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Der Angriff auf das World Trade Center

Von Günther Jacob
Erschienen in: KONKRET TEXTE 32, Hamburg 2002, 18.02.02

Am 11. September wurde New York von einem Attentat getroffen, wie es vorher keines gab. Innerhalb von 18 Minuten bohrten sich zwei vollbesetzte Passagierflugzeuge in die beiden Türme des World Trade Center und brachten diese zum Einsturz. Etwa 3000 Menschen wurden Opfer dieses Angriffes. Sie verdampften in den entführten Flugzeugen, stürzten sich aus den Fenstern oberhalb der in Brand geratenen Stockwerke oder wurden beim Einsturz der Häuser unter den Gebäudetrümmern begraben. Viele von denen, die sich gerade noch retten konnten, wurden verletzt und stehen bis heute unter Schock. Der Angriff verwüstete das gesamte südliche Manhattan. Durch die von Trümmern und Staubwolken verdunkelten Straßen flüchteten Zehntausende in panischer Angst. Durch das Attentat kam das öffentliche Leben in den USA mehrere Tage lang zum Erliegen. Öffentliche Gebäude, darunter der Sitz der UN, wurden evakuiert, der Börsenhandel vorübergehend ausgesetzt, der gesamte Inlandsflugverkehr eingestellt und internationale Flüge nach Kanada umgeleitet.

Es handelte sich um einen Akt des Terrorismus von monströsen Ausmaßen. New York glich nicht nur einem Kriegsschauplatz, sondern war tatsächlich zu einem solchen geworden. Die TV-Schreckensbilder von den Verzweifelten, die sich an die Fenster klammerten, bevor die Gebäude zusammenstürzten, überstiegen das Fassungsvermögen der Alltagsvernunft und bewirkten Furcht, Verwirrung und Sprachlosigkeit.

In den 110 Stockwerken des World Trade Centers arbeiteten an Wochentagen mehr als 50.000 Menschen, und rund 80.000 Besucher kamen jeden Tag in das 1973 eingeweihte höchste Gebäude New Yorks. Teilt man die Einsicht, daß 'die Waffe das Wesen des Kriegers selbst' ist (Hegel), dann erkennt man, daß die neue Qualität dieses Terrorismus darin besteht, daß er in der Quantität der Getöteten seine zentrale Botschaft sieht. Denn anders als etwa in den 1970er Jahren, als der 'Schwarze September' und andere ihre Attentate begangen, ging es in diesem Fall vor allem um eine möglichst große Opferzahl. Schon 1993 versuchten islamistische Gruppen mit 600 Kilo Sprengstoff das World Trade Center zum Einstürzen zu bringen. Die Attentäter hatten damals erwartet, daß auch Nachbargebäude mit umstürzen und mehr als 20.000 Menschen uns Leben kommen würden.

Anschläge dieser Größenordnung stellen einen historischer Bruch in der Geschichte des nichtstaatlichen Terrorismus dar, einen Übergang zur Dimension der Vernichtung durch Terror, dessen Beginn zweifellos in der US-amerikanischen Aufrüstung der antikommunistischen 'Gotteskrieger' in Afghanistan liegt. Mit der Wahl des World Trade Centers zum hauptsächlichen Zielobjekt der Anschlagsserie unterstrichen die Attentäter ihren Willen zur Auslöschung und Vernichtung im großen Stil. Nicht zu Unrecht werden deshalb die beiden anderen Zielobjekte - das Pentagon und wahrscheinlich Camp David - als weniger bedeutsam wahrgenommen.

Die Suche nach dem »Grund« der Attentate

'Was sind die Ursachen des Verbrechens vom 11. September?' Unzählige bürgerliche und linke Artikel wurden in den vergangenen Monaten mit dieser interessierten Frage eingeleitet. Denn ein Phänomen wirklich zu begreifen, heißt in der Tradition der Aufklärung, es auf seine 'Ursache' zurückzuführen und einen nachvollziehbaren, also halbwegs vernünftigen 'Grund' ausfindig zu machen. In diesem Verfahren werden jedoch nachträglich aus Bedingungen und Voraussetzungen eines Ereignisses dessen angebliche Gründe verfertigt, während die Willensäußerungen der Täter nicht als solche anerkannt werden. Einer kontingenten Reihe von Motiven und Handlungen wird so das Zeichen der Notwendigkeit verliehen. Man übersieht darüber den in den Handlungen zum Ausdruck kommenden performativen Willensakt der Akteure, insbesondere ihren Willen, Fakten und Bedeutungen zuerst einmal herzustellen, die im Rückblick dann als 'objektive Gründe' und 'geschichtliche Notwendigkeit' erscheinen sollen.

