Die Geschichte und Gegenwart
der Juden in Los Angeles:
Weimar am Pazifik,
Palmenidyll am Meer
Von
Tekla Szymanski
Dieser Artikel erschien in
Heft 162, 2002, der
"Tribüne"
— der "Zeitschrift zum Verständnis des Judentums"
In Kalifornien "hängt an jedem Zitronenbaum
ein kleines Preisschildchen", spöttelte Bertolt Brecht, der in
den frühen 40er Jahren in Los Angeles im Exil lebte. Und Igor
Stravinsky fand, Los Angeles schenke jedem eine "wunderbare
Isolation". Ganz im Gegensatz zu New York war Los Angeles eine
tropische Enklave, ein mexikanisches Städtchen im Wilden Westen,
das erst am 4. April 1850 von Amerika annektiert wurde. Damals
lebten 8.624 Einwohner in der Stadt-unter ihnen 295 "gringos"
(weisse, Englisch sprechende Amerikaner) und acht Juden: Abraham
Jacobi, 25, und Morris Michaels, 19, beide aus Polen, sowie
Morris L. Goodman, 24, Phillip Sichel, 28, Augustine Wassermann,
24, Felix Bachmann, 28, Joseph Plumer, 24, und Jacob Frankfort,
24: Sie alle kamen aus Deutschland.
Dieses Wüstenländchen, in denen zu Anfang die
Goldgräber ihr Unwesen trieben, wuchs innerhalb weniger als 100
Jahren zu einer Metropole an, in deren Traumfabrik, Hollywood,
Juden das Image Amerikas formten und in die Welt exportierten,
und wo heute die drittgrösste jüdische Gemeinde der Welt—nach
Israel und New York—zu Hause ist.
Juden waren von Anfang an aktiv dabei, diese
Stadt aufzubauen, doch ihre Beweggründe, nach Kalifornien zu
ziehen, waren andere als die der armen Stetl-Bewohner, die in
Ellis Island bei New York an Land kletterten. Juden zog es über
die Jahre nach Kalifornien der Sonne wegen, weil sie ein neues,
sorgenfreies Leben aufbauen wollten. Ihre Eltern und Grosseltern
hatten Europa verlassen, waren Pogromen und Elend entkommen, und
hatten sich nach New York eingeschifft. Jetzt verliessen ihre
Kinder New York, um den engen, armseligen Wohnverhältnissen zu
entfliehen, in denen sie aufgewachsen waren; sie kamen, weil sie
ihren Lebensabend in Ruhe geniessen wollten, und sie kamen, weil
sie einfach die Neugier trieb.
Ein neues Leben aufbauen hiess für Juden, wie
für alle anderen auch, die Fesseln der alten Generation
abzustreifen. Denn in Los Angeles erwartete sie kein starres
Klassensystem, jeder war hier vorerst "fremd"—selbst die in
Amerika geborenen. Und jeder hatte die gleichen Chancen. In Los
Angeles trafen sich Exilanten aus Deutschland, meist
Schriftsteller, die einen Neuanfang suchten. Und mit Ende des
Zweiten Weltkrieges erreichten junge amerikanische
Kriegsveteranen Los Angeles, die während des Krieges im Pazifik
stationiert waren und auf den Weg dorthin auch Kalifornien zum
ersten Mal durchreist hatten. Es zog sie zurück in die Sonne.
Unter ihnen waren viele der 550.000 Juden, die an der Seite
Amerikas gegen Deutschland gekämpft hatten—sie kehrten gerne
Brooklyn, Chicago und Philadelphia den Rücken, um, ausgerüstet
mit den Kriegsabfindungen, die sie erhalten hatten und gestärkt
mit neuem Selbstbewusstsein, ihre Familien an der
abgeschiedenen, malerischen Westküste zu gründen—weit weg von
den miefigen Wohnslums ihrer Eltern, die in ihren Augen nie
richtige Amerikaner geworden waren.
Die Jungen entdeckten eine neue Welt, wo ihr Judentum nicht als
selbstverständlich angesehen wurde. Sie entdeckten eine Welt, in
der Rassendiskriminierung und Vorurteile nicht mehr mit Bagel
und Lachs verdrängt wurden. Ehemalige New Yorker Juden wurden
hier zur Minderheit—weil sie weiss waren. Sie waren nicht mehr
in erster Linie Juden, sondern sie waren weiss. Denn die
Mehrheit der Bevölkerung war mexikanisch und indianisch. Die
jüdische Religion war nicht mehr ausschlaggebend für ihre
Identifikation.
