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Sexualität und Spiritualität
im Judentum

"Vergeßt G-tt dabei nicht"
Interview mit Rabbi Zalman Schachter-Shalomi
von Amy Edelstein

Tantra im Westen, Zölibat in Christentum und Hinduismus, sexueller Yoga in Tibet, Klosterleben im Buddhismus ... als wir damit begannen, die so unterschiedlichen Zugänge zur Sexualität im spirituellen Leben zu diskutieren, stellte sich für mich auch die Frage, was wohl das Judentum zu diesem Thema zu sagen hätte.

Ich war in einer rekonstruktionistischen Synagoge mit liberal-zionistischem Ansatz erzogen worden und daher von klein auf mit der Bedeutung, die Familie und Kinder für Juden haben, zutiefst vertraut. Aber gab es auch eine Lehre zur Sexualität selbst, abgesehen von diesem so überaus wichtigen Gebot, an das mich meine Angehörigen niemals zu erinnern vergaßen, nämlich fruchtbar zu sein und sich zu vermehren? Um das herauszufinden, rief ich Rabbi Zalman Schachter-Shalomi an. Rabbi Schachter ist bekannt dafür, Pionierarbeit für spirituelle Erneuerung und für die Schaffung eines interreligiösen Dialogs geleistet zu haben. Er wurde 1947 zum Rabbiner ordiniert, ist emeritierter Professor für jüdische Mystik und Religionspsychologie an der Temple University und hat derzeit den Lehrstuhl für Weltweisheit am Naropa Institute inne. Reb Zalman, wie er liebevoll genannt wird, ließ vor unseren Augen die beeindruckende Lehre lebendig werden, die das Judentum zur Sexualität zu bieten hat.

Bei unserem ersten Gespräch sagte er zuerst einmal: "Eigentlich sollte es keine Frau sein, die einen Mann zu diesem Thema interviewt." Dem mußte ich beipflichten. Und dann überraschte mich Reb Zalman, denn er sprach weiter und beschrieb eine spirituelle Sicht der sexuellen Vereinigung, die so tief berührend, respektvoll und klar war, daß ich völlig erstaunt schließlich den Hörer wieder auflegte, denn aus dem Bild, das er gezeichnet hatte, gewann ich einen Einblick, in welcher Weise Sexualität tatsächlich heilig sein könnte.

Im traditionellen Judentum geht es darum, Gott mit einzubeziehen. "Vergeßt Gott nicht dabei!" sagt Reb Zalman, wenn er seine Bar-Mizwa-Schüler über Sexualität unterrichtet. Im intimsten Kontakt zwischen Mann und Frau, insbesondere zwischen Ehegatten, wird Gott zur lebendigen Gegenwart, und diese Momente werden als eine Gnade gesehen. Die sexuelle Vereinigung ist Mizwa, das Erfüllen eines göttlichen Gebotes, und muß so einfühlsam und respektvoll ausgeführt werden wie jede andere Handlung im Gottesdienst.

Im Judentum ist die Heirat die Schwelle zu aktiver Sexualität. Der Kontext wird zu Beginn festgelegt. Der Segen, der Braut und Bräutigam verbindet, beginnt so: "Schenke diesen liebenden Gefährten große Freude, so wie Du Adam und Eva Freude gabst", und weiter: "Gepriesen seist Du, oh Herr, der die Ursache dafür ist, daß Braut und Bräutigam sich aneinander freuen." Die Aufmerksamkeit des Paares wird von sich selbst als Quelle des Vergnügens weg gelenkt, hin zu jener Quelle, die weit größer ist als jedes Individuum, und was vielleicht das Allerwichtigste ist, ihr sexuelles Vergnügen wird geheiligt.

