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"Die Geliebten, die Gefreundeten":
Schwul / lesbisch und jüdisch

Von Felice-Judith Ansohn

Was "schwul" und " lesbisch" ist, wissen wir alle, nehme ich an, wenngleich vermutlich nicht alle aus der eigenen Erfahrung mit homosexueller Liebe. Weit schwerer scheint mir, heutzutage eine gemeinsame Antwort auf die Frage zu finden: "Was ist 'jüdisch'"?

Noch vor 200 Jahren hätte jeder Jude und jede Jüdin auf die Frage, was "jüdisch" sei, geantwortet: jüdisch ist eine Lebensweise, die sich auf jene Normen und Vorschriften gründet, die in der Bibel und in der diese weiterführende und jeweils von neuen Lehrergenerationen aktualisierte normativen Literatur der Rabbinen, in erster Linie im Talmud, dann in den Kommentaren zum Talmud, in den großen Kompendien des Mittelalters und der frühen Neuzeit wie der Mischneh Tora von Maimonides und im Schulchan Aruch des Joseph Caro aus dem 16. Jahrhundert. und schließlich den Lehrentscheidungen der rabbinischen Autoritäten der Neuzeit niedergelegt ist. Normen und Vorschriften, die nach Überzeugung dieser Jüdinnen und Juden Gott selbst seinem Volk gegeben hat, und die darum für alle Ewigkeit gelten. Es geht um die Halacha. Halach heißt gehen, und Halacha ist die verbindliche Weisung, wie ein Jude und eine Jüdin ihren Weg durchs Leben gehen sollen.

Mit dieser Antwort unterschieden sich Juden und Jüdinnen seit jeher von den Andersgläubigen ihrer Umgebung, in erster Linie von den Christen. Denn Christen definieren sich nicht über Normen und Vorschriften, sondern über einen Glauben, den Glauben an den Christus. Auch dieser Glaube hat natürlich Konsequenzen für das Verhalten des gläubigen Christen, auch er hat Normen und Vorschriften hervorgebracht. Aber ob jemand Christ ist oder nicht, das entscheidet sich nicht an dem Verhalten gegenüber diesen Normen und Vorschriften, es entscheidet sich an der persönlichen Einstellung zu Christus, also am Glauben.

Daraus folgt wiederum, daß für Juden und Jüdinnen die überlieferten Normen und Vorschriften eine ungleich größere Bedeutung, eine ungleich stärkere Bindungskraft haben als ein gemeinsamer Glaube. Und dies bedeutet wiederum, daß Verstöße gegen die gemeinsamen Normen und Vorschriften im Judentum ein ungleich größeres Gewicht haben als im Christentum, in dem wiederum Verstöße gegen das Glaubensbekenntnis als "Häresie" ungleich stärker gewichtet werden als ethisches Fehlverhalten.

Diese jüdischen Normen und Vorschriften umfassen das gesamte menschliche Leben Sie legen bis ins kleinste Detail fest, was ein jüdischer Mensch essen darf, wen und wie er lieben soll, wie arbeiten und wie feiern. Sie schreiben auch genau vor, wie das Zusammenleben in der jüdischen Gemeinschaft zu regeln sei, und was zu tun ist, wenn jemand diese Regeln verletzt. Judentum ist deshalb- das wird leider oft übersehen!- weit mehr als eine Religion, in der es ja immer um die Beziehung zwischen Mensch und Gott geht. Judentum ist eine Kultur, eine Zivilisation. Und seine Normen und Vorschriften halten alle, die dazu gehören, zusammen - über Länder und Meere hinweg auf der ganzen Erde, und über die Zeiten hinweg von den Anfängen bis heute. Dieses alle zusammenhaltende Netz von Vorschriften und Normen hat das Überleben des jüdischen Volkes über alle Jahrhunderte und Erdteile hinweg ermöglicht. Selbst wer als Jude oder Jüdin heute nicht mehr an Gott glaubt,- ich gehöre auch zu ihnen, niemand hat mich in meiner Kindheit diesen Glauben gelehrt - kann, wenn auch gewiß mit kritischer Distanz zu manchen ihrer Normen und Vorschriften, sein Leben im Sinne dieser Zivilisation jüdisch gestalten. Das kann man mit einem Mann vergleichen, der ein Haus gebaut hat und dann verstorben ist. Er ist nicht mehr da, aber das Haus steht, die Erben können es bewohnen, und es bleibt dasselbe Haus, auch wenn die neuen Bewohner hier und da etwas an ihm modernisieren und es anders möblieren. Darum verlieren selbst atheistische Jüdinnen und Juden ihre jüdische Identität nicht, wenn sie nur die ethischen und sozialen Normen des Judentums für sich akzeptieren - eine Möglichkeit, die für Christinnen und Christen undenkbar wäre. Ich selbst sehe ein - durch meinen Verstand modifiziertes- Leben nach den Weisungen der Tora als die einzige Möglichkeit für mich, mein Jüdischsein zu bewahren. Denn wenn ich überhaupt nicht mehr an meiner Lebensweise als Jüdin erkennbar bin - was ist dann noch jüdisch an mir? Die bloße Abstammung von einer jüdischen Mutter kann es nicht sein. Aber da ich nicht an einen göttlichen Urheber der 613 Gebote und Verbote der Tora glauben kann, habe ich die Freiheit, jedes einzelne von ihnen kritisch zu prüfen, bevor ich es als Halacha, als Lebensregel für mich akzeptiere - mit meiner mir gegebenen Vernunft, aber ebenso mit der Frage des chassidischen Rabbi aus dem 18.Jahrhundert im Ohr: "Bedenke, mein Kind: vielleicht ist es wahr?". Doch ein Judentum ganz ohne Halacha, nur mit Folklore und Erinnerung, kann ich mir nicht als sinnvoll vorstellen.

In den letzten 200 Jahren hat sich das Judentum, das bis dahin im wesentlichen in allen Fragen des durch jene Normen und Vorschriften geregelten Lebens einig gewesen war, in viele einzelne Richtungen, Strömungen und Nuancierungen aufgespalten. Heute spricht man vom orthodoxen - bis hin zum ultraorthodoxen -, vom konservativen und vom Reformjudentum, um nur die wichtigsten zu nennen. Sie alle unterscheiden sich nicht in der Grundüberzeugung, daß "jüdisch sein" eine verbindliche Lebensform nach überlieferten Normen meint, eben in erster Linie keinen Glauben, sondern eine Zivilisation. Aber sie unterscheiden sich darin ganz wesentlich, daß sie entweder die ursprünglich in der Bibel und dann im Talmud und in den späteren Kommentaren und Kodifizierungen dazu festgeschriebenen Normen und Vorschriften als unveränderbar, weil von Gott selbst offenbart, und somit als ewig gültig ansehen, die Einhaltung dieser Normen und Vorschriften unmittelbar als Gottesdienst verstehen, oder daß sie diese als zeitgebunden und darum immer wieder reformbedürftig betrachten und damit auch verändern oder umdeuten. Und sie unterscheiden sich weiter dadurch, in welchem Ausmaß sie dies tun. Die Orthodoxen verkörpern die strenge, die Ultraorthodoxen die radikale bis fundamentalistische Richtung im Judentum, die Konservativen eine gemäßigt traditionelle, die Reformjuden eine in ihrem jüdischen Selbstverstäündnis, je nachdem, was man für wesentlich und was man für aufgebbar oder veränderungsbedürftig hält, stark variierende. Die meisten Orthodoxen sprechen den anderen Gruppen ihr authentisches Jüdischsein ab und erkennen auch Übertritte, die in diesen Gemeinschaften vollzogen werden, nicht an. Aber daß "jüdisch" immer vor allen Dingen eine Lebenspraxis ist und Judentum primär keine ideologische, sondern eine soziale Größe mit klar festgelegten Normen und Vorschriften, darin sind sie sich alle einig. Und so sollten auch wir dies als die gewiß für unseren Gebrauch vereinfachte, aber doch treffende Grunddefinition von "jüdisch" festhalten.