I. Am Anfang waren es acht
1850 ging es den wenigen Juden, die aus
Deutschland an die Westküste gekommen waren, relativ gut. Sie
waren angesehen, betätigten sich als Kaufleute, und standen gut
mit der hauptsächlich mexikanischen und indianischen
Bevölkerung. Ihre kaufmännischen Kenntnisse trugen dazu bei, die
Stadt aus ihrer Isolation zu heben. Die Juden lernten schnell
Spanisch und füllten bald Schlüsselpositionen in der Stadt.
Einige kehrten nach Deutschland zurück, um dann wieder nach Los
Angeles zu reisen, sobald ihnen das Geld in der Alten Welt
ausging.
Mitte des 19. Jahrhunderts wurde der erste
jüdische Friedhof, die erste jüdische Gemeinde und 1854 die
"Hebrew Benevolent Society" gegründet—die erste jüdische
Hilfsorganisation unter Samuel K. Labatt. 1902 wurde das erste
jüdische Krankenhaus, das Kaspare Cohn Hospital für tuberkulöse
Kranke eröffnet. Antisemitismus gab es nicht. Denn nicht die
Juden waren ein Dorn in den Augen der Mexikaner und
Indianer—sondern die Amerikaner, die ihnen ihr Land genommen
hatten.
1857 kamen schwere Zeiten auf Los Angeles zu:
Eine Dürreperiode, gefolgt von Überflutungen und einer Masern
Epidemie machten der Bevölkerung zu Schaffen. Mit dem Bau der
Eisenbahnlinien 1870 ging es langsam aufwärts: Zum ersten Mal
machten Neuankömmlinge die Mehrheit der Bevölkerung aus. Aber
sie kamen nicht direkt mit dem Schiff aus ihren Heimatländern,
sondern via New York, Boston und anderer Hafenstädte. Einige
verhalfen während der Pogrome in Osteuropa (1906-07) ihren
osteuropäischen Familien nach Kalifornien. Man empfing sie mit
Nasenrümpfen. Den mit Streimeln (Fellmützen) bekleideten
orthodoxen osteuropäischen Juden wurde von Alteingesessenen
Juden hämisch hinterhergerufen, sie seien in Los Angeles und
nicht in Sibirien.
Zu dieser Zeit erreichten auch 2.200-2.300 arbeitslose jüdische
Arbeiter aus New York die Stadt. Die meisten kamen aus der
Bekleidungsindustrie. Sie waren von dem von Baron de Hirsch ins
Leben gerufenen "Industrial Removal Office" nach Los Angeles
geschickt worden—einer Organisation, die den Juden aus dem
überfüllten New York an der Westküste Arbeit vermittelte.
1900 gab es 2.500 Juden in Los Angeles; 1927 waren es 65.000 (1.5
Millionen Juden lebten zu dieser Zeit in New York). Die meisten
Juden in Los Angeles waren nicht religiös—weniger als die Hälfte
von ihnen gehörten in den 1930er Jahren der jüdischen Gemeinde
an. Ganz im Gegensatz zu der jüdischen Bevölkerung, die es aus
Osteuropa nach New York trieb: Sie brachten ihre Bräuche und
Traditionen mit und transferierten sie in die Neue Welt. An der
Lower East Side in Manhattan ging das Stetldasein erst einmal
weiter, in Frömmigkeit. Die Juden in Los Angeles waren dagegen
junge, idealistische Kaufleute. Sie kamen, weil sie es zu etwas
bringen wollten. Freiwillig. Und sie waren erfolgreich.
II. Hollywood: Die ganze
Mischpoche vereint
Von 1890 bis zum Ende des Zweiten
Weltkrieges überkam Los Angeles eine puritanische Zeit. Mehr und
mehr konservative, christliche Auswanderer zog es aus dem
mittleren Westen nach Los Angeles. Juden wurden an den Rand
gedrängt, Antisemitismus flammte auf. Doch die Juden fanden
einen Anlaufpunkt, den ihnen niemand streitig machen sollte:
Hollywood. Osteuropäische Juden bauten die Traumfabrik auf,
leiteten sie exklusiv über 30 Jahre lang und setzten dem
amerikanischen Selbstbewusstsein für immer ihren Stempel auf.