Durch Rabbi Schachter erfuhr ich von einer Abhandlung über Sexualität aus dem 13. Jahrhundert, von der man annimmt, daß sie von Rabbi Nachmanides stammt. In The Holy Letter definiert Nachmanides die geheiligte Sexualität und den großen Unterschied zwischen der Erfahrung des erotischen Genusses innerhalb – und außerhalb – der in der Torah festgelegten Grenzen. Er schreibt: "Wenn ein Mann seiner Frau in Heiligkeit anhängt, manifestiert sich die göttliche Gegenwart. Im Mysterium von Mann und Frau ist Gott. Wenn sie aber nur erregt sind, verläßt sie die göttliche Gegenwart, und es entsteht Feuer."

Im orthodoxen Judentum erhält der Mann eine genaue Beschreibung und Instruktionen, wie er seiner Frau Freude schenken kann. Er muß ihr Genuß geben, indem er ihr sorgsam seine Zuneigung und sein Begehren zeigt, so daß sich die Frau nicht ungeliebt, unbegehrt oder als Lustobjekt fühlt. Wenn sie den Liebesakt miteinander ausführen, wird der Mann angewiesen, sanft mit seiner Frau zu sprechen und durch seine Worte ihre erotische Leidenschaft zu erregen. Er muß mit ihr auch über Höheres sprechen und ihre Gedanken zu spiritueller Kontemplation erheben. Der große Rambam (Moses Maimonides, 1134-1204) sagt: "Zuerst muß die Atmosphäre geschaffen werden und du mußt so zu ihr sprechen, daß ihr Herz zu dir hingezogen wird, sie befriedigen und glücklich machen und so ihre Gedanken an die deinen binden. Du mußt ihr Worte sagen, die sie erregen und Liebe und Begehren erwecken, und Dinge, die in ihr die Inspiration himmlischer Verzückung und frommes bescheidenes Verhalten entstehen lassen." Und es ist dem Mann ausdrücklich verboten, zu dieser Zeit mit seiner Frau über andere Dinge zu sprechen, denn das würde sie beide ablenken und ihre Erregung und ihren Genuß vermindern. Er wird auch aufgefordert, sich mit ihr vor Antritt einer Reise in Liebe zu vereinen und ebenso, wenn er von der Reise zurückkehrt. Warum? Weil sie ihn während seiner Abwesenheit vermissen wird.

"Stimmt es, daß orthodoxe Juden Geschlechtsverkehr durch ein Loch in einem Tuch hindurch miteinander haben, um die erotische Erfahrung möglichst zu begrenzen?" fragte ich den Rabbi und bezog mich dabei auf eine Erzählung, die ich von Altersgenossen in meiner jüdischen Jugendgruppe gehört hatte. "Ganz und gar nicht", berichtigte mich Reb Zalman. "Ganz im Gegenteil. Die Lehre besagt, daß das Paar völlig unbekleidet sein muß. Es darf nichts zwischen ihnen sein, so wie es keine Distanz zwischen uns und Gott geben sollte." Was Reb Zalman mir sagte, ist sicher wahr. Ich fand eine Passage aus einem der größten rabbinischen Kommentare, dem Shulchan Aruch, das in diesem Gebot noch einen Schritt weitergeht: "Wenn ein Mann sagt: ‚Ich möchte nur bekleidet Geschlechtsverkehr haben‘ – muß er sich von ihr scheiden lassen und ihr die Summe Geldes geben, die im Ehevertrag festgelegt worden war. Denn die Torah verlangt ausdrücklich körperliche Nähe."

Rituale

Im Judentum wird eine Sinnlichkeit des gesamten Körpers zum Ausdruck gebracht, angefangen mit der Reichhaltigkeit melodischer Gebete aus dem "Lied der Lieder", über das Schwingen und Verbeugen im Gebet versunkener Juden und den süßen Düften der Gewürznelken und Orangen am Ende des Schabbat, bis letztlich zur Bestimmung des Schabbat als eine dem Liebesakt besonders geweihte Zeit. Praktisch gesehen ist der Abend des Schabbat eine entspannte und ruhige Zeit für die intime Begegnung – die Arbeit der Woche ist abgeschlossen und beiseite gelegt, das Haus ist geputzt, die Mahlzeiten sind vorbereitet; der Tag der Ruhe steht bevor. Der Schabbat ist symbolisch die Braut Gottes. In wunderschöner Bildhaftigkeit und in Gebeten, die am Freitagabend gesungen werden, locken die frommen Verehrenden die Braut herbei, die Schabbat-Braut. Und genauso umwirbt der Mann seine Frau, hält das Versprechen, das er ihr im Ehevertrag gegeben hat, und ehrt die Königin des Schabbat.

