Klezmer, Klassik, jiddisches Lied:
Jüdische Musik-Kultur in Osteuropa
Ein internationaler Kongress vom 20. bis 22. Oktober 2002 in Potsdam
In Osteuropa, wo vor dem Zweiten Weltkrieg ca. 7 Millionen
jiddischsprachige Juden lebten, gab es eine reiche jüdische Folklore und
ein reges künstlerisches und literarisches Leben. In Religion und Alltag
spielte die Musik eine bedeutende Rolle. Es gab keine jüdische Hochzeit
oder andere Feier ohne Klezmermusik und das jiddische Lied begleitete
das Leben in Freud und Leid, bis hin in die Todeslager der Shoah. Auch
das moderne jiddische Theater entwickelte sich aus Darbietungen
jüdischer fahrender Sänger. Aus dieser Folklore schöpfend, entstand zu
Beginn des 20. Jahrhunderts in St. Petersburg und anderen Orten auch die
jüdische Kunstmusik.
Anlaß des Potsdamer Kongresses sind drei neue Projekte des Lehrstuhls
für Religionswissenschaft zur jüdischen Musik aus der ehemaligen
Sowjetunion: "Jiddische Lieder und Purim-spiele aus der St. Petersburger
Sammlung von Moishe Beregowski und Sofia Magid", finanziert durch die
Volkswagen Stiftung; "Jiddische Lieder und Klezmermusik" aus dem
Tonarchiv von David Kohan, finanziert von der Fritz-Thyssen-Stiftung,
sowie "Die Neue Jüdische Schule in der Musik", finanziert von der
Robert-Bosch-Stiftung. Die dafür bewilligten Drittmittel betragen ca.
750.00 EUR. Mit diesen europaweit innovativen Projekten erweitert der
Lehrstuhl seinen essentiellen Beitrag zu dem Studiengang Jüdischen
Studien an der Universität Potsdam.
Der Potsdamer Kongress soll zum einen die Potsdamer Projekte sowie die
von den Kooperationspartnern in Israel, den USA, Rußland und Holland
komplementär durchgeführten Arbeiten präsentieren. Die Präsentation der
Forschungsprojekte soll den Fachleuten aus den genannten Ländern
zugleich dazu dienen, Erfahrungen auszutauschen und Methodenprobleme auf
diesen noch sehr jungen Forschungsgebieten zu diskutieren. Darüber
hinaus verfolgt die Tagung das Ziel, einer breiten Öffentlichkeit,
insbesondere des deutschlandweit aktiven Klezmer-Musik-Wesens und der
Kulturabteilungen der Medien Potsdam als Ort der Sammlung und
Erforschung jüdischer Musik, als Quelle sowie Ansprechspartner für
verlässliche Informationen zum Thema Jüdische Musik bekannt zu machen.
Begleitet wird der Kongress von zwei Konzerten, von denen das eine
Werkstattcharakter haben und eng mit den wissenschaftlichen Arbeiten
verbunden sein wird und das zweite die Neue Jüdische Musik vorstellen
soll und freierer Gestaltung überlassen bleibt.
Rußland, mit seinen etwa 5 Millionen jüdischen Einwohnern, wurde um die
Jahrhundertwende zu einem lebendigen Zentrum des jüdischen kulturellen
Lebens. Dort wurden die ersten jiddischen Liedersammlungen
veröffentlicht und 1908 wurde in St. Petersburg die "Gesellschaft für
jüdische Musik" gegründet. Nach jahrhundertelanger Unterdrückung und
Verfolgung konnte dank der kurzfristigen Liberalisierung als Folge der
ersten russischen Revolution (1905-1907) eine jüdische Nationalkultur
öffentlich gepflegt werden. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts standen
jedoch sowohl die russisch-jüdischen Institutionen als auch die Künstler
durch den stalinistischen Terror und den nationalsozialistischen
Massenmord bald wieder vor dem Ende. Viele Zeugnisse jüdischer Kultur
wurden unwiderbringlich zerstört, ein Teil von ihnen in der ganzen Welt
verstreut und sind so in Vergessenheit geraten. Jetzt gilt es, diese,
oft unter katastrophalen Bedingungen in Archiven verschiedener Länder
gelagerten einzigartigen Materialien zugänglich zu machen und sie vor
dem Verfall und dem Vergessen zu retten.
Dies betrifft auch die Volkslieder und Purimspiele aus der St.