Ein hermeneutisches Denken (sei es als bürgerliches, 'materialistisches' oder vulgäradornitisch-geschichtsphilosophisches) muss allerdings bei der Deutung 'visionär' motivierter Gewalttaten scheitern, die eine Praxis des 'Setzens der Voraussetzungen' (Hegel) darstellen, also dort, wo zwischen figurativer und wörtlicher Sprache bzw. zwischen gewalttätigen Worten und gewalttätigem Handeln kein Unterschied mehr gemacht wird, wo die 'Feinde' nicht nur als solche metaphorisiert, sondern auch behandelt werden. Mit dem Attentat auf das World Trade Center wurde die Bedeutung, die die Täter mit diesem Gebäude verbanden, wahr gemacht - ohne Rücksicht auf Wahrheit oder Falschheit. Ihre Tat schloss die zunächst noch existierende Lücke zwischen wahnhafter Konzeption und Realität.

Diese eliminatorische Praxis war dann auch nicht die 'umgesetzte Ideologie' eines 'notwendig falsches Bewusstseins' - eine Definition, mit der einige antideutsche Kritiker des Antisemitismus diesen (in deutlicher Nähe zu ihren 'traditionslinken' Gegnern) als das Werk eines 'deformierten Antikapitalismus' bestimmen - sondern ein Vorgang der Repräsentation, in der imaginäre Subjektivität und symbolischer Realitätsbezug unauflöslich ineinander verwoben sind. Die Attentäter des 11. September hatten kein umgekehrtes und entstelltes Bild dessen, was 'wirklich' ist; ihre Mordtat nährte sich nicht aus dem Verkennen einer positiven Essenz (etwa des 'wirklichen' Juden). Vielmehr hatte sie eine konstitutive, produktive und bedeutungsstiftende Funktion für die Herstellung einer neuen Realität - nicht nur in Manhattan.

Die erwähnten hermeneutischen Verfahren können das so nicht anerkennen. Welche Erklärungsvariante sie auch bevorzugen, so steht aus dieser Sicht doch fest, daß die Attentate einen 'Grund' gehabt haben, den man zur Kenntnis nehmen und kritisch nachvollziehen muss. 'Der Terror ist das Symptom, nicht die Krankheit', sagen nun fast alle mit Arundhati Roy. 'Der Islamismus ist die barbarische Ausgeburt der US-amerikanischen Vergesellschaftung' und das Attentat 'die Konsequenz der Widersprüche der Wertvergesellschaftung' fügen einige bellizistische Antisemitismus-Kritiker hinzu und bemerken nicht, daß sie Roy nur in ihren eigenen Jargon übersetzt haben.

Es ist genau diese Art des Verstehens, die schon im Falle der islamistischen Selbstmordanschläge in Israel eine mehr oder weniger versteckte Rechtfertigung möglich machte und die es auch etlichen Agitprop-Kritikern des Antisemitismus unmöglich macht, sich jedem 'Verstehen' zu verweigern. Indem sie die Macht der von ihnen als 'Wirkung' beschworenen 'antisemitischen Ideologie' als unwiderstehlich beschreiben - die Attentäter werden als 'fortgeschrittenste Kraft' einer vollautomatischen 'Dynamik' der Selbstnegation der bürgerlichen Gesellschaft beschrieben - , haben auch sie die Attentate 'erklärt' und alle Schuld der Ideologie bzw. dem Kapitalismus zugewiesen, so daß die davon 'überwältigten' Täter schon wieder als Opfer der Umstände erscheinen.

Das aktuelle Verbrechen kann nach all dem seinen Grund nur in einem vorausgegangenen, noch größeren Verbrechen haben, das bei den linken Friedensfreunden 'monopolkapitalistischer Imperialismus' und bei den bellizistischen Freunden des zivilisatorischen 'historischen Fortschritts' (dessen 'Barbarei' als 'finstere Kehrseite' ausgelagert wird ) 'globale Wertvergesellschaftung' heißt.

Diese fortschrittliche Vernunft erkennt dann entweder am unmittelbaren 'Elend der Massen' oder am 'enttäuschten universalistisches Glücksversprechen der bürgerlichen Aufklärung' den letzten Grund sogenannter Verzweifelungstaten. Daß zum Beispiel einst die afroamerikansche Bürgerrechtsbewegung ganz anders auf Unterdrückung und enttäuschte Glücksversprechen antwortete und auch Che Guevara keine Bürohochhäuser einstürzen ließ, daß also zwischen der Wahrnehmung eines Elends und der Art, wie dieses dann zur Sprache gebracht und zum Grund gemacht wird, kein Reiz-Reaktion-Verhältnis existiert, das wird vor allem seit 1990 gerne ignoriert. Insofern ist natürlich auch das Beharren auf einem 'Grund' für die Anschläge selbst eine performative Selbstpositionierung: Das Reiz-Reaktions-Schema verleugnet die Geschichte der aufwendig reflektierten kommunistischen Versuche, die Zivilisation vor dem Kapitalismus zu retten (1).