Nähe und Heiligkeit in der Beziehung

Diese poetischen Rituale sind Metaphern für die Liebe der Israeliten zu Gott und scheinen gleichzeitig perfekt dafür konzipiert worden zu sein, einige der häufigsten, wenn auch sehr oft unausgesprochenen Zweifel hinsichtlich intimer Beziehungen zu klären: Wie oft? Wann? Diese Fragen, die potentiell eine Quelle von Angst, Konflikt, Mißdeutung oder Projektionen sein können, werden von diesem Komplex von Geboten angesprochen. Die Rabbis gaben sogar Kommentare zur Häufigkeit und Einzelheiten der Regeln bezüglich sexueller Intimität, und erklärten, daß diese Gesetze intime Beziehungen weder beschränken noch verbieten wollen, sondern dazu da sind, Nähe und Heiligkeit in der Beziehung entstehen zu lassen.

Auf die Frage "Warum hat der Schöpfer ein so kompliziertes Gesetzeswerk geschaffen?", antwortete einer der rabbinischen Kommentatoren: "Weil der Mann das Interesse an seiner Frau verlieren könnte, wenn er sich durch ständigen Kontakt an sie gewöhnt. Also sagte die Torah, sie sollten (zeitweise) getrennt sein, damit sie für ihren Mann genauso begehrenswert ist wie damals, als sie unter den Hochzeitsbaldachin trat."

Ich war beeindruckt von der tiefen Menschlichkeit dieser Lehre, die eine sehr zärtliche und würdevolle Beziehung zur Sexualität und zum Partner erkennen läßt.

Im Judentum werden der sexuelle Wunsch und der Ausdruck der Sexualität akzeptiert und entmystifiziert, und so wird Sex zu einer Selbstverständlichkeit, einfach zu einem Teil der menschlichen Erfahrung. Und doch läßt die Lehre des Judentums auch gleichzeitig immer wieder ein Gefühl für das Wunderbare, das darin liegt, entstehen, weil dauernd auch auf das hingewiesen wird, was über die Beteiligten hinausgeht.

Esoterische und mystische Tendenzen

Verglichen mit der Liebe zum Detail der rabbinischen Kommentare in bezug auf die praktische Bedeutung der Gesetze der Torah für Männer und Frauen, ist über Esoterik und Mystik nur wenig schriftlich festgehalten. Die Kabbalah (die mystische Lehre im Judentum) spricht aber doch von einem Potential zur Transzendenz in der sexuellen Vereinigung, und das ist dem nicht unähnlich, was in östlichen tantrischen Traditionen beschrieben wird. Gott sollte nicht nur im Liebesakt präsent sein, sondern die sexuelle Vereinigung an sich wird als ein Mittel zum Erreichen von Transzendenz gesehen, wobei die Vereinigung von Mann und Frau – Yichud, die kosmische Verschmelzung – das Ziel der Kabbalah symbolisiert. Ich war davon fasziniert, daß ein Gesetzeswerk, das in seinem Kodex ethischen Verhaltens so genau ist, auch eine Lehre über die Auflösung der getrennten Existenz und die Verwirklichung absoluter Einheit enthält.

Durch die Wärme seiner Persönlichkeit und sein überschwengliches Wesen vermittelte Rabbi Zalman Schachter-Shalomi selbst sehr viel von dem Geist und der Menschlichkeit dieser Lehren. In jedem unserer Gespräche bot er großzügig seine eigenen Einsichten, Kontemplationen und Erkenntnisse dar. Seine offensichtliche Begeisterung, verbunden mit einem höchst inspirierenden traditionellen Kommentar, brachte eine weite und facettenreiche Sicht von Sexualität zum Erstrahlen und gab uns viel zum Nachdenken darüber, wie man sich nach jüdischer Ansicht in diesem komplizierten Bereich des Lebens am besten zurecht finden kann.

