Man kann sich in Deutschland nicht über mangelndes Interesse an
jüdischer Kultur beklagen: Klezmer-Festivals und Jüdische
Filmfestivals, Jüdische Museen und Judaistiklehrstühle, Literatur
und Fernsehsendungen zum Judentum sind in den letzten Jahren in Mode
gekommen. Freilich handelt es sich hierbei häufig um ein virtuelles
Judentum, eine jüdische Kultur ohne Juden. Der Jüdische
Kulturkongreß "Tarbut" (hebräisch für Kultur), der Anfang Mai zum
zweiten Mal auf Schloß Elmau stattfand, möchte dagegen einen
innerjüdischen Dialog in Gang bringen, der vor 1933 einmal eine
Selbstverständlichkeit war, heute aber erst wieder aufgebaut werden
muß.
Auf Einladung von Rachel Salamander (Rachel Salamander, Leiterin
der "Literaturhandlung", München/Berlin/Wien) und Michael Brenner
(Prof. für Jüdische Geschichte und Kultur, München) und in
Zusammenarbeit mit der Bertelsmann Stiftung diskutierten
Schrifsteller, Literaturkritiker und -wissenschaftler darüber, ob es
heute eine dezidiert deutsch-jüdische Literatur gebe. Marcel
Reich-Ranicki verneinte dies vehement, erkannte aber an, daß die
deutsche Literatur auch heute von den Leistungen einzelner jüdischer
Schriftseller bereichert werde. Hilde Domin sah in der Erfahrung des
Exils und der Fremde die zentrale Kraft, aus der jüdische
Kulturschaffende auch unserer Zeit schöpften. Die Herkunftsorte der
Beteiligten unterstrichen diese Erkenntnis: aus Wien kamen Robert
Schindel und Doron Rabinovici, aus Berlin Henryk Broder und
Holly-Jane Rahlens und aus Zürich Elisabeth Bronfen. Weitere
deutschsprachige jüdische Schriftsteller und
Literaturwissenschaftler reisten aus den USA (Ruth Klüger, Liliane
Weissberg, Amir Eshel) oder Frankreich (Peter Stephan Jungk, Barbara
Honigmann) an.
Die deutsch-jüdischen Gemeinden waren während der ersten
Nachkriegsjahrzehnte vor allem durch die Themen Holocaust und Israel
geprägt. Diese waren auch auf dem Tarbut-Kongreß präsent, doch waren
sich die 300 Teilnehmer aus Deutschland, Österreich und der Schweiz
einig, daß jüdische Kultur und jüdisches Leben nach vorne blicken
und aus eigenen Ressourcen schöpfen müssen. Der Präsident des
Zentralrats der Juden in Deutschland, Paul Spiegel, wie auch der
Londoner Verleger Lord Weidenfeld hoben diese Verpflichtung in ihren
Grußworten hervor. Der Wiener Oberrabbiner Paul Eisenberg baute auf
beeindruckende Weise Brücken zwischen moderner Kultur und
jüdisch-religiösem Leben.
Die Unterstützung des Zentralrats der Juden in Deutschland und
des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds beweist die
Einsicht in die Notwendigkeit eines jüdisch-jüdischen Dialogs.
Die jüdische Gemeinschaft kennt keine Kirchentage. Die
Tarbut-Konferenzen sind unterschiedlich angelegt und zeugen auch von
dem nicht nur konfessionellen Charakter des Judentums. Dennoch
spiegelte diese Tagung die Heterogenität wie auch das kulturelle
Potenzial jüdischen Lebens in den deutschsprachigen Ländern wider
und zeigte eines sehr deutlich: Wenn man in ein oder zwei
Generationen in unseren Breitengraden Juden nicht nur in Museen
bestaunen und jüdische Kultur nicht nur in universitären Seminaren
vermitteln will, sind Treffen wie diese lebenswichtig.
Pressemitteilung der
Bertelsmannstiftung, 08.03.2003
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Vopel