Das Ausmaß von Gewalt und Vernichtungswillen des Anschlages auf das World Trade Center kam selbst unmittelbaren Zeugen unwirklich vor. Bis zu dem Zeitpunkt, da die Selbstmordattentäter unter Aufkündigung der Rationalität eines Eigeninteresses ihre entsetzlichen Phantasmagorien Realität werden ließen, konnte die Ahnung davon, daß radikal-islamistische oder andere apokalyptische Wirklichkeitskonstruktionen eines Tages wahr gemacht werden könnten, nur als transzendentes Kino-Erlebnis antizipiert werden. Die Vernichtungstat vom 11. September, die sich auf das Phantasma zweier sich einander bekämpfender kosmischer Mächte - Gott versus Satan - beruft, ebnete die Grenze zwischen Realität und dem Raum des Phantasmas ein.

Nicht zu Unrecht wird eben diese Überschreitung anders wahrgenommen als die Folgen einer 'rationalen' Kriegsführung. Als die Bomber der Nato das (weitestgehend evakuierte) Belgrader Business Center - ebenfalls ein zentral gelegenes Hochhaus - mit Cruise Missiles durchsiebten, geschah das im Rahmen eines militärischen Angriffskrieges, der zwar seinen eigenen Phantasmen folgte, dessen Kriegsziel aber berechenbar blieb und nicht in der Vernichtung möglichst vieler Serben bestand. Die Tendenz zur Überschreitung dieser Grenze in der Folge der mysteriösen Beschwörung eines bestimmten nationalen oder religiösen, angeblich bedrohten Lebensstils ist, wie man seit dem Nationalsozialismus weiß, auch in der bürgerlichen Gesellschaft stets präsent, aber wo diese Grenze verbal überschritten wird, etwa in Bushs Aufrufen zum 'Kampf gegen das Böse' und zum 'Kreuzzug', wird dem derzeit immerhin widersprochen. Es ist daher umso alarmierender, daß die gegen Israel gerichteten palästinensischen Selbstmordattentate trotz der darin zum Ausdruck kommenden Vernichtungswünsche (ihr erklärtes Ziel ist nicht die Tötung bestimmter, sondern möglichst vieler Israelis) in Deutschland und Europa oft wenig Entsetzen auslösen und als legitime 'Widerstandsform' gegen ein Besatzungsregime bewertet werden, gerade so, als sei prinzipieller Haß auf Juden ein legitimer 'Grund'.

Die antisemitische Dimension des Angriffes auf das World Trade Center

'Wir sind entsetzt und trauern um die Toten der Anschläge in den USA.' Solche Betroffenheitserklärungen standen in den ersten Tagen nach den Anschlägen noch am Anfang der Texte und Flugblätter jeder friedensbewegten Gruppierung, und waren dort doch nur eine Beschwichtigung, denn solchen einleitenden Sätzen folgte nicht etwa eine Beschreibung und Bewertung der Anschläge, sondern eine Reihe von Anklagen gegen den US-Imperialismus oder gar gegen 'die Macht des regionalen Gendarmen Israel'.

Die meisten linken Äußerungen zum Charakter der Anschläge entstanden interessanterweise erst durch die Abwehr von Äußerungen und Texten, in denen auf die antisemitischen Motive der Zerstörer des World Trade Centers hingewiesen wurde. Allerdings beschränken sich solche Repliken stets darauf, festzustellen, was die Anschläge auf keinen Fall waren.

