"Vor aller Augen":
Öffentlicher Naziterror in der Provinz
Die Ausstellung "Vor aller
Augen" zeigt Bilder von Gewaltverbrechen der Nazis. Die Ausreden
vieler Zeitgenossen, man habe nichts gehört, gesehen und
gewusst, wollen die Fotos am Bauzaun der Topographie des Terrors
widerlegen
Von Tilman Günther
Bücherverbrennungen in Herne,
antijüdische Fastnachtsumzüge in Singen und Deportationen in
Eisenach. Der Terror der Nationalsozialisten fand am hellen Tag
und in der Mitte der Marktplätze statt. "Die Fotos dokumentieren
recht eindeutig, dass NS-Terror nicht im Verborgenen
stattgefunden hat, sondern vor aller Augen", sagte Reinhard
Rürup, wissenschaftlicher Leiter der Ausstellung, die seit
Donnerstag auf dem Gelände der "Topographie des Terrors"
präsentiert wird.
Das Besondere ist: "Vor aller
Augen" zeigt den nationalsozialistischen Terror in der Provinz.
Es sind Szenen aus kleinen Städten und Gemeinden, wo jeder jeden
kannte. Nicht still und heimlich wurden Menschen von SA, SS und
der Polizei gedemütigt, gequält und deportiert. In vielen Fällen
war großes Publikum dabei. So etwa bei einer Aktion der SA in
Kassel im Frühjahr 1933, als ein SPD-Kreistagsabgeordneter in
"Schutzhaft" genommen und auf einem Ochsen durch die Stadt
getrieben wurde. Oder bei den vielfältig dokumentierten
öffentlichen Demütigungen für "Rasseschänder". Vor allem Frauen
wurden öffentlich vorgeführt, wegen Kontakten zu
Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern.
Auf den Marktplätzen wurden
ihnen die Haare abrasiert, anschließend mussten sie mit
Schildern um den Hals am Pranger stehen. Diese Schauspiele von
mittelalterlicher Grausamkeit waren offensichtlich populär:
Menschenmassen drängen sich auf den Fotos.
In sechs Kapiteln schlägt die
Schau einen thematischen Bogen. Sie beginnt mit dem
"Machtergreifungsterror" des Jahres 1933, der sich vor allem
gegen politische Gegner richtete. Ungehindert von Polizei und
Justiz vergriffen sich SA und SS an demokratischen Politikern
und Gewerkschaftern sowie an den Einrichtungen ihrer
Organisationen. Das zweite Kapitel zeigt antijüdische
Diskriminierungen und Aktionen, etwa Boykotte gegen Geschäfte.
Dem Pogrom im November 1938 ist ein eigenes Kapitel gewidmet.
Zugleich werden Deportationen an öffentlichen Sammelstellen und
Bahnhöfen gezeigt. Mit Bildern von der Verwertung jüdischen
Eigentums schließt die Ausstellung: Volksgenossen in
Ausverkaufstimmung.
Über drei Jahre recherchierten
die Ausstellungsmacher in 1.500 lokalen Archiven und
Privatsammlungen. In 238 Fällen konnten Fotos ausfindig gemacht
werden.
Bis zum 17. November ist die
Ausstellung am Bauzaun der Topographie des Terrors zu sehen.
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09-09-02 |