Das ungeheuer belastende Problem für viele jüdische Schwule und Lesben, vor allem für solche, die sich als orthodox definieren, besteht nun darin, daß die Normen und Vorschriften, auf denen das klassische Judentum gründet, homosexuell lebende Menschen ausschließen, ja ihr Daseinsrecht leugnen. Sie zwingen damit jeden schwulen Juden und jede jüdische Lesbe, in einer ständigen Spannung mit ihrer eigenen Zivilisation zu leben, mit einer gespaltenen Identität. Diese klassischen jüdischen Normen und Vorschriften, homosexuell lebende jüdische Menschen betreffend, muß ich jetzt näher darstellen, damit deutlich wird, wo die Probleme liegen und welche Schärfe sie haben. Vorausschicken möchte ich, daß Sexualität als solche, wieder im Unterschied zum stark griechisch beeinflußten Christentum, im Judentum nie negativ gewertet wurde, gar ein Tabu war, obwohl wir unter griechischem Einfluß hier und da auch bei rabbinischen Gelehrten eine eher zögernde, zuweilen skeptische Einstellung nicht übersehen dürfen. Im allgemeinen war und wird jedoch auch heute Sexualität außerordentlich hoch geschätzt - und zwar nicht, wie manchmal irrtümlich angenommen wird, nur wegen der mit ihr verbundenen Fortpflanzung, sondern durchaus als eigener Wert. Der Talmud kann so weit gehen, zu sagen: "Schabbat, Sonne und Beischlaf sind Vorboten der kommenden Welt." (bBerachot 57b) Und er ermahnt die Männer gelegentlich, ihren Frauen jede Lusterfüllung im Bett zu verschaffen, denn das Ehebett soll ein Ort der größten Freude sein . Aber eben: das Ehebett! Alle sexuelle Lust ist der Ehe vorbehalten, der lebenslangen Verbindung zweier Menschen - und diese beiden müssen immer ein Mann und eine Frau sein. Mit der gleichen Energie, mit der die alten Lehrer Israels die eheliche Sexualität preisen, verbieten sie die vor- und außereheliche. Aber die homosexuelle ist ganz und gar verpönt.

Wenn wir die Bibel aufschlagen, das erste Grundbuch des Judentums, lesen wir dort als bindende Vorschrift: "Du sollst nicht mit einem Mann schlafen, wie man mit einer Frau schläft; ein Greuel ist das." (Wajjikra/Lev 18, 22). Und, zwei Kapitel weiter, wird es noch das Verbot noch verschärft: "Wenn ein Mann mit einem Mann schläft wie mit einer Frau- ein Greuel haben beide verübt, sterben, ja sterben sollen sie, ihr Blut komme über sie!" (ebd 20, 13). Das ist schon alles, was wir in der Bibel an Vorschriften über homosexuelle Akte von Männern finden. Über Akte - denn diese Vorschriften verdammen nämlich Handlungen, also nicht Veranlagungen oder Neigungen, sondern Praxis. Nicht "Homosexualität" als solche ist Sünde- den Begriff kannte man zudem damals nicht, er ist erst 1869 in Europa aufgekommen- sondern gelebte Homosexualität, genauer: Sex zwischen Männern. Beide Verbote stehen übrigens nicht isoliert für sich; sie sind jeweils eingebettet in eine ganze Reihe von Vorschriften, die noch andere sexuellen Praktiken verdammen. Auf die müssen wir nicht eingehen.

Die eben zitierte Vorschrift ist nicht eindeutig. Denn es wird nicht näher erläutert, was der Ausdruck: "wie mit einer Frau" meint. Wörtlich genommen, kann ein Mann mit einem anderen ja schon aus anatomischen Gründen nicht schlafen, wie man- wenigstens für gewöhnlich - mit einer Frau schläft. Anale und vaginale Akte lösen durchaus unterschiedliche Gefühle aus und sind nur beschränkt miteinander vergleichbar; andernfalls brauchten Männer und Frauen einander ja nicht anal zu lieben, was viele doch oft und mit großem Vergnügen tun. Und was heißt: "ein Greuel"? Ist damit nur so etwas wie jener subjektive Ekel gemeint, den viele Homophobe auch heute empfinden, wenn das Stichwort "schwul" fällt? Oder bekommen Männer, die miteinander schlafen, so etwas wie eine neue, negative Qualität, womöglich gar für andere erkennbare die sie von den "Normalen" für immer scheidet? Was die hier angedrohte Todesstrafe angeht, muß man wissen, daß es zu einer solchen damals wahrscheinlich nur selten kam; denn dazu mußten zwei Augenzeugen für die Tat gefunden werden, und die waren naturgemäß gerade bei diesem intimen Vorgang kaum aufzutreiben; das Geständnis eines der Beteiligten genügte nicht. Aber daß homosexuelles Verhalten im Judentum nicht geduldet werden darf, wird unmißverständlich klar.

Die Mischna, die erste große Sammlung jüdischer verbindlicher Lehre aus dem Anfang des 3. Jahrhunderts u.Z. Zeit bekräftigt denn auch folgerichtig die biblische Androhung der Todesstrafe durch Steinigung für den sexuellen Verkehr zwischen zwei Männern (mSanhedrin 7, 4, dort übrigens ganz unauffällig eingeordnet unter vielen anderen derselben Strafe würdigen Verbrechen, zu denen auch die Entheiligung des Schabbat gehört!). Unter den veränderten politischen Verhältnissen jener Tage hatte das nur noch symbolische Bedeutung, denn Juden hatten zu jener Zeit nicht mehr die Souveränität im Land Israel und durften keine Todesurteile verhängen. Aber es zeigt doch deutlich die anhaltende Schärfe der Verurteilung: homosexuelle Akte, das soll die angedrohte Todesstrafe kundtun, wiegen so schwer wie andere todeswürdige Verbrechen, sie gehören mithin zu den schlimmsten überhaupt.

Der Talmud, die abschließende und für alle Zukunft autoritativ bindende Sammlung der jüdischen Normen und Vorschriften, die im 6. Jahrhundert fertig war, bekräftigt diese Einstellung. Er lehrt: Wenn es sich um zwei erwachsene Partner handelt und sie beide einvernehmlich handeln, müssen beide sterben, andernfalls nur der erwachsene Partner oder der Vergewaltiger (bSanhedrin 54a). Allerdings wurde in der Praxis die Hinrichtung durch Auspeitschung ersetzt. Homosexuelle Akte sind für die klassischen Autoritäten des Judentums ein so unausdenkbar schweres Verbrechen, daß der Talmud an einer wichtigen Stelle so weit gehen kann, zu behaupten, solche Akte kämen unter Juden gar nicht vor. Ein prominenter Lehrer, Rabbi Eliezer, hatte einst verboten, daß ein unverheirateter Mann Kinder unterrichte, oder daß zwei unverheiratete Männer unter einer Decke schliefen (mKidduschin IV, 13, 14). Das Verbot wird nicht erläutert, aber offensichtlich fürchtete der antike Lehrer, daß ein möglicherweise schwuler Lehrer Kinder anstecken oder seinen Schlafgenossen verführen könne- eine durch Fakten nicht gedeckte Ansicht, die heute noch weit verbreitet ist, nicht nur unter Juden. Hier knüpft der Talmud an und sagt, die Mehrheit der Lehrer habe dieses Verbot nicht akzeptiert, denn, so sagt der Talmud an dieser Stelle lapidar, "in Israel gibt es niemand, der schwule Praktiken (mischkáv sachúr) betreibt" (bKidduschin 82a). Mit anderen Worten: wer Jude ist, tut so etwas nicht, er ist, schon als Jude, gefeit gegen Homosexualität. Wer es dennoch tut, zeigt damit, daß er kein Jude ist. Daß es sich hier um ein Beispiel für fromme Verdrängung der Realität handelt, geht schon daraus hervor, daß der Talmud sich an anderen Stellen, wenn auch nicht häufig und nicht in halachischen Zusammenhängen, sondern in Erzählungen, durchaus mit dem Thema befaßt. Auch in nicht normativen rabbinischen Schriften, den sogenannten Midraschim, begegnen wir gelegentlich Anspielungen auf schwule Handlungen, mißbilligenden natürlich.