Sie gründeten die Filmgesellschaften, jüdische Rechtsanwälte
vertraten die Bosse der Filmindustrie und es waren
ausschliesslich Juden, die Filme produzierten. Unter ihnen war
auch Curt Siodmak, der Anfang September 2000 verstarb, und den
die Neue Zürcher Zeitung (8.9.2000) in ihrem Nachruf einen "der
letzten grossen Autoren und Filmkünstler der Nazi-Emigration"
genannt hatte, den Hollywood verloren habe. "Ich wurde als Jude
geboren und trug mein Leben lang den unsichtbaren Davidstern",
habe Siodmak gesagt. Und nie konnte er, wenn er Englisch sprach,
seine sächsische Herkunft verleugnen.
So wie Siodmak, fanden viele jüdische
Flüchtlinge in der Filmbranche Unterschlupf. Diese neue
Machtposition der Juden wurde vielen suspekt: In diesen Jahren
nahm der Antisemitismus in Kalifornien zu. Die sogenannten
"Hollywood Jews" bildeten eine homogene Gruppe. Es waren arme
Einwanderer aus Osteuropa: Carl Laemmle gründete Universal
Pictures; Adolph Zukor baute Paramount Pictures auf; William Fox
gründete die Fox Film Corporation; Benjamin Warner gründete
Warner Brothers; und Louis B. Mayer rief Metro-Goldwyn-Mayer
(MGM) ins Leben, das Spötter "Mayer's Gunsa Mischpocha" (Mayers
ganze Familie) nannten, da er dort seine ganze Familie zu
beschäftigen pflegte. Allen gemeinsam war der eiserne Wille,
ihre bettelarme Vergangenheit zu vergessen, und sie adoptierten
ihre neue Heimat mit glühend patriotischer Hingabe.
Sie wollten Amerikaner werden, bauten
Multi-Billion-Dollar Industrien auf, und erschufen ein Amerika
nach ihren Idealen: eine Traumwelt, wo jeder frei war, das Böse
bekämpft werden konnte und das Gute am Ende immer siegte. Viele
gaben ihre jüdisch klingenden Namen auf—so wie es auch viele
Schauspieler taten. Einige revidierten sogar ihr Geburtsdatum
(Mayer ernannte den 4. Juli, Amerikas Unabhängigkeitstag, zu
seinem Geburtstag). Man streifte die osteuropäische
Vergangenheit wie einen ausgebeulten Schuh ab, sprach
ausschliesslich Englisch und zog sich mehr und mehr aus seinem
Judentum zurück.
Die "Hollywood Jews" trafen den Geschmack ihres
Publikums genau, weil sie selbst das Publikum waren. Auch sie
waren Einwanderer, die sich in Amerika, in Los Angeles, neu
definieren wollten. Sie kannten die Träume und Sehnsüchte ihres
Publikums—es waren die Ihrigen. Sie erfanden Amerika auf der
Leinwand. Amerika war Hollywood, und Hollywood spiegelte
Amerikas künstliche, etwas kitschige Ideale und einen naiven
Patriotismus wider. So ist es bis heute geblieben.
Eifrig produzierten sie Filme, die zerstreuten.
Kritische Behandlungen über Antisemitismus, den Krieg oder
Nazi-Deutschland schmähten sie. Filme, die die Realität der
Juden nicht durch eine rosarote Brille sahen, wurden erst viel
später, von Nicht Juden gedreht (so zum Beispiel "A Gentleman's
Agreement", 1947, unter Regie von Elia Kazan, über
Antisemitismus in Amerika). Hollywood wurde zu einem jüdischen
Machtmonopol, über das der Schriftsteller F. Scott Fitzgerald
sagte, es wäre ein "jüdischer Traum und eine nicht-jüdische
Tragödie."
Bis heute sind vier der fünf grössten
amerikanischen Filmgesellschaften unter jüdischer Leitung.
"Dreamworks", gegründet im Oktober 1994 von Steven Spielberg,
David Geffen und Jeffrey Katzenberg, ist eine moderne
Reinkarnation der "Hollywood Jews" und mittlerweile zu einem der
einflussreichsten Filmstudios aufgestiegen. Und auch heute noch
ist Fairfax, westlich von Hollywood, der Stadtteil in Los
Angeles, in dem die meisten Juden der ersten Generation wohnen.