Mit dieser Zielsetzung kritisiert zum Beispiel ein österreichischer Autor in der Wiener Wochenzeitung 'Volksstimme' die Novemberausgabe von KONKRET:

'´Vor allem ist New York die Stadt, in der die meisten Juden außerhalb Israels leben´, heißt es in ´Konkret´ und der Autor leitet aus diesem isolierten Faktum — übrigens: leben in New York nicht auch mehr Moslems als in jeder anderen Stadt der USA? — allerhand ab:

´Für das islamistische Ziel, weltweit íalle Amerikaner und Juden' anzugreifen, stellt das ímultikulturelle' New York daher ein ideales Angriffsziel dar. Diese Motive des íantizionistischen Antiimperialismus' und seines Anschlages auf das World Trade Center sind so unübersehbar, daß es schon auffällt, wie wenig in Deutschland und wie wenig in Flugblättern der deutschen Linken davon die Rede ist — und das, obwohl die Attentäter als ihren Vorbereitungsraum nicht zufällig Deutschland gewählt hatten.´

Unübersehbar ist hier eigentlich nur, daß ´Konkret´ phantasiert, nicht argumentiert. Die Islamisten pflegen im Übrigen auch frauenfeindlich zu sein und schwulenfeindlich. Dennoch käme nie jemand auf die Idee, in der Zerstörung der Twin Towers den Ausdruck von patriarchaler Sexualfeindschaft zu sehen, die sich vor allem gegen Frauen und Homosexuelle richtet. Antisemitismus als vorrangige Motivation der Attentate auszumachen, gründet auf Vorannahmen, nicht auf belegbaren Tatsachen.'

Ähnliche Einwände wurden auch mehrfach in der Berliner Wochenzeitung 'Jungle World' vorgebracht: 'In der antideutschen Logik trugen die Anschläge vor allem einen eliminatorischen antisemitischen Charakter und galten eigentlich Israel'. Oder: 'Natürlich spielen antisemitische Motive eine gewisse Rolle in der ideologischen Gemengelage, die den Islamismus ausmachen. Daß sie für die Wahl des World Trade Centers und des Pentagon als Angriffsziels entscheidend waren, ist aber an den Haaren herbeigezogen.'

Wie gesagt: In keiner dieser (und vieler weiterer) Repliken wird eine andere Bewertung der Anschläge vorgeschlagen. Im Mittelpunkt der Texte stehen vielmehr zunächst Bewertungen der US-amerikanischen Kriegsdrohungen und später der Kriegshandlungen. Eine Beschreibung und Bewertung der Anschläge wird überhaupt nicht für nötig befunden, zum einen, weil man ihren 'Grund' bereits zu kennen glaubt, und danach, weil man sie unter der Rubrik 'Vorwand für den Krieg ums Öl in Zentralasien' bereits vollständig derealisiert hat.

Den Kritikern, die in anderen Kontexten spekulative Überlegungen keineswegs ablehnen, solange sie diese mit einer 'materialistischen' Rhetorik ('Krise', 'Pipelines') verknüpfen können, ist der spekulative Charakter der These vom 'unübersehbaren Motiv des íantizionistischen Antiimperialismus' und seines Anschlages auf das World Trade Center' natürlich nicht entgangen. Sie machen sich in diesem Fall jedoch den Umstand zunutze, daß 'visionäre' Verbrechen dieser Dimension mit juristischen oder logischen Beweisverfahren tatsächlich nur unzureichend zu erfassen sind und daß die Wahrnehmung einer solchen Tat durchaus nicht unabhängig von Erfahrung und Vorwissen ist.

Nach 1945 gab es Überlebende des Holocaust, denen die Liebe deutscher Männer zur Märklin-Eisenbahn verdächtig vorkam. Der 1996 verstorbene jüdische Linke Arie Goral-Sternheim hatte ein Problem mit den 'AKW-nee-Plakaten' der 1970er Jahre. Der dort abgebildete, durchgestrichene Atommeiler erinnerte ihn unwillkürlich an den Sturm einer Menschmasse gegen die Kuppel einer Synagoge. Ihm drängte sich der Gedanke auf, die AKW-Gegner hätten in ihrem Unterbewusstsein die Form des AKWs mit der Synagoge assoziiert.

'Rational gesehen' kann so etwas natürlich nur als 'Spinnerei' interpretiert werden. 'Rational gesehen' handelte es sich daher auch um völlig hysterische Reaktionen, als Israel unmittelbar nach dem Anschlag vom 11. September alle Botschaften in der ganzen Welt evakuierte, daß die Israelis unmittelbar nach dem New Yorker Attentat noch häufiger als zuvor Busse, Bars und öffentliche Plätze mieden, daß in Israel damals der Verkauf haltbarer Lebensmittel um mehr als 250 Prozent stieg und im September täglich 25.000 Gasmasken ausgegeben wurden, weil man mit einer Ausweitung der Angriffe des Al Qaeda-Netzwerk und des Irak rechnete. Spekulativ und hysterisch war daher wohl auch der (nach dem Anschlag in Düsseldorf) abermals verstärkte Polizeischutz für jüdische Einrichtungen in Deutschland, den Paul Spiegel so kommentierte: 'Die Terroranschläge in den USA und in der Folge der Krieg gegen die Taliban haben die Situation in den jüdischen Gemeinden in Deutschland verändert. Jüdische Einrichtungen müssen mit verschärften Sicherheitsmaßnahmen geschützt werden, während Intellektuelle offen und stärker als je zuvor Israel kritisieren oder gar sein Existenzrecht in Frage stellen'