Weibliche Homosexualität wird in der Bibel nicht erwähnt. Im Talmud wird sie dagegen ebenfalls verworfen, wenn auch nicht so schroff wie die männliche. Ein rabbinischer Midrasch aus der Mischnazeit (2./3. Jahrhundert u.Z.) bezieht das biblische Verbot in Lev 18 und 20 ausdrücklich auch auf lesbische Praktiken (Sifra 9, 8). Da die Bibel lesbische Liebe nicht erwähnt, wird im Talmud, der das Thema auch nur zweimal anspricht, (bJevamot 76a und bSchabbat 65, a/b) zur Begründung ersatzweise, unter Bezugnahme auf Lev 18, 3, auf die "Sittenlosigkeit" in Ägypten und Kanaan hingewiesen, zu der auch sexuelle Beziehungen zwischen Frauen gehörten; diese dürfe Israel nicht nachahmen. Der Talmud sieht an beiden Stellen in Liebesakten zwischen Frauen zwar kein "Greuel", aber doch eine "Obszönität" (perizút),) und diskriminiert Lesben damit genau so wie schwule Männer, nur daß er Frauen, die sexuell miteinander umgehen, keine Strafen androht. Dieser Befund entspricht dem, den wir in allen Kulturen bis heute finden: obwohl lesbische Liebe nicht gebilligt, oft sogar verabscheut wird, gibt es kaum Strafandrohungen. Den Grund dafür wird man darin sehen dürfen, daß der männliche Stolz- alle Gesetze wurden ja immer und überall von Männern gemacht!- es nicht zuließ, in Rechtsbestimmungen offen zuzugestehen, daß Frauen auch ohne sie sexuell glücklich sein konnten.

Die beiden zitierten Bibelstellen Lev 18, 22 und 20, 13, die männliche homosexuelle Handlungen aufs schärfste verbieten, begründen das Verbot nicht. Diese Handlungen werden lediglich als toevá gebrandmarkt, als abscheuliches Verhalten, zumindest als ein Verhalten, das "in die Irre führt" (so bNedarim 51a). In der späteren jüdischen Tradition empfand man das als unbefriedigend und versuchte, Gründe für die Verurteilung homosexueller Akte zu finden. Vor allem drei hat man herausgestellt.

Erstens: homosexuelle Akte seien ein Verstoß gegen die menschliche Natur. Das "Widernatürliche" bestehe in der intimen Vereinigung von Körperteilen, die auf Grund ihrer anatomischen Beschaffenheit dafür nicht geeignet oder nicht für diesen Zweck geschaffen sind. Zudem sei schon bei der Erschaffung der ersten Menschen festgelegt worden, daß der Mann "an seinem Weibe haften" werde (Gen 2, 24). Somit sei eine sexuelle Beziehung zwischen Mann und Mann "widernatürlich" (bSanhedrin 58a), weil nicht im Schöpfungskonzept vorgesehen.

Zweitens: homosexuelle Akte seien verwerflich, weil diese Praxis die Zeugung von Kindern ausschließe und somit schon gegen das erste Gebot verstoße, das die Bibel formuliert: "Seid fruchtbar und vermehrt euch!" (Gen 1, 28). Darum sagt die Mischna: "Kein Mann darf sich der Erfüllung dieses Gebotes entziehen, es sei denn, er habe schon Kinder" (mJevamot VI, 6).Kein jüdischer Mann darf mithin unverheiratet bleiben. Kinderlosigkeit ist ein Scheidungsgrund, wenn auch eine Scheidung von der Halacha nicht, wie manche fälschlich annehmen, geboten wird. Der Talmud verschärft die Warnung noch: "Wer die Zeugungspflicht nicht erfüllt, ist mit einem Mörder zu vergleichen. Denn es heißt: ‚Wer Menschenblut vergießt, dessen Blut soll wieder vergossen werden‘ (Bereschit/Genesis 9, 6). Aber darauf folgt sofort das Gebot: ‚Seid fruchtbar und vermehrt euch‘" (ebd Vers 7) Darum bindet der Talmud beide Textstellen zusammen, obwohl ihre Inhalte nichts miteinander zu tun haben. Dieses biblische Gebot schließe, so wird nun gefolgert, nicht nur den Analverkehr zwischen Männern aus- der Eheleuten nicht grundsätzlich verboten ist, wenn sie auf diesem Weg eine gesteigerte sexuelle Befriedigung erreichen und nicht lediglich die Zeugung von Kindern verhindern wollen (bNed 20a, vgl (bHorayot 4a/b) Es untersage darüber hinaus jede sexuelle Handlung, ob allein oder mit anderen ausgeübt, bei der Samen verlorengeht, der doch für die Zeugung bestimmt sei (bJevamot 63b). Diesem Argument gibt die traditionelle Auseinandersetzung mit der männlichen Homosexualität das größte Gewicht. Vermutlich wird weibliche Homosexualität auch deshalb milder beurteilt, weil Frauen ja nicht zeugen, das Zeugungsgebot also nicht ihnen gegeben ist, und weil Frauen zudem diese "widernatürlichen" Praktiken aus anatomischen Gründen ohnehin nicht ausüben können.

Drittens werden homosexuelle Akte in der jüdischen Tradition verworfen, weil sie die normale, intakte Familie zerstörten, denn der Mann, der zu solchen Akten neige, verlasse Frau und Kinder, um sich mit einem Mann zu verbinden (bNed 51a und mittelalterliche Kommentare dazu).

Eine Stelle im Talmud (bKidduschin 22b) deutet zumindest indirekt an, daß es noch einen vierten Grund gab, weshalb männliche homosexuelle Handlungen in der normativen Literatur des Judentums so entschieden bekämpft oder gar verleugnet wurden. Es ist derselbe Grund, der zu allen Zeiten und in allen Kulturen vor allen anderen die Homophobie begründet hat, nämlich die Kränkung des männlichen Selbstbildes in einer Gesellschaft, in der ausschließlich Männer die Gesetze machen. Die besteht, darin, daß ein Mann sich selbst zur Frau macht, die sich von einem anderen Mann "besteigen" läßt - so auch der Ausdruck in der genannten Talmudstelle. Auch die wegen ihrer angeblichen homosexuellen Freizügigkeit viel gerühmte griechische Antike wußte sehr genau zu differenzieren, welche sexuelle Praxis einem freien, erwachsenen Mann angemessen war, und beschränkte die empfangende Rolle beim Sexualverkehr zwischen männlichen Wesen ausdrücklich auf Knaben und Sklaven. Wer so etwas als freier Mann mit sich machen ließ, stellte sich selbst außerhalb der Gesellschaft der Freien. Das muß erst recht im Judentum so verstanden werden, das sich in besonderer Weise als ein Volk von Freien (Bné chorin) verstand, von Gott selbst aus der ägyptischen Sklaverei befreit.