III. Exil unter Palmen
"Als ich das erste Mal nach Los
Angeles kam", erinnerte sich der jiddische Schriftsteller Isaac
Bashevis Singer, "hatte ich das Gefühl ich wäre im Paradies
gelandet. Zu erst einmal die Palmen. Wo hätte ich denn sonst in
meinem Leben Palmen gesehen? Und der erste Schluck [Orangensaft]
war ein Göttertrank!" Die dritte große Einwanderungswelle
erreichte Los Angeles zwischen 1936 und 1943—unter ihnen waren
zahlreiche deutsche Exilschriftsteller, Schauspieler und
Regisseure, Juden wie nicht Juden. Und nach dem Krieg kam eine
Gruppe jüdischer Flüchtlinge an die Westküste, die den Krieg in
Shanghai überlebt hatten.
Obwohl Los Angeles die Exilanten von ihrem
Schicksal abzulenken vermochte, die Trauer, die Heimat verlassen
zu haben, konnten auch Palmen und azurblauer Ozean nicht
wegwischen. "Hier, in Los Angeles, kann man nicht laufen,"
klagte die Schriftstellerin Vicki Baum. "Das ist ein Grund warum
ich mich im Exil fühle." Und Bertolt Brecht schrieb in seinem
Gedicht "Nachdenken Über Die Hölle" (1941-47): "[...] Ich, der
ich nicht in London lebe, sondern in Los Angeles, finde,
nachdenkend über die Hölle, sie muss mehr Los Angeles gleichen.
[...] Die Häuser in der Hölle sind nicht hässlich. Aber die
Sorge, auf die Strasse geworfen zu werden, verzehrt die Bewohner
der Villen nicht weniger als die Bewohner der Baracken.[...]"
Während des Zweiten Weltkrieges wurde Pacific
Palisades, westlich von Los Angeles, die Hauptstadt der
deutschen Exilliteratur. Dieses "Weimar am Pazifik",—und
insbesondere die Villa Aurora, das Domizil der
Feuchtwangers,—wurde zum Treffpunkt der Exilanten. 130.000
deutschsprachige Flüchtlinge kamen aus Europa und liessen sich
zwischen 1933-1945 in Los Angeles und Umgebung nieder, unter
ihnen Bertolt Brecht, Thomas und Heinrich Mann, Franz Werfel,
Alfred Döblin und Walter Mehring. Nicht wenige—darunter Brecht,
Werfel, Albert Einstein, Thomas Mann, Feuchtwanger, Döblin,
Erich Maria Remarque, Emil Ludwig, Vicki Baum und Ludwig
Marcuse—erregten das Misstrauen des FBI, das nach "un-american",
sprich kommunistisch-gefärbten Aktivitäten und linken
Weltanschauungen forschte, und den geflohenen Deutschen nicht
selten feindlich gegenüberstand, ja, einige sogar ausser Landes
wies.
In den 1940 Jahren kamen jeden Monat 16.000 Juden in Los Angeles
an. 1946 strömten täglich 500 Juden in die sonnendurchflutete
Stadt. Viele kamen als Touristen—und blieben. Wieder andere
suchten das therapeutisch milde Klima Kaliforniens—und blieben.
Juden machten jetzt 13% der Einwohnerzahl Los Angeles aus. Die
jüdische Abwanderung (besonders aus dem mittleren Westen)
verdoppelte die Gesamtbevölkerung der Stadt, von 130.000 vor dem
Zweiten Weltkrieg, auf 500.000 um 1950.
Erst hundert Jahre zuvor hatten nur acht Juden in der Stadt
gelebt.
IV. Eine Metropole wächst
Immer mehr New Yorker Juden zog es an die
Westküste; es waren Einwanderer der zweiten Generation. 70%
liessen sich in Los Angeles nieder. Um 1948 lebten 150.000 Juden
in Los Angeles. 1950 machten die in Los Angeles geborenen Juden
nur 8% der Bevölkerung aus. Los Angeles transformierte sich,
nach Tel Aviv und New York, zu einer Metropole mit der
drittgrössten jüdischen Einwohnerzahl in der Welt. Das
Durchschnittsalter der Juden in Los Angeles lag 1959 bei 33. Im
selben Jahr wurde die Dachorganisation der Juden in Los Angeles
gegründet: "The Jewish Federation Council of Greater Los
Angeles."