Beweise und wirklichkeitssetzende Bewertungen

Es ist schon wahr: Solange es kein entsprechendes Bekennerschreiben oder andere Papiere der Attentäter gibt, in denen die Auswahl des World Trade Centers als Zielobjekt der Anschläge genau 'begründet' wird, fehlt der letzte Beweis. Solange muss man das Ereignis nach dem, was über das Attentat von 1993 bekannt wurde sowie nach den verstreuten Erklärungen des Al Qaeda-Netzwerkes deuten. Doch abgesehen davon, daß die Tat selbst bereits gewisse Schlüsse auf den Charakter des Anschlages erlaubt - das Ziel einer möglichst hohen Opferzahl trägt nach aller bisherigen Erfahrung stets die Handschrift faschistischer oder islamistischer Akteure - existiert inzwischen eine, gewissermaßen indirekte, Beglaubigung der vielfach bezweifelten Deutung, wonach die Anschläge vor allem einen eliminatorischen antisemitischen Charakter hatten und letztlich Israel galten.

Diese indirekte Beglaubigung besteht in einer massenhaften und daher wirklichkeitssetzenden öffentlichen Rezeption der Attentate vom 11. September, die - durchaus auch in instrumentalisierender Absicht - den Zusammenhang zwischen dem New Yorker Attentat und der Politik Israels selbst hergestellt hat - auf Kundgebungen, an deren Spitze Pappattrappen des World Trade Centers mit der Aufschrift 'Hey USA, why 4.000 Jewish can escape from boom?' getragen werden (vgl. die Abbildung in KONKRET11/01), in Stellungsnahmen z.B. der iranischen Regierung, an gehobenen und weniger gehobenen deutschen Stammtischen und in ungezählten Zeitungsartikeln.

Es ist keine Spekulation, sondern eine belegbare Tatsache, daß Israel seit dem 11. September schärfer kritisiert wird als je zuvor und daß dies auch die jüdischen Bürger anderer Ländern zu spüren bekommen. Denn Israel, davon sind seit dem letzten September mehr Menschen als je zuvor überzeugt, ist der Ausgangspunkt einer 'Spirale der Gewalt', an deren anderen Ende das World Trade Center explodierte. Der deutsche Außenminister drückt das diplomatisch aus: 'In Saudi-Arabien, Israel und Gaza will der Bundesaußenminister zudem erneut für eine Lösung des Nahost-Konflikts werben, die er nach den Terroranschlägen für dringlicher denn je hält' ('Berliner Zeitung', 18.10.01). Die KP Österreich, die mit etlichen deutschen Linken die Überzeugung teilt, daß es zwischen Öl-Pipelines und Juden einen geheimen Zusammenhang gibt, formuliert den selben Gedanken materialistisch: 'Wer unterstützt seit Jahrzehnten den israelischen Staat in seinem Krieg gegen das palästinensische Volk? Wer hat das größte geostrategische Interesse an den begrenzten Erdölressourcen dieser Welt?' ('Volksstimme', 27.9.01). Und ein Sprecher von Attac sagt es mit einer ökologischen Metapher: 'Die Situation sozialer Desintegration und permanenter Unsicherheit, in der gerade auch der Nahe Osten belassen wird, ist so ein Nährboden des Terrors.' (Attac-Stellungnahme vom 12.10.01)

Auf diese Weise wird also - von anderen! - ein Kausalzusammenhang zwischen der israelischen Politik (wenn nicht sogar der Existenz Israels) und dem Anschlag vom 11. September hergestellt. Personen, deren Empörung seinerzeit grenzenlos gewesen wäre, wenn etwa die RAF sich als authentische Vertreterin der sozial Deklassierten präsentiert hätte, sind sich heute ganz sicher, daß der Massenmord von New York eine 'soziale Ursache' hat. Und wohlbemerkt: Nicht die 'soziale Desintegration' in Afrika oder die 'militärische Unsicherheit' in Lateinamerika gilt als 'Nährboden' der Anschläge von New York, sondern allein das 'Pulverfass' des israelisch-palästinensischen Konfliktes.