Das nachtalmudische Judentum hat bis in die Neuzeit, also in 1500 Jahren, an diesen schroffen Urteilen und Wertungen homosexuellen Handelns nichts mehr geändert. Im Mittelalter haben große Gelehrte versucht, die sehr ausgebreitete und unübersichtliche normative Tradition der jüdischen Antike systematisch zu ordnen und für den allgemeinen Gebrauch in Handbüchern, Kodices, zusammenzufassen. Gleichzeitig haben andere Gelehrte die Bibel ausgelegt und sich auch mit jenen Stellen in Lev 18 und 20 über das Verbot homosexueller Akte befaßt, die ich zitiert habe; aber in ihren Bewertungen sind sie nicht über das hinausgegangen was ich schon berichtet habe. Einzig der große jüdische Kodifikator, der Philosoph und Arzt Moses Maimonides (gestorben 1204) hat über Sexualität im allgemeinen und speziell über homosexuelle Akte, auch lesbische, weit engere und rigidere Normen aufgestellt als die Gelehrten im Talmud, denn auch als toratreuer Jude war er stärker als jene auch von griechischem, leibfeindlichen Gedanken beeinflußt. Wir beobachten ja in der ganzen Geistesgeschichte des Judentums, wie immer, mal stärker, mal weniger ausgeprägt, wie geistige und kulturelle Impulse der Umwelt, auch einer fremden, immer in das Denken der in ihr lebenden jüdischen Gemeinschaft eindringen, auch wenn sie deren eigentlichen Konzeptionen fremd sind; das jüngste Beispiel wäre der Zionismus.

Maimonides erörtert also detailliert, ob das Verbot des gleichgeschlechtlichen Verkehrs unter Männern schon übertreten sei, wenn nur der vorderste Teil des Penis in den Anus eingeführt wird, oder ob erst die vollkommene Penetration mit Ejakulation den zu ahndenden Tatbestand erfülle, und verurteilt beides in seiner Mischne Tora, (dazu Mariner S. 121f). Auch fordert er für lesbische Akte dieselbe Strafe der Auspeitschung wie für schwule und ermahnt die Ehemänner, in dieser Hinsicht gut auf ihre Frauen aufzupassen Aber auch Maimonides kann an einer anderen Stelle behaupten, wie schon jene von mir zitierte Talmudstelle, daß Juden eigentlich gar nicht in den Verdacht geraten könnten, solche Akte auszuführen, weil es dergleichen in Israel nicht gebe. (Mariner S. 123). Dem hat sich dann der letzte große Kodifikator Joseph Karo, der zur Zeit der Reformation in Europa sein für das traditionelle Judentum bis heute maßgebendes Gesetzeswerk Schulchán arúch verfaßte, (auf deutsch: Der gedeckte Tisch) angeschlossen. Damit war für das traditionelle oder orthodoxe Judentum die Diskussion beendet. Es konnte nicht sein, was nicht sein durfte.

Über die Realität in den jüdischen Gemeinden sagt dies natürlich gar nichts aus. Wir haben aus dem mittelalterlichen maurischen Spanien sogar wunderschöne, äußerst sinnliche Liebeslieder, die jüdische Männer, auch sehr berühmte Rabbis und Religionsphilosophen, an andere Männer gerichtet haben, mit der gleichen Glut und Offenherzigkeit wie ihre arabischen Landsleute. In christlich beherrschten Gegenden Europas dagegen war äußerste Vorsicht geboten, vor allem, weil die christliche Kirche homosexuelle Akte unnachsichtlich mit dem Tode bestrafte oder vom Staat bestrafen ließ- bis weit ins 18. Jahrhundert hinein, und Juden, die dort ohnehin seit dem hohen Mittelalter immer schwereren Verfolgungen ausgesetzt waren, sich nicht auch noch dem Verdacht aussetzen durften, solche sexuellen Praktiken zuzulassen. Radikale Verleugnung einer unter Juden existierenden homosexuellen Praxis war also hier auch ein lebensnotwendiger Schutzakt. So erklärt es sich, daß die Diskussion über das ganze Thema im Judentum zum Erliegen kam. Man hielt eisern an der These fest, im Judentum könne es keine Menschen geben, die homosexuelle Handlungen begingen, und wenn doch, dann seien es eben keine Juden. Erst in unseren Tagen im Rahmen einer differenzierteren Selbstbesinnung über Jüdischsein konnte auch dieses Thema wieder offen diskutiert und auch nach neuen Beurteilungen gesucht werden. Die in Europa im 19. Jahrhundert allmählich durchgesetzte Emanzipation der Juden ermöglichte, ja erzwang dies im 20. Jahrhundert ebenso wie der Fortschritt in der wissenschaftlichen Erforschung der auf das eigene Geschlecht ausgerichteten Sexualität. Über die unterschiedlichen Positionen, die dabei in den jeweiligen jüdischen Gruppen erreicht wurden, werde ich gleich berichten.

Ich darf diesen historischen Teil meines Vortrags aber nicht abschließen, ohne Sie auf einen grundlegenden Tatbestand hinzuweisen, ohne dessen Beachtung wir die Stellung des traditionellen Judentums zur Homosexualität nicht verstehen können; flüchtig hatte ich schon auf ihn hingewiesen. Die Menschen in der Antike, jüdische wie nichtjüdische, und auch die der auf sie folgenden Epochen der Sexualgeschichte bis in das späte 19. Jahrhundert hinein haben ja nicht gewußt, daß es so etwas wie "Homosexualität" im heutigen Sinne überhaupt gibt. Immer kannte und oft verdammte man ausschließlich den homosexuellen Akt, nicht die Veranlagung, die schicksalhafte und vom betreffenden gar nicht zu beeinflussende sexuelle Neigung von Menschen zu Partnern des gleichen Geschlechts, der sie nicht ausweichen können, ohne einen wesentlichen, ja zentralen Teil ihres Menschseins zu unterdrücken. Man sah und verurteilte immer nur den einzelnen Akt, in dem ein Mann oder eine Frau mit einem anderen Menschen des gleichen Geschlechts Liebe machte. Aber man sah nicht, erkannte und verstand nicht die über diesen einzelnen sexuellen Akt hinausgehende, von beiden gewollte ganzheitliche Liebesbeziehung zwischen zwei Männern oder zwei Frauen. Schon jeder einzelne sexuelle Akt, der von zweien frei gewollt und vollbracht wird, hat doch einen Sinn in sich selbst, sei es als Spiel, als Genuß eines kurzen Augenblicks oder, wenn das glückt, als erfahrene körperliche und seelisch- geistige Überschreitung einer Grenze, als Transzendieren auf einen anderen Menschen hin. Aber zugleich ist er über den Moment, zumindest potentiell, auf Dauer angelegt, auf Ewigkeit: "Weh spricht: vergeh! Doch alle Lust will Ewigkeit, will tiefe, tiefe Ewigkeit", wie Nietzsche gedichtet hat. Nicht anders erleben Lesben und Schwule ihre eigene Form des Menschseins und des Gemeinsamseins neben anderen Formen, und verstehen nicht, warum ihnen nicht gleiches Daseinsrecht und gleicher ethischer Wert zugestanden wird wie jenen. Das hat man allerdings früher nirgends so gesehen. Man hat nur die heterosexuelle Norm anerkannt und jede Abweichung von dieser als bedrohlich oder abscheuerregend verdammt. Das bedeutet aber, daß wir Heutigen, ob Juden oder Nichtjuden, die mehr wissen als die Vorfahren, nicht mehr an den alten Normen festhalten dürfen, wenn wir nicht an der Wirklichkeit- religiös gesprochen: an der realen Schöpfung Gottes vorbei - in die Irre gehen wollen. Wenn wir Gott als Schöpfer alles dessen annehmen, was existiert, dann müssen wir für uns auch in Anspruch nehmen dürfen, ebenfalls von Gott erschaffen zu sein - so, wie wir sind. Die Wirklichkeit richtet sich nicht nach unseren Normen und Vorschriften, sondern die Normen und Vorschriften müssen sich nach der Wirklichkeit richten.

