"Jud Sauer":
Theaterpremiere auf den Jüdischen
Kulturtagen
Buch und Regie: Adriana
Altaras
Von Gudrun Wilhelmy
Sie sitzen da, alt geworden, die schlimmsten
Zeiten für Juden in Europa im letzten Jahrhundert als
Lebenserinnerung und Lebensschmerz mit sich tragend, mit der
Frage: "Wann ist ein Schmerz verjährt? Um wie viel Uhr?". Mit
solchen Sätzen und Witzen setzt diese Inszenierung auf
menschliche Gefühle: Auf das Weinen und das Lachen, auf die
Erinnerung und das Vergessen wollen, auf fröhliches Miteinander
und tröstende Zuwendung.
Die Lebensgeschichten dieser fünf Personen, von
der jungen Pflegerin Angela (Sanja Peri´c) betreut, sind
miteinander verwoben. Es geht um Liebe und geliebt werden, eine
Ménage à trois, um arm und reich, das davor und das danach,
Partisanenkampf, Vernichtungslager und Jude sein.
Sie verbindet verbindet die gemeinsame
Vergangenheit, und es trennt sie ihre individuellen
Unterschiede. Es eint sie, dass nur sie sich Trost spenden
können, wenn die Erinnerungen zu gegenwärtig werden. Sie
streiten sich, sie machen sich Vorwürfe und Ignatz Sauer brüllt
auch seine Wut, seine Verzweiflung hinaus. Er sieht sich selbst
als Jud Sauer, ein Jude der nicht beschönigen will, der sein
will, wie alle anderen auch und es doch nicht sein kann, nicht
mit seiner und nicht mit der kollektiven Vergangenheit. Es
schwingt Bewunderung und auch Kritik mit, dem "Öffentlichen
Juden", dem "Tanzbär der Geschichte". Und wenn die Namen
Rabbiner Rothschild und Rabbiner Ehrenberg fallen, so ist
plötzlich ein Bezug zum Heute da.
Monologe hinausgeschrieen in die als feindlich
erlebte Umwelt, Monologe als Zwiesprache mit dem Ewigen,
Monologe die ein zuhörendes Ohr suchen. Sie werden von den
wenigen Bemerkungen, Antworten, Erinnerungsfetzen und durch das
Erzählen von Witzen geradezu herausgefordert. Keine
Lebensbeichten, kein Lamentieren über das Schicksal sind zu
hören, allein Feststellungen, Wutausbrüche, Trauer. Und die
Frage, war es richtig, das man hier in diesem Lande blieb oder
hierher zurückkehrte "War es Heimweh? Heimweh wonach?"
Eingewoben ist die Frage nach der Rolle alter
Menschen in unserer Gesellschaft. Die Rolle, die sie selbst
spielen wollen, die man ihnen zugesteht. Das Altwerden ebenso
wie das Jungsein "Wer ist Fassbinder?" fragt die Pflegerin. Das
ist der Punkt, warum solche Stücke immer wieder wichtig sind.
Jede Generation muß neu lernen, jede Generation die Fragen neu
stellen und sich alten Fragen neu stellen. Dies Stück bietet
eine Chance dazu.
Das Ensemble: Mit Hilmar Baumann als Ignatz
Sauer, Heide Simon als Mitzi, Monika Hetterle als Olga, Tim
Hoffman als Nahum, Dietmar Obst als Sascha, Sanja Peri´c als
Pflegerin Angela und Robert Nassmacher als Musiker, ist eine
überaus gute Besetzung gelungen. Die Charaktere reiben sich
aneinander, zeigen ihre Stärken und Schwächen im Miteinander und
– ganz wichtig – alle spielen auf dem gleichen hohen Niveau.
Dieses Uraufführung ist die gelungene Arbeit eines sehr guten
Ensembles. Nicht nur schauspielerisch, auch das Bühnenbild
stimmt punktgenau, die Kostüme passen zur Person, zum Charakter
geradezu perfekt, Choreographie und Musik geben dem ganzen Stück
ein wenig Poesie. Adriana Altaras kann auch durch phantasievolle
und witzige Regieeinfälle begeistern. Ihr ist mit diesem Stück
in Kooperations mit den Jüdischen Kulturtagen inszeniert wieder
eine herausragende Theaterarbeit gelungen.
"Jud Sauer" hat keinen Drehbuchautoren. Es ist
ein Stück aus Texten von Shakespeares "Der Kaufmann von
Venedig", Paul Kornfels "Jud Süss", Fassinders "Der Müll, die
Stadt und der Tod", Lessing "Nathan der Weise" und Shakespeares
Hamlet sowie Bocks/Harnicks Anatevka. Klug mit einander
verknüpft werden die Texte deklamierend vorgetragen, als
Aussagen eingewoben, weil das normale Wort versagt und nur noch
die künstlerisch gestaltete Wortform dem Schmerz, der Trauer,
der Wut über Unterdrückung, Diskriminierung und vereitelter
Lebenschance verbalen Ausdruck verleihen kann.
Aufführungsort:
Maxim Gorki Studio während der Jüdischen Kulturtage 2002
hagalil.com
13-11-02 |