Petersburger Sammlungen von Beregowski und Magid, die zum Teil als
Vorlagen für die Kompositionen der aus der jüdischen Ethnographie
hervorgegangenen Neuen Jüdischen Schule dienten, mit dem Ziel, eine
neuen, national geprägten jüdischen Stil zu schaffen. Diese seltenen
Tondokumente, während musikethnographischen Expeditionen in den 30er und
40er Jahren des letzten Jahrhunderts auf weichen Schallplatten und
Wachszylindern aufgenommen, werden in Potsdam bearbeitet, um sie
musikwissenschaftlichen Arbeiten zugänglich zu machen.
Die zum Teil schon gesammelten und noch zu sichtenden Archivmaterialien
zur Neuen Jüdischen Schule in der Musik enthalten persönliche Unterlagen
von Komponisten und Interpreten, Dokumente zur Jüdischen Schule selbst,
vor allem aber Liedtexte und Noten, welche von Projektbeteiligten z.T.
schon als CD produziert wurden.
Die bisher ausgewerteten Quellen zeigten, daß die Bemühungen um eine
jüdische Kunstmusik auf Texte und Melodien zurückgriffen, wie sie in den
beiden Archivbeständen der Potsdamer Sammlung belegt sind. Dies
aufzuzeigen, wird ein wichtiger Teil der Darbietungen und Diskussionen
des Kongresses sein.
Die Aufnahmen aus dem Archiv von David Kohan, eines Überlebenden der
Schoah, von ca. 600 Stunden jüdischer Musik, die nach 1945 in Berlin und
anderen Orten entstanden sind, geben ein Zeugnis für den unbeugsamen
Überlebenswillen der jüdischen Kultur, trotz der Ermordung ihrer
Protagonisten und der Vernichtung ihrer Infrastruktur. Sie sind ein
wichtiger Teil der Potsdamer Sammlung. Schon in den ersten Monaten der
Projektarbeit konnten über 4700 zum Teil kaum bekannte jüdische Lieder
und Klezmerstücke katalogisiert werden.
Der Kongress, der Wisenschaftler und Öffentlichkeit gleichermaßen
ansprechen will, wird durch zwei öffentliche Konzerte jüdischer Musik im
Alten Rathaus umrahmt.
Veranstalter ist die Professur für Religionswissenschaft als tragende
Säule des Kollegiums Jüdische Studien an der Universität Potsdam. Die
Kooperationspartner sind das Jewish Music Research Center der
Hebräischen Universität Jerusalem, die Universität St. Petersburg sowie
die Universität Groningen.
Persönliche Anmeldung unter der Kontaktadresse: Professur für
Religionswissenschaft, Universität Potsdam, Tel. 0331-977-1254; Fax
0331-977-1252; e-mail: kgroezi@rz.uni-potsdam.de (Teilnahme ist
kostenlos) Teilnehmer des Kongresses:
Prof. Werner Beidinger, Musikpädagogik, Universität Potsdam
Dr. Aaron Eckstaedt, Religionswissenschaft, Universität Potsdam
Dr. Walter Feldman, Hebräische Universität Jerusalem, IL
Dr. Gila Flam, Direktorin, Musikabteilung der Jüdischen National- und
Universitätsbibliothek, Jerusalem, IL
PD Dr. Susanne Galley, Religionswissenschaft, Universität Potsdam
Jürgen Gottschalk, Universität Potsdam
Dr. Tjeerd de Graf, Universität Groningen, NL
Prof. Dr. Karl E. Grözinger, Lehrstuhl Religionswissenschaft, stellv.
Direktor, Kollegium Jüd. Studien, Universität Potsdam
Dr. Elvira Grözinger, Religionswissenschaft, Universität Potsdam
Jascha Nemtsow, Religionswissenschaft, Universität Potsdam
Beate Schröder-Nauenburg, Religionswissenschaft, Universität Potsdam
Prof. Dr. Edwin Seroussi, Direktor, Jewish Music Research Center,
Hebräische Universität Jerusalem, IL
Prof. Dr. Ludmila Sholokhova, Brooklyn, USA
Prof. Dr. Wolfgang Martin Stroh, Universität Oldenburg
Prof. Dr. Natalia Svetosarova, Universität St. Petersburg, RUS
Helga Völkening, M.A., Religionswissenschaft, Universität Potsdam
Dr. Izaly Zemtsovsky, University of Wisconsin, USA
Künstler:
Dr. Aaron Eckstaedt, Potsdam
Jascha Nemtsow, Potsdam
Jalda Rebling, Berlin
Sonntag, 20. Oktober 2002
17 Uhr Eröffnung des Kongresses
Altes Rathaus, Am Alten Markt, Potsdam
Begrüßung:
Prof. Dr. Karl E. Grözinger,
"Musik in der jüdischen Religion"
Grußworte:
Prof. Dr. Johanna Wanka, Ministerin für Wissenschaft, Forschung und
Kultur des Landes Brandenburg
Prof. Dr. Wolfgang
Loschelder, Rektor der Universität Potsdam
Werkstattkonzert:
Jiddische Volkslieder, Klezmermusik, Musik der "Neuen Jüdischen Schule"
und Feldaufnahmen aus Osteuropa.