Ein Judentum, das heute noch buchstäblich an diesen Traditionen festhält, kann jedoch aus den Gründen, die ich nannte, Homosexuelle nicht akzeptieren. Hier liegt ein unauflösbarer Konflikt zwischen Dogma und Wirklichkeit. Ein traditionsgebundenes Judentum muß ja auf der grundsätzlichen Voraussetzung beharren, daß alles, was in der Bibel steht, unmittelbar verbindliches Gotteswort ist, und daß auch die mündliche Lehre im Talmud, die ebenfalls auf göttliche Offenbarung zurückgeführt wird, nicht irren kann. Somit leben jüdische Lesben und Schwule, die ihre Sexualität auch praktizieren, nach dieser "orthodoxen" Auffassung ständig in Sünde - und, wenn sie zugleich in diesem Sinn fromme Juden sein wollen, in einem unaufhebbaren Dilemma. Allerdings hat auch das orthodoxe Judentum hinzugelernt und denkt heute differenzierter. Man unterscheidet auch dort heute vielfach, wenn auch bei weitem nicht überall, zwischen homosexueller Veranlagung und gelebter Homosexualität. Homosexualität als Veranlagung wird heute auch von manchen "orthodoxen" jüdischen Autoren als gegeben anerkannt. Diese Autoren deuten eine solche Veranlagung zwar als Abweichung von der allein menschengemäßen, also gesunden Norm der Heterosexualität, mithin als Krankheit.. Sie ist als solche nicht Sünde, bedeutet nicht als solche schon einen ethischen Defekt sie ist eine biologische Abnormität, eine Art seelischer Mißbildung. Man darf also, so sagen diese modernen orthodox-jüdischen Autoritäten, Homosexuelle nicht verstoßen; aber muß von ihnen fordern, daß sie sich ärztlich behandeln lassen, denn es wird irrtümlich vorausgesetzt, daß Homosexualität medizinisch zu beheben ist. Vor allem muß man aber verlangen, daß sie auf jede sexuelle Aktivität mit gleichgeschlechtlichen Partnern verzichten, ebenso auf sexuelle Handlungen an sich selbst. Denn krank zu sein, ist keine Sünde. Sünde wäre es jedoch, so sagen diese Autoritäten, nichts gegen sie zu tun oder gar, wie immer wieder befürchtet wird, andere damit anzustecken. Zeitgenössische "orthodoxe" Autoren, die sich in den letzten Jahrzehnten auf der Grundlage der Tradition ausführlich zu dem Thema geäußert haben und sich durchaus bemühen, dem homosexuellen jüdischen Menschen gerecht zu werden, ohne allerdings Konzessionen auf Kosten der Tradition zu machen, gestehen auch zu, daß man die "Sündhaftigkeit" homosexueller Praktiken nicht schärfer bewerten dürfe als andere Sünden gegen die überlieferten Gebote auch, ja daß es in jeder Gemeinde weit schlimmere Sünden gebe als diese, die die jüdische Gemeinschaft womöglich weit mehr belasten: etwa den Bruch der Schabbatruhe, die Mißachtung der Speisegesetze oder soziales Fehlverhalten wie Steuerhinterziehung, Ungerechtigkeit oder Vernachlässigung der Armen und Kranken. Diese Beurteilung bedeutet zweifellos einen Fortschritt gegenüber der früher herrschenden, unreflektierten Homophobie. Denn sie relativiert die "Sündhaftigkeit" der praktizierten Homosexualität, indem sie diese nicht mehr als schlechthin "abscheulich" hinstellt, vielmehr in ihr eine Sünde unter anderen sieht., die von Juden und Jüdinnen weit häufiger begangen werden. Doch eine generelle Akzeptanz der Homosexualität als legitim menschliche neben anderen bleibt auch für diese modernen "orthodoxen" Autoren ausgeschlossen. Der homosexuelle Jude, die lesbische Jüdin gehören weiterhin zur Gemeinde, gewiß, sie werden nicht ausgeschlossen. Doch als Homosexuelle stehen sie dennoch, sofern sie ihre Homosexualität auch leben, also Sex mit Partnern oder Partnerinnen haben, weiterhin unter dem Verdikt der Sünde. Und, wenn sie, ihrer kindlichen Sozialisation folgend, zugleich gesetzestreue Menschen bleiben wollen, müssen sie in einem dauernden Konflikt leben.

Die ungelehrten Mitglieder orthodoxer jüdischer Gemeinden, also die große Mehrheit, werden diese feinen Unterscheidungen moderner Autoritäten auch kaum zur Kenntnis nehmen. Schwule Juden und lesbische Jüdinnen werden in solchen Gemeinden weiter unter dem schweren Druck der traditionellen Homophobie leben müssen. Sich offen zu seiner Homosexualität zu bekennen, wird hier niemand wagen, die faktische, menschliche Ausgrenzung aus der orthodoxen Gemeinde wäre unvermeidlich. Die Ängste, Selbstzweifel und neurotischen Störungen bei den jüdischen Schwulen und Lesben, die auf Grund ihrer Lebensgeschichte und ihrer dadurch geformten seelischen Struktur dennoch in einer orthodoxen Gemeinde ihre Heimat sehen, oder die am Ort, an dem sie leben, nur Glied einer solchen orthodoxen Gemeinde sein können, kennen die Psychotherapeuten. Erschütternd sind auch die Lebensberichte schwuler und lesbischer Kinder fromm jüdischer Eltern, die schildern, wie es zuging, als sie ihr coming out erlebten und nicht nur auf die von der allgemein herrschenden, unreflektierten Homophobie bestimmten Widerstände stießen, sondern in den Augen dieser orthodoxen Eltern zu verlorenen Söhnen und Töchtern wurden, mit denen man nichts mehr zu tun haben wollte, weil sie ein identitätsstiftendes Tabu verletzt hatten.

Die zweite große Gruppe im heutigen religiös definierten Judentum, die vor allem in den USA großen Einfluß hat, die "konservative", urteilt in ihren Worten milder, kaum jedoch in der Sache. Auch sie empfiehlt ihren jüdischen homosexuellen Mitgliedern den Verzicht auf ein sexuelles Leben als einzig legitime Lösung. Allerdings sind sich die Autoritäten dieser Gruppe nicht ganz einig. Einer von ihnen, Rabbi Elliott Dorff, nennt die Aufforderung an Schwule und Lesben zu sexueller Enthaltsamkeit sogar "unglaublich grausam", bleibt damit aber in seiner Gruppe, soweit ich sehe, allein.