Frage: Sie stammen aus einer weit zurückreichenden chassidischen Tradition (eine osteuropäische orthodoxe Gruppe), und daher wollte ich mit Ihnen darüber sprechen, wie Sexualität im traditionellen Judentum gesehen wird. Was ist Ihrer Meinung nach die allgemeine jüdische Sichtweise von Sexualität?

RABBI SCHACHTER-SHALOMI: Im Judentum wird vom Moment der Eheschließung an "ja" zur Sexualität gesagt, nachdem es so viele Jahre lang "nein" dazu geheißen hatte. Die Hochzeit heißt "Kedushin", aus der Wurzel "kadosh", und das bedeutet heilig. Wenn der Ring gereicht wird, sagen sie: "Harai, at mekudeshet", was bedeutet: "Du bist angetraut." Es herrscht also eine ganz besondere Einstellung dazu.

Frage: Welchen Einfluß haben die Rituale, die sich auf Sexualität beziehen, auf die Art und Weise, wie der Mensch mit diesem Lebensbereich umgeht?

RABBI SCHACHTER-SHALOMI: Traditionellerweise konnte die Frau den Mann nicht auffordern, außer durch Blicke und Gesten. Sie durfte sich nicht direkt äußern, sondern wenn der Mann sah, daß die Frau sich schmückte, mußte er darin eine Einladung für sich sehen und danach handeln. Wenn der Mann die Frau auffordern wollte, konnte er eventuell zu ihr sagen: "Bist du zur Mitzvah [göttliches Gebot] bereit?" Mit dieser Haltung war die Aufforderung sowohl sanft als auch einladend; die Frage der Einwilligung war nämlich sehr wichtig. Es war verboten, mit einer Frau ohne ihre Einwilligung zusammen zu sein. Tatsächlich sagen alle spirituellen Autoren: "Verbringe Zeit mit ihr, sprich vorher mit ihr, sei sicher, daß sie auch mit dem Herzen ihre Zustimmung gibt." Und das Modell ist immer: "So wie Gott und die göttliche Gegenwart eins sind, so laß uns diese Vereinigung eingehen." Für die Sexualität unter Verheirateten waren Gesetze für die Reinheit der Familie (tahara hamischpacha) vorgesehen, die eingehalten werden mußten, zum Beispiel keinen Geschlechtsverkehr während der Menstruation und so weiter. Und während Puritaner nicht im Traum daran denken würden, am Schabbat Geschlechtsverkehr zu haben, sehen wir es genau umgekehrt. Es wurde als Mizwa gesehen! Aber es ist immer darauf zu achten, ob die Umstände koscher sind oder nicht.

Frage: Sind es also in erster Linie die Situation und die Intention, die Sexualität zu einem geheiligten Ereignis machen?

RABBI SCHACHTER-SHALOMI: So ist es.

Frage: Warum, glauben Sie, ist es im Judentum so wichtig, daß die Frage der Zustimmung und des gegenseitigen Respekts so stark betont wird?

RABBI SCHACHTER-SHALOMI: Erinnern Sie sich daran, daß es von der Bibel her möglich ist, polygam zu sein? Wenn ein Mann also noch eine Frau heiraten wollte, sagte die Torah, daß die erste Frau weder bei der Nahrung noch bei Kleidung oder Unterkunft eingeschränkt werden dürfe. Manche Rabbis sagen, "Unterkunft" bedeute, daß sie sozusagen nicht aus dem Zelt geworfen werden durfte. Aber andere Rabbis sagen, nein, "Unterkunft" ist so zu verstehen, daß, wenn er gewohnt war, zweimal pro Woche den Liebesakt mit ihr zu vollziehen, er es auch weiterhin zweimal pro Woche tun müsse. Er darf es jetzt, da er noch eine Frau hat, nicht weniger tun. Wie Sie sehen, ist sie vom Gesetz her zur ehelichen Gemeinschaft berechtigt. Es gibt eine weitere Aussage im Talmud [Kommentar zur Torah] die besagt: "Der Mann muß die Frau mehr ehren als sich selbst." Oder wenn die Frau von kleiner Gestalt ist und der Mann groß, heißt es: "Dann neige dich zu ihr, um ihr ins Ohr zu flüstern. Sprich nicht von oben herab, wie Eltern es mit Kindern tun würden."