Aaron Eckstaedt, Akkordeon und Gesang
Jascha Nemtsov, Klavier
Ulrike Schüler, Gesang
Gäste: Jalda Rebling, Gesang; Susanne Ansorg, Fidel
Montag, 21. Oktober 2002
Universität Potsdam, Am Neuen Palais,
Haus 8, Hörsaal 059
I.
Die Erforschung und Dokumentation der Jüdischen
Musik. Neues aus Jerusalem und New York
Moderation: Tjeerd de Graaf
10.00-10.45 Uhr: Edwin Seroussi, "Bridging the Historical and the
A-historical: New Trends in Jewish Music Research"
Pause
11.00-11.45 Uhr: Gila Flam, "Eastern European Jewish Music Collections
at the Music Department of the Jewish National and University Library:
Cataloguing and Conservation Strategies"
11.45-12.30 Uhr: Henry Sapoznik, "A Quarter Century of the American
Klezmer Revival: A Personal View"
Pause
II.
Geschichte der Erforschung jüdischer
musikalischer Folklore in der UdSSR
Moderation: Edwin Seroussi
13.30-14.15 Uhr: Natalia Svetozarova, "Sofia Magid und ihre Sammlung
jiddischer Folklore in St. Petersburg"
14.15-15.45 Uhr: Lyudmila Sholokhova, "Zinoviy Kisel-
god as a Founder of Jewish Music Folklore Studies in the Russian Empire
at the Beginning of the 20th Century"
15.45-16.15 Uhr: Izaly Zemtsovsky, "Moisei Beregovsky, the Pages of not
so Distant History"
Pause
III.
Inhalte und Rezeption der osteuropäischen
jüdischen Musik
Moderation: Werner Beidinger
16.30-17.15 Uhr: Beate Schröder-Nauenburg, "Jüdisches Volkslied in den
Werken der Neuen Jüdischen Schule"
17.15-18.00 Uhr: Jascha Nemtsov, "Jüdische Musik-folkloristik im
Leningrad der Zwanziger Jahre: Doku-mente der Musiksektion der
Jüdischen-Historischen Ethnographischen Gesellschaft in russischen und
amerikanischen Archiven"
19.30 Uhr: Abendessen für die Referenten
Dienstag, den 22. Oktober 2002
Universität Potsdam, Am Neuen Palais,
Haus 8, Hörsaal 059
IV.
Die Volksmusik in der Religion und im Alltag
der osteuropäischen Juden
Moderation: Karl E. Grözinger
10.00-10.45 Uhr Helga Völkening, "Musik und Niggun als Mittel der unio
mystica in der ostjüdischen Mystik"
Pause
11.00-11.45 Uhr: Susanne Galley, "Musik und musikalische Ereignisse im
Lichte der ‚chassidischen’ Erzählungen"
11.45-12.30 Uhr: Elvira Grözinger, "Jiddische Volkslieder aus der St.
Petersburger Sammlung als Spiegel des jüdischen Lebens in Osteuropa"
Pause
V.
Sprache, Lieder, Klezmer und Tanz in der
gegenwärtigen Forschung und Praxis
Moderation: Susanne Galley
13.30-14.15 Uhr: Aaron Eckstaedt, "Musikalische Formen und rhythmische
Strukturen in den Liedern und Instru-mentalstücken der Sammlung Sofia
Magid"
14.15-15.00 Uhr: Wolfgang Martin Stroh, "Akademische Forschung und
politische Praxis – Erfahrungen mit jiddischen Liedern und Klezmermusik
an deutschen Schulen"
Pause
15.15-16.00 Uhr: Tjeerd der Graaf, "’Die letzten Worte einer Sprache:
Jiddisch in Sankt-Petersburg’; ein frie-sischer Fernsehfilm mit
Einführung über die Groninger Forschungsprojekte"
Kurzes Resumee der Tagung: Karl E. Grözinger
16.30
Führung durch die Ausstellung
Universität Potsdam, Am Neuen Palais,
Haus 8, Raum 0.75
16.30-17.15 Jürgen Gottschalk / Hans-Michael Haußig, "Bibliographische
Sammlung zur jüdischen Volksmusik"
Die Ausstellung ist während der Mittagspausen geöffnet
19.00 Abschlusskonzert
Altes Rathaus, Am Alten Markt, Potsdam
Aaron Eckstaedt und Jascha Nemtsov: Klezmer, jiddische Lieder und Musik
der "Neuen Jüdischen Schule"
hagalil.com / 16-07-2002 |