Die dritte große Gruppe, die der "reformierten" Juden und Jüdinnen, hat zur Homosexualität- diese immer ganzheitlich, also auch als gelebte sexuelle Praxis verstanden!- keine einheitliche Meinung. Sie teilt jedoch überwiegend nicht mehr den rigiden Standpunkt der "Orthodoxen" und auch der meisten "Konservativen". Denn sie akzeptiert schon deren Voraussetzung nicht, daß Bibel und spätere talmudische Tradition unveränderbar und darum auch von heutigen Menschen gehorsam so hinzunehmen seien, wie sie überliefert wurden. Man müsse vielmehr, so die gemeinsame Überzeugung im "reformierten" Judentum, beide, Bibel und Tradition, zunächst geschichtlich sehen, das heißt: im Licht der Zeit, in der sie entstanden sind. Und man müsse, wenn sich neue Erkenntnisse ergeben, auch den Mut haben, alte Urteile zu revidieren. Ferner müsse man auch im Judentum die eigenen religiösen Traditionen und Überzeugungen mit den Informationen und Einsichten moderner Wissenschaft, auch der modernen Sexualwissenschaft, in Einklang bringen und dürfe sich der Realität, die diese unter dem Schutt der Vorurteile frei legt, nicht in dogmatischer Starre verschließen. Diese Prinzipien ermöglichten vielen Reformgemeinden auch eine weitherzigere Einstellung gegenüber schwulen wie lesbischen jüdischen Menschen. Es gibt sogar Reformgemeinden in den USA oder Großbritannien, die offen schwul oder lesbisch lebende Rabbis angestellt haben- und es gibt eigene Gemeinden, in denen jüdische Lesben und Schwule zusammen beten und feiern. Im spontanen Umgang miteinander stoßen Schwule wie Lesben allerdings auch in reformierten Gemeinde gelegentlich auf heftige Äußerungen von Homophobie.

Im Einzelnen finden wir heute im Umkreis eines "reformierten" Judentums- und erst recht bei den Vertretern eines säkularen oder "humanistischen"- vor allem folgende Argumente für einen freieren Umgang mit Homosexualität.
Erstens habe die neuere Bibelerforschung gezeigt, daß die beiden Bibelverse, die vor allem eine jüdische Verurteilung der Homosexualität begründen sollen, keineswegs eindeutig sind, sondern viele Probleme aufwerfen, die der Diskussion bedürfen. So lege der Zusammenhang, in dem diese Verse stehen, die Vermutung nahe, es handle sich hier um ein Verbot der einst in der kanaanäischen Umwelt blühenden männlichen Tempelprostitution im Vollzug fremder Götterkulte, von der Israels Männer sich, um der "Heiligkeit" des Volkes willen, fernzuhalten hatten. Die Homosexualität im heutigen Sinn sei in diesen Versen gar nicht gemeint, und darum das Verdikt nicht mehr aktuell.

Zweitens: was man heute "Homosexualität" nennt, sei mehr als nur eine sexuelle Praxis; es ist vielmehr eingebettet in einen viel größeren anthropologischen, psychosozialen und kulturellen Zusammenhang und kann nur in diesem gesamten Kontext beurteilt werden. Davon habe ich schon gesprochen.

Vor allem aber drittens: man müsse auch die homosexuellen Menschen im Licht der übergeordneten biblischen Aussage sehen, daß jeder Mann und jede Frau nach dem Bild und Entwurf Gottes geschaffen wurde (Bereschit/Genesis 1, 27). Daß dies die zentrale Aussage der Tora sei, das wichtigste Gebot, von der her alle anderen interpretiert werden müßten, hat schon ein antiker rabbinischer Lehrer, Ben Azzai, bekräftigt, wenn er lehrt: "Als Gott den Menschen erschuf, machte er ihn in seinem Ebenbild [das bedeutet: nach dem von Gott für den Menschen gemachten Entwurf]." (Sifra Kedoschim II, 4, 12). Dann dürfe auch der homosexuelle Mensch, Mann wie Frau, sich auf diese gleiche Würde berufen und habe als ein von Gott so geschaffener Mensch Anspruch auf sein volles Lebensrecht. Daraus folge auch, daß man Homosexualität nicht mehr als "widernatürlich" diffamieren dürfe. Diese sei vielmehr eine gleichwertige Variante der menschlichen Sexualität, die dieselbe Akzeptanz fordern dürfe wie die heterosexuelle.

Schließlich viertens: auch eine schwule und lesbische Partnerschaft sei prinzipiell, das meint: von der Tendenz der Beteiligten her, auf dauerhafte und ganzheitliche Liebe angelegt und sei somit eine Variante der Erfüllung des Hauptgebotes: "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst" (Lev. 19, 18)

An diesen wichtigsten Argumenten, die jüdische Lesben und Schwule heute für sich in Anspruch nehmen können, ist vor allem bedeutsam, daß sie fast alle aus unserer eigenen Tradition selbst geschöpft sind. Wir müssen unser Schwul- und Lesbischsein als Juden und Jüdinnen also nicht mit Gründen von außerhalb verteidigen, denn solche Gründe würden die Frage nach unsere Ganzheit als jüdische und zugleich homosexuelle Menschen ja nicht beantworten können. Wir müssen uns die Rechtfertigungsgründe- in erster Linie vor uns selbst mitten in einer homophoben Umwelt, aber auch innerhalb unserer jüdischen Gemeinschaft- nicht von anderswo borgen. Unsere eigene jüdische Überlieferung gibt uns die Freiheit, zu sein, wie wir sind. Wir können authentische Juden sein, auch wenn wir schwul, lesbisch, bi- oder transsexuell sind, das heißt: wir können den Riß, der durch unsere zugleich schwul- lesbische und jüdische Identität geht, heilen, wir können ganz sein.
Dabei brauchen wir nicht nur defensiv zu argumentieren. Die von den heutigen Verfechtern der Tradition immer noch vorgebrachten drei Hauptargumente gegen die Homosexualität, die ich genannt habe, können leicht widerlegt werden, ohne daß wir dabei den Boden des Judentums verlassen müssen.

Der erste Einwand, Homosexualität sei "gegen die menschliche Natur", hält einer Prüfung im Licht heutiger sexualkundlicher Erkenntnisse ebensowenig stand wie die Behauptung, es handle sich um eine Krankheit. Diese letztere Ansicht wurde gegen Ende des vorigen Jahrhunderts (von Krafft- Ebing 1893) zuerst vertreten und war seitdem weit verbreitet, bis sie von der modernen Sexualforschung widerlegt wurde. Wir wissen heute, daß es eine einzige, "natürliche" Form menschlicher Sexualität nicht gibt und nie gegeben hat. Immer hat es nicht nur viele Varianten sexuellen Verhaltens gegeben; wir erleben auch fließende Übergänge von einer Variante zur anderen in ein und demselben Menschen, zeitlich nacheinander wie gleichzeitig nebeneinander. Wir kennen Menschen, die zuerst eine Hinneigung zum eigenen Geschlecht hatten- intensiver als in der häufigen pubertären und flüchtigen Homosexualität- und später eine dauerhafte heterosexuelle Beziehung eingingen. Wir kennen andere, die zuerst Menschen des anderen Geschlechts liebten, um sich später solchen des eigenen zuzuwenden. Wir kennen solche, die in einer langdauernden und durchaus harmonischen heterosexuellen Beziehung plötzlich und unwiderstehlich ihre Homosexualität erfahren. Und wir kennen solche, die ihr ganzes Leben lang bisexuell empfinden, ohne darin einen sexuellen Identitätskonflikt zu erleiden. Die erwähnte Auffassung "orthodoxer" Autoren von der Homosexualität als einer krankhaften Abirrung der Geschlechtlichkeit, die vermutlich dem jüdischen Schwulen und der jüdischen Lesbe entgegenkommen soll, stellt uns in Wirklichkeit auf eine Stufe mit tatsächlich kranken Triebtätern und anderen psychisch schwer gestörten Sexualneurotikern. Sie hilft niemand, sie beleidigt uns nur. Nicht die Homosexuellen bedürfen der Heilung, sondern die Homophoben, hinter deren starren, tief verwurzelten Vorurteilen, sich auch viele neurotische Verdrängungen eigener lustvoller Wünsche verbergen.