Alle diese Stimmen sagen nichts anderes, als daß die Anschläge, obwohl sie in den USA stattfanden, 'eigentlich Israel' galten, daß das World Trade Center also wegen des 'einseitigen' amerikanischen Engagements für Israel einstürzen musste. So wundert es dann nicht, daß inzwischen auch in den USA selbst diese Sichtweise immer mehr Anhänger findet: 'Das frustrierte Israel schlägt verbal zurück, weil es nicht versteht, warum es bei der Anti-Terror-Koalition nicht dabei ist. Und nicht nur in Amerika werden die Fragen lauter, die wissen wollen, warum Amerika in der arabischen Welt so verhaßt ist und die meinen, die Unterstützung Israels müsse neu überdacht werden. Wenn man Newsweek Glauben schenken kann, sind es mehr als 50 Prozent der Amerikaner, die den Angriff auf New York und Washington durch den Nahen Osten verursacht sehen und - was für Israel noch bedenklicher ist - sind es auch fast 50 Prozent der Amerikaner, die glauben, Amerika müsse seine Nahostpolitik überdenken.' ('Frankfurter Rundschau', 10.10.01).

Daß diese Darstellung nicht nur deutsches Wunschdenken wiedergibt, zeigt der in der 'New York Times' vom 4. November 2001 abgedruckte Bericht des jüdischen New Yorkers Jonathan Rosen:

'Tatsächlich empfinde ich größere Dankbarkeit als je zuvor, daß mein Vater in diesem Land Zuflucht gefunden hat. Doch in den letzten Wochen bin ich zu oft an die Rolle erinnert worden, die den Juden in den Phantasien der Welt zufällt, als daß ich mich darüber hinweg setzen könnte. Die Juden waren nicht die Ursache des Zweiten Weltkrieges, aber sie standen in einem metaphysischen Zentrum des Konfliktes, weil Hitler sich ihre Vernichtung zum Ziel gesetzt hatte, so daß sie ein wichtiges Motiv für seinen Feldzug bildeten. Die Juden sind nicht die Ursache des Dritten Weltkrieges, falls der denn bevorstehen sollte, aber auf mysteriöse und verstörenden Weise hat man sie auch hier ins Zentrum gerückt. Vor kurzem las ich ein Interview mit Scheich Muhammad Gemeaha, der auch Imam des Islamic Cultural Center in New York City ist. Er sagte, 'nur die Juden' seien in der Lage, das World Trade Center zu zerstören, und er fügte hinzu: ´Wenn das amerikanische Volks dies wüsste, würden sie mit den Juden machen, was Hitler mit ihnen gemacht hat.´ In Ägypten beschuldigt man den Mossad, die Anschläge verübt zu haben. Das lässt sich leicht als unsinniges Gerde abtun, aber da Millionen daran glauben und tatsächlich Flugzeuge in das World Trade Center gestürzt sind, erhalten solche Worte ein ganz anderes Gewicht und eine bedrohliche Bedeutung. Mehr und mehr habe ich das Gefühl, daß Juden wieder zum Fragezeichen stilisiert werden. Wie kommt es, fragt die Welt nun wieder Israel, die Juden und mich, daß ihr immer noch da seid? Nach dem Anschlag habe ich oft gehört, irgendwie habe die amerikanische Unterstützung für Israel uns diese verheerende Katastrophe eingebracht. Um es laut zu sagen: Der europäische Antisemitismus, der den Holocaust ermöglichte, prägt immer noch die Wahrnehmung der Juden durch andere; die gegen Israel gerichtete arabische Propaganda hat sie aufgegriffen und ihr in der schlachtbereiten moslemischen Welt eine Heimstatt verschafft.'

Jonathan Rosen benennt exakt die Bedeutung der Anschläge: Ihre Realität beglaubigt die Verschwörungstheorien. Wenn der Wahn sich materialisieren konnte, dann ist er wahr! Und wer sollte das besser verstehen, als die Deutschen? Die Islamisten haben der 'größten jüdischen Stadt der Welt' (David Gelernter) ein Brandopfer aufgezwungen aus purem Haß. Der Einwand, daß Haß aus Prinzip unlogisch und unverständlich ist, konnte die deutschen Mörder der europäischen Juden nicht beeindrucken. Gerade Linke in Deutschland müssten daher in der Lage sein, den islamistischen Haß auf die Juden beim Namen zu nennen. Wie Jonathan Rosen feststellt, haben die Islamisten eine von Deutschland in die Welt gesetzte Wahrnehmung der Juden aufgegriffen - zunächst nur aus politisch-propagandistischen Gründen in der Auseinandersetzung mit Israel, mit der Zeit aber immer häufiger aus Überzeugung und daher mit dem Potential, zu einer Massenkultur zu werden.