Frage: Meinen Sie, daß diese Regeln das menschliche Element in der sexuellen Beziehung ansprechen sollen, oder geben sie einer gehorsamen jüdischen Haltung Gott gegenüber Ausdruck?

RABBI SCHACHTER-SHALOMI: Nun, welche Garantie gibt es, daß ich menschlich handeln werde? In der Halacha (die Anwendung der Torah auf das tägliche Leben) wird immer die Frage gestellt: Warum tun wir etwas? Weil Gott will, daß wir es tun. Die menschlichen Überlegungen kommen nicht nur aus einer lediglich menschlichen Situation. Manchmal ist der Mann vielleicht zornig oder die Frau ist zornig, und dann kommt man an einen Punkt, wo man danach strebt, wieder zur Harmonie zurückzufinden. Der Baal Schem Tov (Rabbi Israel ben Eliezer, 1700-1760) sagt, daß sich ein Paar, das nicht in Harmonie ist, zusammensetzen und gemeinsam den Ehevertrag lesen sollte, weil das ihre Herzen wieder erwärmen würde.

Frage: Dann wird Gott wieder mit einbezogen und das Paar hat die Gelegenheit, die Dinge zu bereinigen?

RABBI SCHACHTER-SHALOMI: Das ist richtig.

Frage: Es klingt so, als hätte die traditionelle Lehre ziemlich viel zur Sexualität zu sagen.

RABBI SCHACHTER-SHALOMI: Nun, da gibt es Unterschiede. Im allgemeinen wird es traditionellerweise vermieden, öffentlich über Sexualität zu sprechen, und es besteht in dieser Hinsicht der Wunsch nach großer Privatheit. Und wegen des Wunsches, diesen Bereich privat zu halten, ist darüber nicht viel geschrieben worden. Wenn man aber Gelbe Seide oder andere erotische Literatur aus dem Osten liest, bekommt man ein Gefühl dafür, wie im Osten jedes einzelne Niveau des Liebesakts genossen und effektiv zu einem literarischen Ereignis wird. Wenn man dann die Yogatexte liest, sieht man, daß sie auch über ihre spirituellen Erfahrungen und die Bereiche schreiben, in die sie durch Meditation gelangten. Im Judentum findet man darüber sehr wenig.

Frage: Und warum, glauben Sie, ist das so?

RABBI SCHACHTER-SHALOMI: Weil man nicht gern darüber spricht. Es ist fast so, als würde man sagen: "Ich plaudere meine Schlafzimmergeheimnisse mit G-tt nicht aus."

Frage: Meinen Sie, daß die Beziehung zur Sexualität verwirrender wird, wenn nicht offen darüber gesprochen wird?

RABBI SCHACHTER-SHALOMI: Ja. Und besonders heutzutage, in einer Zeit, wo alles andere so klar auf den Tisch gelegt wird. Ich wünschte, es gäbe mehr ekstatische Mitteilungen von Menschen über ihre spirituellen Erfahrungen. Und ich wünschte ebenfalls, es gäbe mehr Erfahrungsberichte von Liebespaaren, die sie an die nächsten Generationen weitergeben. Man kann seinem Kind nicht zeigen, was man macht. Ich kann meine Kinder lehren, wie die Tefillin [Gebetsriemen] angelegt werden müssen, oder wie der Tallit [Gebetsschal] zu tragen ist. Aber dieses grundlegende Gebot zur Sexualität kann ich sie nicht lehren.