Daß homosexuelle Paare gegen Kinder eingestellt seien, wird von vielen Schwulen und Lesben widerlegt, die miteinander Kinder aus einer früheren Ehe eines Partners oder einer Partnerin aufziehen oder solche adoptiert haben oder gern adoptieren würden, wenn die Gesetze dies erlaubten. Solche schwulen und lesbischen Paare widerlegen auch am eindrucksvollsten die These vieler Homophober, daß Homosexualität ansteckend sei und man daher die Jugend vor "Verführern" schützen müsse. Denn die Kinder, die in solchen schwulen oder lesbischen Familien aufwachsen, entwickeln sich sexuell nicht anders als alle anderen auch, nämlich entsprechend ihrer eigenen Veranlagung.

Und daß ein Mensch, der seine Homosexualität erst nach der Eheschließung entdeckt, manchmal erst Jahre später, und deshalb meint, seine Ehe aufgeben zu müssen, ist nicht typisch für Schwule oder Lesben. Denn in heterosexuellen Beziehungen kommt es aus ganz anderem Grund doch nicht seltener zum vorzeitigen Bruch, etwa infolge einer langsamen Entfremdung, einer plötzlich eintretenden Orientierung auf einen anderen Partner oder infolge der körperlichen oder seelischen Krankheit eines Partners, die vom anderen nicht mehr ertragen wird.

Aus allem, was ich gesagt habe, wird deutlich: jüdische Schwule und Lesben stehen unter einem vielfachen Druck, als Einzelne wie als Paare. Jeder und jede von ihnen hat, wenn sie sich als schwul oder lesbisch entdeckt, nicht nur mit den Schwierigkeiten zu kämpfen, die wir alle durchmachen, wenn wir an unserem coming out arbeiten. Wir jüdischen Schwulen und Lesben müssen darüber hinaus mit den Konflikten umgehen, die die von uns selbst in unserer traditionell jüdischen Erziehung verinnerlichten negativen Wertungen in uns auslösen, und die unsere Identität als Juden und Jüdinnen aufs Schwerste in Frage stellen können, um so schwerer, je intensiver traditionell wir erzogen wurden. Wir müssen uns auch, wenn wir nicht lebenslang versteckt bleiben wollen, mit unserer jüdischen Gemeinschaft, in die wir hineingeboren wurden, auseinandersetzen und nicht selten in Kauf nehmen, daß sie uns keinen Raum zu einem offenen schwulen oder lesbischen Leben läßt, sondern uns allenfalls als Außenseiter mißtrauisch duldet. Wir müssen uns drittens, wie alle Jüdinnen und Juden gegen den überall latenten oder offen ausgesprochenen Antisemitismus unserer Umwelt wehren, einen Antisemitismus, auf den man in den USA, aber auch in Deutschland, sogar in schwulen oder lesbischen Gruppen stoßen kann, wenn man sich als jüdischen Menschen zu erkennen gibt. Und wir müssen viertens, wie alle Schwulen und Lesben dieser Welt, wenn sie nicht, etwa durch ihren Beruf als Selbständige oder Künstler privilegiert sind, sondern in sozialen Abhängigkeitsverhältnissen, in Fabriken, Schulen, Büros zu leben und zu arbeiten gezwungen sind, den Druck aushalten, der von homophoben KollegInnen, NachbarInnen, MitschülerInnen und anderen ausgeht.

Darum ist es für uns als jüdische Lesben und Schwule ganz besonders wichtig, nicht allein zu bleiben, sondern uns zu größeren Gemeinschaften zusammenzuschließen. Dieses Bedürfnis, nicht allein zu bleiben, sondern sich mit anderen Juden und Jüdinnen zusammen zu tun, entspringt aber nicht nur der Notwendigkeit, sich in größeren Gemeinschaften gegenseitig besser zu schützen, zu ermutigen und Solidarität zu erfahren. Es ist ein Teil der jüdischen Identität selbst, sich niemals nur als Individuum zu begreifen, sondern immer auch als Teil eines größeren Ganzen, das in der Bibel "Volk Israel" heißt. Die meisten jüdischen Gebete und anderen liturgischen Lebensäußerungen sind auf Gemeinschaft angelegt, auf ein "Wir".

In den USA und auch in Großbritannien gibt es schon seit den siebziger Jahren in den Großstädten mit vielen jüdischen Homosexuellen eigene schwul-lesbische Synagogengemeinden. Diese entstanden, als klar wurde, daß Schwule und Lesben in den allermeisten bestehenden Gemeinde niemals voll anerkannt werden würden. Die erste wurde 1972 in Los Angeles gegründet und hieß Bet Chajjim chadaschim, Haus des neuen Lebens. Ihr folgten bald andere in New York und anderswo in den USA. Im Judentum gibt es- das ist wiederum ein Unterschied zum Christentum- keine festgelegten und alle im Bereich wohnenden zusammenschließenden Pfarrgemeinden, wie es auch keine übergeordneten Strukturen wie Landeskirchen, Bistümer oder gar eine zentrale Behörden wie den Vatikan. Jede Gruppe, die stärker ist als zehn Menschen- wobei orthodoxe nur Männer zählen, Reformierte auch Frauen, kann eine eigene Gemeinde gründen. Jede jüdische Gemeinde ist autonom und regiert sich selbst mit frei gewählten Vorständen. Sie muß natürlich über ein Minimum an Geldmitteln verfügen, auch wenn sie nur einen Raum in einem fremden Haus mietet. Einen Rabbiner oder eine Rabbinerin braucht man nicht dazu. Die jüdischen Gemeinden sind seit jeher und überall grundsätzlich Laiengemeinden.

In New York, San Francisco, Los Angeles und auch in London- es mag noch andere geben, die mir nicht bekannt sind- existieren heute solche jüdisch - homosexuellen Gemeinden. Einige haben tausend Mitglieder, andere sind wesentlich kleiner, aber alle sind, gerade weil sie nur aus freiwillig Hinzugekommenen und sehr bewußten Juden und Jüdinnen bestehen, auch aus solchen, die durch ihre eigene Biographie dazu erzogen worden waren, nach neuen Ufern zu suchen, sehr lebendig. Natürlich wird niemand gefragt, der dazu gehören will, ob er schwul oder lesbisch ist. Aber Schwule und Lesben können sich hier frei bewegen, die Atmosphäre, die Formen und Inhalte der Liturgien und Predigten nach ihren Bedürfnissen gestalten, und die anderen sind, wenn sie es wollen, ihre Gäste und nicht umgekehrt. Alle diese Gemeinden bemühen sich, die Tradition zugleich zu bewahren und mit neuen Inhalten zu erfüllen, die Erkenntnisse, die die schwul- lesbisch- jüdische Bewegung in ständiger Konfrontation mit der Überlieferung wie mit der Umwelt und mit der anthropologischen und sexualkundlichen Wissenschaft gewonnen hat, zu neuen Formen schwul- lesbisch- jüdischer Identität zu verschmelzen. Diese Synagogengemeinden verstehen sich immer zugleich als Teil der allgemeinen schwul- lesbischen Weltgemeinschaft wie auch als Teil der jüdischen Gemeinschaft. In ihnen finden sich jüdische Menschen ganz verschiedener Herkunft zusammen, aus orthodoxen, aus reformorientierten und auch aus säkular-atheistischen Ursprüngen. Ihr soziales Engagement besteht in hohem Maße in der Sorge um die AIDS- Kranken in der Gemeinde selbst und darüber hinaus.