Export/Import

Rosens Darstellung des Zusammenhangs zwischen Islamismus und Nationalsozialismus vergleicht nicht die Rolle des Koran mit der von Hitlers Mein Kampf' und konstruiert auch keine Parallelen zwischen der aktuellen Situation in den arabischen Länder und dem hochindustrialisierten Nazi-Deutschland. Sie ist klar unterschieden von geschichtsrevisionistischen Definitionen, die den Holocaust relativieren, indem sie den Nationalsozialismus im Geiste Noltes als 'asiatische Tat' oder im Sinne von Enzensbergers Saddat-Hitler-Vergleich in den Orient exportieren.

Während des Kosovo-Krieges sagten einige deutsche Linke bzw. Ex-Linke: 'Wir möchten nicht tatenlos zusehen, wie ein Volk ermordet wird. Sollen wir den Kosovo-Albanern sagen: Haltet still? Sollen wir etwa warten, bis die Gaskammern dran sind?' Und: 'So wie die Bomben gegen das Dritte Reich notwendig waren, um Hitler zu stoppen, ist es auch heute nötig.' Einige Wochen später sagten sie: '1000 zivile Opfer nach fünf Wochen Krieg, sind ein Beleg für behutsame Bombardements.' ('Taz', 11.04.99).

Spätestens seit dieser Zeit wissen wir, was es bedeutet, wenn in Deutschland die Kinder und Enkel der Tätergeneration mit den ökonomischen, politischen und militärischen Mitteln, die diese ihnen vererbt hat, anderswo 'Zivilisation & Menschenrechte' durchsetzen wollen und mit dem Pathos der 'radikalen Kritik' den Nationalsozialismus ins Ausland projizieren.

Man muß daher mit Jonathan Rosen darauf bestehen, dass der Zusammenhang zwischen der Vernichtung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland und der heutigen weltweiten Wahrnehmung der Juden und Israels (des 'Juden unter den Staaten'), zum Ausgangspunkt der Kritik des islamistischen Antisemitismus gemacht wird. Diese Kritik hat zudem die Tatsache zu bewerten, daß der islamistische Antisemitismus sich von einem seit 1990 zunehmend verständnisvolleren Deutschland und Europa ermutigt fühlt, weil nicht zu übersehen ist, daß die europäischen Staaten in ihrer Nahost-Politik den Stand der Konkurrenz gegen die USA austesten. Die steigende Zahl der gegen Israel gerichteten Selbstmordattentate oder etwa die UN-Konferenz gegen Rassismus in Durban, wo man Zionismus und Rassismus gleichsetzte und in einer kaum verschleierten Weise das Existenzrecht Israels in Frage stellte, wäre ohne das europäische 'Verständnis' nicht denkbar. Aber auch von den USA gehen immer häufiger fragwürdige Signale aus. Als der Generalsekretär der Arabischen Liga, Amre Mussa, am 21. September eine arabische Beteiligung an der von den USA geforderten Anti-Terror-Allianz ausschloss, wenn Israel beteiligt werden sollte, wurde Israel von den USA sofort als Störfaktor behandelt.

Antisemitismus als kultureller Code

Die Erwartung der islamistischen Attentäter, daß ihr monströses Verbrechen die US-amerikanischen und europäischen Distanzierungen von Israel forcieren würde, hat sich ebenso eindeutig erfüllt, wie ihre Erwartung, daß die arabischen Eliten, auf deren Delegitimierung die Islamisten zielen, ihre antisemitische Rhetorik verstärken würden. Die Wahrnehmung Israels und der jüdischen Bürger anderer Staaten ist heute eine ganz andere als etwa im Jahr 1975. Obwohl es damals - anders als heute - möglich war, in der UNO eine Anti-Zionismus-Resolution zu verabschieden, war die daraus für Israel resultierende Gefahr verhältnismäßig gering, weil der Antizionismus der 1970er Jahre noch mit mehr oder weniger linkem Befreiungsnationalismus einher ging und weil eine Antizionismus-Resolution damals auch als Teil des Kalten Krieges wahrgenommen wurde. Nach dem Zusammenbruch dieser Bezugssysteme zeichnet sich die Tendenz ab, Israel und die Juden aus ganz anderen Gründen wieder zum Fragezeichen zu stilisieren.

Einige Wochen nach dem Einsturz des World Trade Centers wies der New Yorker Bürgermeister Giuliani die Geldspende eines saudischen Prinzen zurück, weil dieser einen Zusammenhang zwischen den Terroranschlägen vom 11. September und der amerikanischen Nahost-Politik hergestellt hatte.

