden und
den Kommunismus in Leipzig
Von Thomas Meyer
"Jüdische Fragen –
Kommunistische Antworten?" Unsicherheit schwingt in der Frage mit, die
sich das Leipziger Simon Dubnow Institut für seine internationale
Jahrestagung vorlegte. Unsicherheit ist allerdings ein wertvolles
hermeneutisches Gut, besonders dann, wenn man erst am Beginn der
Forschung steht. So war der Untertitel "Über Säkularisierung, Ethnizität
und Zweite Konversion" vor allem als Vorschlag zu verstehen: mit Hilfe
des "cultural turn" Phänomene zu beschreiben, deren Einordnung sich
jeder vorgreifenden Methode entzieht.
Obwohl das Spektrum das gesamte
20. Jahrhundert umspannte und Entwicklungen in ganz Europa und den USA
zur Sprache kamen, zerfiel die Tagung nicht in disparate Einzelaspekte.
Mit Themen wie "Kommunismus in Jiddisch" von Gennady Estraikh, Feliks
Tychs Reflexionen über Rosa Luxemburg oder dem faszinierenden Bericht,
den Arnold Pauker über seine Beteiligung am Kampf jüdischer Kommunisten
gegen die Nationalsozialisten gab, fächerte sich das Spektrum auf, in
dem die Tagungsfrage mögliche Antworten finden konnte. Denn dass die
"kommunistischen Antworten" tatsächliche Antworten waren, blieb außer
Zweifel.
Fasst man die Einzelstudien etwa
über Jugoslawien von Ivo Goldstein, Ungarn von Victor Karady oder Polen
von Jack Jacobs unter dem Aspekt zusammen, wie attraktiv der Kommunismus
für Juden war, kann man tatsächlich von der Möglichkeit sprechen, dass
jüdische Kommunisten einen radikalen Bruch mit ihrer Tradition
vollziehen konnten. Nach der Emanzipation aus Ghetto und Schtetl boten
sich existenzielle und intellektuelle Anreize für einen neuen,
eigenständigen Weg, und gleichzeitig fand man eine Ersatzfamilie.
Besonders nach Karadys Vortrag war dank virtuoser Bourdieuscher
Feldforschung klar, wie wenig die Rede von Assimilation und
Akkulturation greift, wenn man sie nicht genau zeitlich lokalisiert. Die
Zeitläufte zwischen 1900 und 1956 verlangten aus existenziellen Gründen
Mobilität und Flexibilität.
Zionismus, Nationalismus und
diverse religiöse Optionen boten alternative Möglichkeiten zum
Kommunismus, um auf die durch Aufklärung und formelle Gleichstellung
entstandene neue Situation zu reagieren. In seinem Porträt des
polnischen Avantgardisten Aleksander Wat (1906-1967) konnte Leonid Luks
zeigen, wie sehr es die Erfahrung des Kommunismus und der Abwendung von
ihm möglich machte, die Entwicklungen in der Sowjetunion kritisch zu
kommentieren. Man konnte Außenseiter bleiben, während die anderen Wege
wieder unmittelbar in größere Zwänge geführt hätten.
Nicht-jüdische Juden
Nicht weniger uneindeutig und
damit exemplarisch ist der Lebens- und Denkweg des berühmten Stalin- und
Trotzki-Biografen Isaac Deutscher. Seine Formel vom "nicht-jüdischen
Juden", den er geistesgeschichtlich in einer Reihe von Spinoza bis zu
Freud sah, bricht nochmals die Schemata auf. Detlev Claussens tour
d’horizon durch die Geschichte missglückter Säkularisierung und
zerstörter Hoffnungen zeigte einen Versuch, die desaströsen Taten des
Kommunismus mit der eigenen Herkunft zu versöhnen. Wenn Claussen dieses
Konzept allerdings mit dem Begriff der "Weltanschauung" verband, nahm er
der offenen Wunde den Schmerz.
Wie schmerzlich die Erfahrungen
mit jüdischen Kommunisten sind, zeigte eine Podiumsdiskussion, die Dan
Diner mit Feliks Tych und Aleksander Smolar zusammenführte. Schnell
wurde klar, wie sehr Gleichzeitigkeiten bis heute ein von allen Seiten
akzeptiertes Narrativ über das Verhältnis von Polen, Kommunisten und
Juden, und besonders für jene, die alles auf einmal waren, verhindert
haben: Tych führte aus, wie fatal die Auswirkungen waren, als 1939 der
Gipfel der antisemitischen Rhetorik und der doppelte Überfall auf Polen
zusammenfielen. Jüdische Kommunisten, das zeigen die Pogrome nach dem
Krieg, galten als Feinde, nicht als mögliche Befreier. Dass Polen Zeuge
der Shoah war, wurde von der polnischen Bevölkerung, so Tych, als
Kränkung empfunden, die jetzt im Streit um Jedwabne nochmals aufbricht.
Smolar wollte die jüdische
Opfergeschichte mit Polen als Feind so nicht gelten lassen. Polemisch
erinnerte er daran, dass die Polen mit allen in Frieden leben, nur mit
den Juden "Krieg" hätten. Aber: es gebe nur noch etwa 10000 Juden in
Polen; es fehle also der Gesprächspartner, mit dem man über die eigenen
Erfahrungen, etwa mit den zahlreichen jüdischen Bolschewiken, streiten
könne. So ergebe sich ein gegenseitiger Mythos. Diner spitzte dies zu
der These zu, dass der Zweite Weltkrieg in Polen andauere, weil die
Erinnerungen von Juden und Polen aufgrund der komplexen Lage nicht
miteinander diskutiert wurden.
Auf dieser Tagung hingegen wurde
sehr heftig und kontrovers diskutiert. Die Beobachtungen zu jüdischen
Kommunisten in der ehemaligen DDR von Karin Hartewig und Bettina Völter
warfen die Frage nach der Unabgeschlossenheit und Kompliziertheit der
historischen Prozesse auf. An der Oberfläche ließen sich leicht
Erklärungen für Entscheidungen finden, nahm man aber auch nur einen
weiteren Gesichtspunkt in die Darstellung auf, gelangte das Nachdenken
wieder an den Nullpunkt.
Wie wichtig dieses letzte Eingeständnis ist, zeigte die
Schlussdiskussion der Tagung: Ob Säkularisierung, Konversion, Religion
oder Ethnizität, sie und noch viele andere Begriffe sind tastende
Annäherungen an die Frage nach jüdischer Identität.
hagalil.com / 20-11-2001 |