Wo aber keine schwul- lesbischen Gemeinden gegründet werden können, weil dort zu wenige jüdischen Lesben und Schwule leben, oder dazu die materiellen und auch die geistigen Voraussetzungen fehlen, also in den meisten Ländern der Welt, werden jüdische Schwule und Lesben sich nach Möglichkeit wenigstens zu informellen Gruppen zusammenschließen. Solche Gruppen haben für uns eine doppelte Bedeutung: sie geben einmal uns allen den Schutzraum, den wir brauchen, um nicht in der Isolation unsere Identität, mehr noch: unsere Kraft zur Selbstbehauptung, zu verlieren, um voneinander zu lernen und einander zu ermutigen. Und sie dienen dazu, unseren Anspruch auf das Lebensrecht als jüdische Homosexuelle innerhalb der jüdischen Gemeinschaft laut zu machen und- wenn auch im Laufe beiderseitiger langer Lernprozesse, auch durchzusetzen- was wir als isolierte Einzelne niemals könnten. In Deutschland gab und gibt es solche Gruppen in Städten mit großen jüdischen Gemeinden: Berlin, Frankfurt, München, Hamburg, Köln. Die erste entstand schon vor vielen Jahren in Köln und nannte sich "Yáchad", auf deutsch: "Miteinander", was auch bedeutet, daß Schwule und Lesben in solchen Gruppen zusammen sind. Auch die anderen haben sich nach diesem Vorbild "Yachad" genannt. Die Berliner Yachad-Gruppe, die ich mit gegründet habe, besteht seit 1995.

Bevor ich meinen Vortrag schließe, möchte ich noch auf eine Besonderheit der Juden in Deutschland hinweisen, die sich auch auf unsere hiesigen jüdischen schwul- lesbischen Gruppen auswirken muß. Wenngleich in fast jeder Gruppe auch ausländische Mitglieder mitmachen, die auf Zeit oder auf Dauer hier leben und arbeiten, israelische und amerikanische vor allem, so bestehen die Gruppen hier natürlich aus Juden, deren Muttersprache und Wurzeln in Deutschland liegen. Homosexuelle Jüdinnen und Juden aus dem Osten sind bisher nur selten zu uns gestoßen, obwohl Juden und Jüdinnen, die von dort stammen, heute einen großen Teil der jüdischen Gemeinden bilden. Aber unsere deutsch- jüdischen oder jüdisch- deutschen Gruppenangehörigen haben sich nicht nur damit auseinanderzusetzen, daß sie zugleich schwul/lesbisch und jüdisch sind. Nicht wenige sind auch Kinder oder schon Enkel von Menschen, die die Schoah überlebt haben, und sind belastet mit allen Problemen, die daraus erwachsen. Darüber müßte man einen eigenen Vortrag halten. Für uns soll genügen, darauf hinzuweisen, daß die menschlichen Komplikationen, die Juden und Jüdinnen als Angehörige einer ohnehin oft negativ qualifizierten kleinen Minderheit belasten und auch nicht selten zu schwierigen Mitmenschen machen, nach Auschwitz in Deutschland noch weit gravierender geworden sind. Das bedeutet für jüdische schwul-lesbische Gruppen in Deutschland gelegentlich besondere Gefährdungen, sich aus erhöhter Verletzlichkeit einzelner Mitglieder verhältnismäßig schnell wieder zu spalten oder aufzulösen; für andere wiederum, den Anschluß an eine solche jüdische Gruppe zu meiden, und ihre Homosexualität lieber privat oder in Gruppen anderer Art zu leben, wo sie sich dann meist als Juden auch nicht zu erkennen geben.

Mehr habe ich Ihnen nicht zu berichten, doch so trocken will ich nicht schließen. Isaac Bashevis Singer, der bedeutendste jiddische Schrifststeller des 20 Jahrhunderts und Nobelpreisträger, hat eine Geschichte mit dem Titel: "Die beiden" geschrieben. Es ist, soweit ich sehe, die einzige Geschichte, die von einem schwulen jüdischen Liebespaar erzählt- eine wunderbar zärtliche und zugleich tragische, ja entsetzliche Geschichte von zweien, die daran zugrunde gehen, daß sie in ihrem Schtetl- Milieu einander nicht auf ihre Art lieben dürfen. Am Schluß zitiert Singer den Satz aus dem biblischen 2. Samuelbuch Kap 1 Vers 22- nicht korrekt, denn dort meint er nicht ein schwules Liebespaar, sondern Vater Schaul und Sohn Jonathan, die am selben Tage in und nach einer Schlacht starben. Der Satz lautet, in Bubers schöner Übersetzung: "Die Geliebten, die Gefreundeten- in ihrem Leben, in ihrem Tode nicht getrennt." Ich wünsche jeder und jedem Liebenden in diesem Raum, einerlei welche Art von Liebe sie glücklich macht, daß sich das auch in ihrem Leben erfüllen möge, so wie ich es mir selbst wünsche, die ich mit meiner Liebsten nun schon über fünfzig Jahre zusammen bin.

Zur Literatur:
Es gibt derzeit kein Buch in deutscher Sprache zu unserem Thema. Arthur Hertzberg, Judaismus. Die Grundlagen der jüdischen Religion, Reinbek 1996, S. 165ff. bietet immerhin eine kurze, informative Übersicht über die verschiedenen jüdischen Standpunkte. Für eine eingehende Beschäftigung mit unserem Thema kann ich aber nur englischsprachige Bücher nennen. Dabei beschränke ich mich auf wenige, besonders wichtige Werke. In jedem von ihnen findet man weitere Literatur.
Eine grundlegende allgemeine Darstellung der Rolle von Sexualität im Judentum von der Bibel bis zur Gegenwart mit knappen Hinweisen auch zur Homosexualität gibt David Biale, Eros and the Jews. New York 1997.
Für die Behandlung der Sexualität im Talmud ist lehrreich: Daniel Boyarin, Carnal Israel. Reading Sex in Talmudic Culture, California University Press 1993
Speziell in unser Thema führt gut ein, ohne ideologisch zu werten:: Lewis John Eron, Homosexuality
and Judaism, in: Arlene Swidler (ed): Homosexuality and World Religions, Valley
Forge/Pennsylvania 1993, S. 103-134; interessant auch wegen des Darstellung der Konzepte in den anderen Religionen.
Der "orthodoxe" Standpunkt wird knapp und klar dargestellt in: Norman Lamm, Judaism and the Modern Attitude to Homosexuality, in: Encyclopaedia Judaica Yearbook 1974, S. 194-205
Rachel Biale, Women in Jewish Law, The Essential Texts, their History and their Relevance for Today, New York 1995, enthält auch das gesamte rabbinische Material zur weiblichen Homosexualität.
Ausführliche Aufsätze zur Homosexualität von Männern und Frauen, sowohl vom traditionellen wie vom reformierten Standpunkt aus und auch aus dem Selbstverständnis von jüdischen Schwulen und Lesben enthält der wichtige Sammelband: Jonathan Magonet (ed): Jewish Exploring of Sexuality. Providence/USA 1995
Für unser Nachdenken über uns selbst als jüdische Schwule und Lesben schwer entbehrlich ist schließlich der Sammelband: Christie Balka/ Andy Rose (ed): Twice blessed. On Being Lesbian or Gay and Jewish. Boston/Beacon Press 1989
Viele homosexuelle Liebeslieder jüdischer Autoren aus dem spanisch-maurischen Mittelalter sind enthalten in der Anthologie von James G. Williams, Gay and Lesbian Poetry from Sappho to Michelangelo, New York/London (Garland) 1995
Wichtige Materialien und Anregungen verdanke ich der ungedruckten Dissertation von R. J. Mariner,
The Jewish Attitude to Homosexuality, vorgelegt beim Leo Baeck-College, London 1976.
Viele Einblicke in das Leben und Denken von Mitgliedern der schwul- lesbischen Synagogengemeinde Bet Simcha (deutsch: Haus der Freude) bietet das Buch von Moshe Shaked, A Gay Synagogue in New York. New York (Columbia University Press) 1995.

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