Jeden Neuankömmling erwartete ein
Ferienparadies. Die Stadt war nicht mit lähmender Geschichtslast
beladen, war anders als die Städte, die man an der Ostküste
zurückliess. Los Angeles forderte von niemandem totale
Anpassung. Hier konnte man sich neu entfalten, alte
Familienbande abstreifen, oder auch nicht, mit der Stadt wachsen
und sich neu definieren. Jeder Zweite war ein Neuankömmling,
viele kamen allein: ob in Amerika geborene, Europäer oder
Lateinamerikaner. Hier wurden Neueinwanderer automatisch zu
Amerikanern—schnell, schmerzlos, unter blauem Himmel. Man wurde
zum Neu-Amerikaner, weil man sein Schicksal selbst in die Hand
nahm. Man improvisierte und nahm Risiken. Hier war das Land der
jungen Leute, die in die Zukunft blickten—ganz im Sinne
amerikanischer Ideale.
V. Hand in Hand mit den
Latinos
Juden wurden zu einem voll integrierten Teil der
Stadt. 1974 erreichten jüdische Einwanderer aus der Sowjetunion
Los Angeles. Russische Juden bilden heute die grösste ethnische
Gruppe unter der jüdischen Bevölkerung. Die zweite Gruppe sind
persische Juden, die nach der Absetzung des Schahs 1979 nach Los
Angeles immigrierten. Heute leben rund 35.000 iranische Juden in
Los Angeles, und bilden die grösste iranisch-jüdische Gemeinde
ausserhalb Israels. Die dritte ethnische Gruppierung in der
Stadt sind junge Israelis, die es aber vorziehen, nicht "zu sehr
aufzufallen"; man nennt sie die "Unsichtbare Gemeinde". Ihre
Zahl wird auf rund 15.000 geschätzt.
Insgesamt leben heute etwa 500.000 Juden in Los
Angeles— in New York sind es rund 1.13 Millionen. Und immer noch
sind 45% der Juden in Los Angeles Auswanderer, oder Kinder von
Einwanderern. Lebten die meisten Juden anfänglich in Fairfax
(westlich von Hollywood, wo immer noch eine große Anzahl von
älteren Juden und Holocaustüberlebenden lebt) oder Boyle Heights
(das jetzt vollständig von Latinos bewohnt ist), so ziehen jetzt
immer mehr junge Juden nach West Los Angeles, zwischen Beverly
Hills und dem Pazifik. Im Gegensatz zu New York, wo es eine
zentrale jüdische Gemeinde gibt, sind Juden in Los Angeles in
kleinen Splittergemeinden über das gesamte Stadtgebiet
verstreut. Nur wenige sind Mitglieder einer Synagoge.
Die Mehrheit der Juden in Los Angeles ist
Reform, und nur die iranische Gemeinde ist traditionell
religiös. Los Angeleser Juden sind zum grössten Teil
liberal-demokratisch eingestellt (1993: 82%), und nur die
iranischen Juden stehen den Republikanern näher. Juden in Los
Angeles bilden eine enorm wichtige Wählergruppe, denn 93% von
ihnen gehen wählen. Das steht im krassen Gegensatz zum
amerikanischen Trend mit seiner allgemeinen Wahlbeteiligung von
unter 50%. So kam es, dass 15% der Wähler in der
Bürgermeisterwahl 1997 in Los Angeles Juden waren—obwohl Juden
nur rund 6% der Gesamtbevölkerung ausmachen. Nur ein Kandidat,
der um die jüdische Wählerschaft buhlt, kann in Los Angeles eine
Wahl gewinnen.
Juden und Schwarze haben seit den Anfängen der
Bürgerrechtsbewegung in den 60er Jahren eine lange Geschichte
guter Zusammenarbeit hinter sich. Sie verhalfen 1973 gemeinsam
dem schwarzen Bürgermeister von Los Angeles, Tom Bradley, ins
Amt. Doch die guten Beziehungen änderten sich schlagartig 1992
mit den Rassenunruhen in der Stadt. Juden wurden in den Augen
der Afro-Amerikaner wieder zu "Den Weissen" degradiert.
Trotz des Einflusses, den die Juden in der
Geschichte der Stadt ausgeübt hatten, wurde der erste jüdische
Politiker erst 1953 in die Kommunalbehörde der Stadt gewählt.
1976 hatten Juden 16 der 100 höchsten politischen Posten in Los
Angeles inne. Doch der Trend nimmt ab: Seit Mitte der 80er
Jahre—besonders nach 1993 mit der Abwahl Bradleys—ist ihr Anteil
in der Stadtpolitik um 30% gesunken.