Frage: Im Judentum ist nicht viel über ekstatische Gebete oder Sexualität schriftlich festgehalten worden, trotzdem sind die Juden doch ein sehr ausdrucksvolles und sinnliches Volk.

RABBI SCHACHTER-SHALOMI: Richtig. Es bedeutet also nicht, daß es keine fortlaufende Tradition gäbe, obwohl die Tradition nicht aufgeschrieben ist.

Frage: Manche spirituelle Traditionen lehren, daß Sex schlecht, schmutzig und eine Kraft des Bösen ist. Und andere Traditionen sagen, er ist gut, rein und natürlich und noch mehr als das, er ist der schnellste Weg zu erleuchteter Verwirklichung. Das Judentum scheint keiner der beiden Kategorien anzugehören, die Sexualität wird nicht verherrlicht, es wird aber auch nicht gesagt, daß sie schlecht sei. Würden Sie sagen, daß Sexualität einfach ein normaler Bestandteil des Lebens ist, der durch die Art und Weise, wie damit umgegangen wird, geheiligt werden kann?

RABBI SCHACHTER-SHALOMI: Das ist eine Verallgemeinerung, und man muß sich bewußt sein, daß es eine Verallgemeinerung ist. Denn wenn man darüber zu sprechen beginnt, daß es etwas Natürliches ist, und nicht ein göttliches Gebot, befindet man sich auf anderem Grund und Boden. In jeder Religion wird man Menschen finden, die Verfechter der heiligen Sexualität sind, und man wird ebenso Verfechter des Gedankens finden, daß es überhaupt falsch und schlecht ist. Es ist nicht "Entweder-Oder". Und es kommt auch auf die historische Epoche an, über die man spricht.

Frage: Gibt es spezifische Lehren oder rabbinische Kommentare, die sowohl der Frau als auch dem Mann helfen, die Urnatur des sexuellen Begehrens besser zu verstehen, den Einfluß, den es auf uns haben kann, und die Verwirrung, die es zu schaffen vermag?

RABBI SCHACHTER-SHALOMI: Beginnen wir mit der Urfrage. Die allererste der 613 in der Torah ist, fruchtbar zu sein und sich zu vermehren. Es heißt: "Deshalb verlasse der Mann seine Familie und seine Mutter und folge seiner Frau, auf daß sie ein Fleisch werden." Diese Mizwa (Gebot) ist allen anderen Mizwot übergeordnet. Nun, zu Ihrer Frage hinsichtlich der Verwirrung – die Rabbis sagen, daß die meisten Menschen sehr genau darauf achten müssen, ihre finanzielle Situation bestmöglich in Ordnung zu halten, denn sehr viele Menschen haben damit Schwierigkeiten; nur ein geringer Teil hat Schwierigkeiten mit der Sexualität.

Frage: Wird in den Tagesschulen oder den orthodoxen jüdischen Schulen, den Jeschiwas, über die Kraft des sexuellen Verlangens gesprochen?

RABBI SCHACHTER-SHALOMI: Keine Frage, sie sind besessen davon. Es handelt sich um Menschen in den aktivsten Jahren ihres Lebens ohne jede Möglichkeit, sich auszuleben. Sie gehen nicht aus. Sie ziehen nicht herum. Sie halten sich nicht bei geschlossener Tür im selben Raum mit einer Frau auf. Es gibt noch weitere soziale Sitten, die Menschen von Exzessen fernhalten. Aber überall, wo dieser Drang und der Wille sind, gibt es manchmal auch einen Weg, Sie wissen schon?

Frage: Können Sie mehr darüber sagen, was in der Jeschiwa gelernt wird?

RABBI SCHACHTER-SHALOMI: Als ich etwa zwölf war, studierte ich den Talmud, und es gab Fragen, die damit zu tun hatten, ob der Geschlechtsakt vollzogen werden soll oder nicht. Das war eines der Dinge, die wir im Talmud studierten, also beschäftigten wir uns damit. Dieses Material wurde nicht versteckt, aber andererseits durften wir nichts dergleichen tun, Sie verstehen, was ich meine? Es gibt zum Beispiel eine sehr klare orthodoxe Lehre, die besagt, daß der Penis durch die Beschneidung heilig geworden ist und vor der Ehe nicht berührt werden darf.