Giulianis Ablehnung lag jedoch keineswegs im Trend, denn der Zusammenhang zwischen dem Nahost-Konflikt und dem Entstehen von islamistischen Terrorgruppen war zu diesem Zeitpunkt längst von allen arabischen Regierungschefs hergestellt worden, die den USA unter der Bedingung des Ausschlusses Israels politische Unterstützung zugesagt haben. Auch der britische Premierminister Tony Blair hatte dem ägyptischen Präsidenten Mubarak in Kairo aus innerer Überzeugung nicht widersprochen, als dieser vor der Presse erklärte, die 'Ungerechtigkeit im Nahen Osten hat einige Menschen zum Äußersten getrieben und ihnen einen Vorwand für ihre Gewalttaten geliefert'. Es ist wie Jonathan Rosen sagt: Antisemitismus ist zu einem allgemeinen kulturellen Code geworden. Die Rechnung der Islamisten ist aufgegangen. Israel wird fast weltweit die Schuld an den Terroranschlägen vom 11. September in den USA zugeschrieben, die Zerstörung des World Trade Centers gilt als Strafe für die amerikanische Unterstützung Israels.

In Deutschland kennt man bei der Durchsetzung dieser Weltsicht keine Parteien mehr: 'Übereinstimmend berichten die Politiker über eine wachsende israelikritische Stimmung in ihren Fraktionen und Wahlkreisen. Der frühere Außenminister Kinkel sagte: ´Ich nehme eine fast antiisraelische Stimmung wahr, eine traurige Veränderung in weiten Teilen der Bevölkerung.' ('Tagesspiegel', 2.2.02).

Das gemeinsame Ideal von deutschen Anti- und Philosemiten wäre der Einsatz der Bundeswehr als Teil einer Internationalen Friedenstruppe im Westjordanland nach dem Kosovo-Modell - mit Scharon in der Rolle des Milosevic und der PLO in der Rolle der UCK. Der deutschen 'Erinnerungskultur' und sogar dem Holocaust-Gedenken würde das keinen Abbruch tun.

(1) 'Die Zivilisation und Gerechtigkeit der Bourgeoisordnung tritt hervor in ihrem wahren, gewitterschwangern Licht, sobald die Sklaven in dieser Ordnung sich gegen ihre Herren empören. Dann stellt sich diese Zivilisation und Gerechtigkeit dar als unverhüllte Wildheit und gesetzlose Rache. Jede neue Krisis im Klassenkampf zwischen dem Aneigner und dem Hervorbringer des Reichtums bringt diese Tatsache greller zum Vorschein. Der selbstopfernde Heldenmut, womit das Pariser Volk - Männer, Weiber und Kinder - acht Tage lang nach dem Einrücken der Versailler fortkämpften, strahlt ebenso sehr zurück die Größe ihrer Sache, wie die höllischen Taten der Soldateska zurückstrahlen den eingebornen Geist jener Zivilisation, deren gemietete Vorkämpfer und Rächer sie sind. Eine ruhmvolle Zivilisation in der Tat, deren Lebensfrage darin besteht: wie die Haufen von Leichen loswerden, die sie mordete, nachdem der Kampf vorüber war!' (Marx: Der Bürgerkrieg in Frankreich, MEW 17, S. 355). Bereits 'Fourier weist nach, daß die Zivilisation sich in einem »fehlerhaften Kreislauf« bewegt, in Widersprüchen, die sie stets neu erzeugt, ohne sie überwinden zu können, so daß sie stets das Gegenteil erreicht von dem, was sie erlangen will oder erlangen zu wollen vorgibt. So daß z.B. »in der Zivilisation die Armut aus dem Überfluß selbst entspringt«' (Engels: Anti-Dühring, . MEW 20, S. 242). Es gehört daher zu den Essentials der marxistischen Zivilisationskritik 'daß die große Industrie, solange sie auf dem jetzigen Fuße betrieben wird, sich nur durch eine von sieben zu sieben Jahren sich wiederholende allgemeine Verwirrung erhalten kann, welche jedes Mal die ganze Zivilisation bedroht und nicht nur die Proletarier ins Elend stürzt, sondern auch eine große Anzahl von Bourgeois ruiniert; daß also die große Industrie eine ganz neue Organisation der Gesellschaft durchaus notwendig macht, in welcher nicht mehr einzelne, einander Konkurrenz machende Fabrikanten, sondern die ganze Gesellschaft nach einem festen Plan und nach den Bedürfnissen aller die industrielle Produktion leitet.' (Engels: Grundsätze des Kommunismus, MEW 4, S. 370).

hagalil.com 09-09-02

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