Heute sind es Juden und Latinos, die gemeinsam,
da demokratisch eingestellt, das politische Klima der Stadt
bestimmen. Der Kandidat, der es schafft, Juden und Latinos zu
überzeugen, wird gewählt. Latinos machen 60% der
Gesamtbevölkerung der Stadt aus, und Juden sehen sich jetzt als
eine weisse Minderheit innerhalb der weissen Minderheit. Die
jüdischen Gemeinden haben deshalb in den letzten Jahren
verstärkt den Dialog mit Latinos gesucht—und die Beziehungen
werden immer enger.
VI. Los Angeles—New York
In New York gehörten die Juden einem Kollektiv
an. Von je her organisierte man sich in Gemeinden, Familien
lebten eng beieinander. In Los Angeles wurden Juden zu
Individuen. Die eigene Religiosität praktizierte man, wenn
überhaupt, zu Hause. Das jüdische New York ist ein Produkt
seiner (ost)europäischen Vergangenheit. Das jüdische Los Angeles
dagegen ist das Produkt einer neu definierten
amerikanisch-jüdischen Symbiose. Es zieht die amerikanischen
Juden immer noch gen Westen: Zwischen 1930 und 1994 ist die
jüdische Bevölkerung in Kalifornien um 730% angestiegen; die
jüdische Bevölkerung an der Ostküste sank dagegen um 16%. Los
Angeles wurde zum "Ellis Island of the West".
Die Stadt entwickelte sich erst spät. Als New
York schon längst etabliert und Zentrum der Finanz war—eine
glitzernde Einwanderstadt, die den Massen den amerikanischen
"way of life" versprach—war Los Angeles ein staubiges, rauhes
Fleckchen, eine Stadt der Saloons und Cowboys. Bis 1880 war Los
Angeles eine Grenzstadt im Wilden Westen, wo Gangster und
Goldgräber ihr Unwesen trieben. Eine Stadt, die nicht ernst
genommen, ja, grösstenteils sogar übersehen wurde. Während man
in New York schnell "New Yorker" werden wollte und auch heute
noch werden will, blieb und bleibt man in Los Angeles Texaner,
Kantonese oder Deutscher aus Wahl.
New Yorker und Kalifornier bleiben sich fremd.
Die Bewohner der Ostküste und der Westküste unterscheiden sich
in ihrer Lebenseinstellung. New Yorker Juden nennen Los Angeles
spöttisch "La La Land", kulturlose Heimat einer seichten, meist
neureichen Gesellschaft, die in ihren hässlichen Villen nur ans
eigene Amüsement denkt. "Für die Bewohner von Los Angeles ist es
unwichtig was man über sie schreibt—Hauptsache der Name stimmt",
spöttelt der Schriftsteller Paul Vangelisti in "L.A. Exiles: A
Guide to Los Angeles Writing". Und Orson Welles hatte einmal
über Los Angeles gesagt: "Das Furchtbare an L.A. ist, dass man
sich mit 25 hinsetzt—und wenn man wieder aufsteht ist man 62."
Juden in Los Angeles wiederum sind davon
überzeugt, dass sie alleine die grösste Reformgemeinde aufgebaut
haben, freier und mehr gewillt sind, ihr Judentum so zu leben,
wie sie es wollen. Juden in New York seien da viel orthodoxer
als sie. Juden in Los Angeles würden überall wohnen—bloss nicht
in New York. "Es lebt sich besser in Los Angeles, man hat mehr
Freiheit, mehr Privatsphäre, die Lebensqualität ist höher als in
New York", resümiert H.Z., 73, der in der Bronx in New York
aufwuchs und nach seinem Militärdienst an der Westküste in Los
Angeles geblieben ist. "Ich hab' nichts gegen New Yorker. Sie
sollen bloss an der Ostküste bleiben, weit weg von unseren
freeways!"
Viele Juden in Los Angeles teilen seine Meinung.
Auch sie sind froh, weit weg zu sein von New York—dem brodelnden
Anlaufpunkt ihrer Eltern mit seinen stinkenden subways—das immer
noch schonungslos an die eigenen Wurzeln erinnert. Ein rauhes
Pflaster, wo es im Winter auch noch schneit.
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Tekla Szymanski:
hagalil.com
03-09-02 |