Frage: Weil er Gott geweiht ist?

RABBI SCHACHTER-SHALOMI: Das war der Ausgangspunkt. Denn er wurde mit dem Zeichen des Bündnisses versehen. Und traditionellerweise durfte vor der Ehe natürlich nichts geschehen, und Masturbation wurde als Sünde betrachtet.

Frage: Ist es die Weihe durch Beschneidung, die den Penis zu einem heiligen Objekt macht? Es scheint mit der jüdischen Sichtweise übereinzustimmen, daß Sexualität an und für sich nicht heilig ist; sie wird durch das Gebet geheiligt.

RABBI SCHACHTER-SHALOMI: Richtig.

Frage: Ich weiß, daß die jungen Männer in den Jeschiwot sehr darin bestärkt und unterstützt wurden, sich mit großer Intensität und Begeisterung dem Gebet und dem Studium zu widmen.

RABBI SCHACHTER-SHALOMI: Das ist richtig. Man hat also die Wahl zu sublimieren oder früh zu heiraten.

Frage: Könnte auch ein asketisches Leben eine Möglichkeit sein?

RABBI SCHACHTER-SHALOMI: In manchen Jeschiwas ist das so. Zu Beginn meiner Studienzeit an der Lubawitscher Jeschiwa [chassidische Gruppe aus dem 18. Jahrhundert] sagte einmal ein Mann zu uns: "Guten Appetit, Jungs." Einer von uns erwiderte: "Davor bewahre uns Gott!" Wir wollten nur essen, um den Körper zu erhalten. Einer gab das Salz, das in die Suppe gehörte, auf den Pfirsich. "Ich brauche das Salz. Aber wer sagt, daß ich es so zu mir nehmen muß, wie ich es am liebsten habe?"

Frage: Gab es jemals Rabbis, die im Zölibat lebten?

RABBI SCHACHTER-SHALOMI: Es gab einige, und sie wurden schief angesehen.

Frage: Gab es welche, die Schüler hatten, obwohl sie im Zölibat lebten?

RABBI SCHACHTER-SHALOMI: Nein, es gab nicht so viele Menschen in dieser Situation. Sie waren irgendwie suspekt. Vor langer Zeit, in den Zeiten des Talmud, gab es einen Rabbi, der von Feuer umgeben war, wenn er die Torah las; es hieß, es war so, als ob Engel um ihn herum wären. Er hieß Ben Azzai. Ben Azzai sagte: "Ich möchte nicht heiraten, denn meine Seele sehnt sich nach der Torah", was soviel hieß wie: ich habe keinen Platz für eine Beziehung. Aber im großen und ganzen runzelte man die Stirn darüber. Zum Beispiel wenn jemand Kinder unterrichten wollte, ließ man es nicht zu, wenn er unverheiratet war.

Frage: Warum?

RABBI SCHACHTER-SHALOMI: Man sagte, daß in so einem Fall die Mütter ihre Kinder zu einem Mann bringen würden, der kein Brot in seinem eigenen Korb hatte – ich sage das jetzt in der traditionellen Ausdrucksweise. Wenn jemand also kein Brot in seinem Korb hatte, sollte man das nicht tun.

Frage: Ist das so, weil sie die Gesetze der Torah nicht erfüllten, die besagen, daß der Mensch fruchtbar sein und sich vermehren soll?

RABBI SCHACHTER-SHALOMI: Ja, und es herrscht auch die Ansicht, daß der Drang so stark ist, daß, wenn man keinen koscheren Ausweg hat, man dazu getrieben wird, einen unkoscheren zu suchen.

Frage: Das stimmt vermutlich in vielen Fällen. Und doch gibt es in vielen anderen spirituellen Traditionen, zum Beispiel im Christentum, Buddhismus und Hinduismus, eine sehr starke Tradition des Zölibats.

RABBI SCHACHTER-SHALOMI: Ja. Und in vielen östlichen Traditionen besteht die Ansicht, daß mit dem ausgeschütteten Samen die Kundalini (die grundlegende Lebensenergie) verschwendet wird. Das ist im Christentum anders, wo der Gedanke auf Jesus zurückgeht, der sagte: "Wer um meinetwillen zum Eunuchen wird, wird in das Königreich eingehen." Damals herrschte im gesamten Nahen Osten die Ansicht, daß das Zölibat der bedeutendere Weg ist. Es steht in den Rollen vom Toten Meer geschrieben, daß es eine jüdische Sekte abseits der anderen gab, wo das Zölibat praktiziert wurde und man sich anscheinend nur mittels Adoption fortpflanzte. Man kann bei Philo und Josephus darüber lesen.

Frage: Was geschah mit ihnen?

RABBI SCHACHTER-SHALOMI: Wir wissen nicht genau, was mit ihnen passierte, denn sie mußten fliehen, aber es ist ganz klar, daß die frühen Kirchenväter, die in der Wüste lebten, aus dieser jüdischen Gruppe von Mönchen und Eremiten stammten. Sie trugen den Namen "Abba", Vater. Wenn man die Wüstenväter liest, sieht man, daß sie Abba Poemen, Abba Ephraim und Abba Soundso genannt wurden. Und die Frauen, die großen Mütter dieser Zeit, hießen "Ima", Mutter.

Frage: Das ist faszinierend. Es gab tatsächlich eine ganze Sekte von asketischen und zölibatären Juden?

RABBI SCHACHTER-SHALOMI: Ja.

Frage: Gibt es im jüdischen Mystizismus etwas, das dem sexuellen Tantra entspricht?

RABBI SCHACHTER-SHALOMI: Darüber spreche ich nur mit einigen von meinen männlichen Schülern. Es hat viel mit der Intention und dem Gebet zu tun. Worüber ich allerdings sprechen kann und was ich nicht zu verbergen brauche, ist die Haltung des Gebets, in der Menschen den Liebesakt vollziehen. Wenn sie einander liebten, war das ein Akt des Gebets, und sie sprachen nicht, sondern sie beteten für die nächste Generation, die sie aufziehen wollten. Sie beteten für ihrer beider Gesundheit. Sie waren also in einem tiefen Gebetszustand.

Frage: Manche westliche Tantra-Traditionen nutzen die Zeit der sexuellen Vereinigung zur Visualisation oder dazu, um für etwas zu beten, und bei manchen tibetanischen Praktiken visualisiert man während der sexuellen Vereinigung tatsächlich die letztendliche Auflösung in der Leere.

RABBI SCHACHTER-SHALOMI: Im Judentum gibt es solche Aussagen auch. Sie muß immer an den g-ttlichen Namen denken, der die Schechina [das weibliche Prinzip G-ttes] bezeichnet, und er muß an den göttlichen Namen des Erhabenen denken, Er sei gepriesen. Dann ist es das männliche und das weibliche Prinzip. Und beim Orgasmus brauchen sie sich nur in diese Namen einzustimmen.

Frage: Soll das in eine meditative Verwirklichung führen?

RABBI SCHACHTER-SHALOMI: Nun, eigentlich dreht es dich um – in eine andere Richtung. Es bringt dich nicht so, wie du bist, in den meditativen Zustand. Es verwandelt dich.

Rabbiner Zalman Schachter Shalomi war - zusammen mit Rabbiner Schlomo Carlebach - Schaliach des Lubawitscher Rebben Menachem Mendel Schneerson. In den 70iger Jahren war er einer der Hauptinitiatoren der Jewish-Renewal-Bewegung.

Redaktionelle Bearbeitung: Iris Noah
 

Glossar jüdischer Begriffe 
Familie im Judentum heute
 
Jüdische Religion

Wir danken www.was-ist-erleuchtung.de
für die Erlaubnis, diesen Beitrag zu publizieren.

 hagalil.com / 23-11-2001

 


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