
An der Grenze
von Schein und Sein
Von Cristina
Nord
Du sollst nicht langweilen. Das
war sein elftes Gebot, und Billy Wilder hat es Zeit seines Lebens
befolgt. Wer jagte die Pointen durch die Filme, wer trieb die Komödie
bis in den Irrsinn, wer beschleunigte den Witz, bis daraus Aberwitz
wurde? Und das war kein einfacher Witz, der im Lachen verblasst wäre. Es
war ein Witz, der sich festhakte und dabei die komödiantische Oberfläche
aufriss, so dass unter der Leichtigkeit die Tragik blitzte und die
Unbehaustheit des modernen Seins. Ganz buchstäblich übrigens: Die
Hauptfigur von "Das Apartment" (1959/60), der Angestellte C. C. Baxter
(Jack Lemmon), leiht seine Wohnung den Vorgesetzten, damit sie dort ihre
Geliebten treffen. Er selbst steht derweil auf der Straße, in der Kälte,
unbehaust.
Nicht, dass Wilder auf die
Komödie abonniert gewesen wäre. Dem Filmkritiker Robert Porfirio sagte
er 1975 in einem Interview: "Sie müssen verstehen, dass jemand, der
Filme macht, und erst recht jemand wie ich, der ich alle möglichen Arten
von Filmen mache, mit verschiedenen Stilen arbeitet. Anders als
meinetwegen Hitchcock oder Minnelli, der die großen Musicals für Metro
[Goldwyn Mayer] dreht."
In diesem Sinne hat Wilder als
Regisseur wie als Drehbuchautor immer wieder die Kategorien und Genres
gewechselt. Vom Film noir ("Frau ohne Gewissen" von 1944) über die
romantische Komödie ("Sabrina" von 1954) und das Drama ("Stalag 17" von
1953) hin zum Aberwitz von "Eins, zwei, drei" (1961).
Diesen Film drehte Wilder in
Berlin. Obwohl er den Zusammenstoß von Kommunisten, Kapitalisten und
obrigkeitshörigen Deutschen mit großem Tempo inszenierte, wurde er
dieses eine Mal von der Geschichte überholt. Nachdem die Mauer gebaut
war, wollte niemand über "Eins, zwei, drei" lachen. "Ein Mann, der die
Straße langläuft, hinfällt und wieder aufsteht, ist komisch. Einer, der
hinfällt und nicht mehr aufsteht, ist nicht mehr komisch", soll Wilder
dazu gesagt haben.
Wie viele Regisseure in
Hollywood kam Wilder nicht aus den USA. Der ungarische Filmemacher
István Szabó hat einmal über ein Abendessen bei George Cukor
geschrieben: "An diesem Tisch" - an dem auch Billy Wilder saß - "hatte
ich das Gefühl, dass Hollywood nichts anderes als eine große Entdeckung
Mitteleuropas sei. Alle diese Menschen, die gekommen waren, ohne die
Sprache des Landes zu sprechen, haben eine andere erfunden, die ihnen
gemeinsam ist."
Wo Hollywood sich aus
Mitteleuropa speiste, verlor Mitteleuropa. In den 20er-Jahren war Billy
Wilder Eintänzer im Hotel Adlon, Reporter und später Drehbuchautor. Eine
Woche nachdem der Reichstag gebrannt hat, verließ er Berlin. Seine
Mutter, sein Stiefvater und seine Großmutter starben in Auschwitz.
Zur Welt kam er als Samuel
Wilder am 22. Juni 1906 in Sucha, einer galizischen Kleinstadt, die
damals zu Österreich zählte und heute zu Polen gehört. Die Eltern zogen
erst nach Krakau und dann nach Wien, wo er das Jurastudium zugunsten der
Reporterlaufbahn aufgab. Weiter ging es nach Berlin, nach Paris und via
Mexiko nach Hollywood. Dort war er im Gegensatz zu anderen Regisseuren
kaum daran interessiert, eine aus den Fugen geratene Welt wieder
zurechtzurücken. Seine Welten waren immer aus den Fugen, und sie waren
nach 90 Minuten nicht wiederhergestellt.
Besonders deutlich wird dies in
einem Film, nach dessen Vorführung es zu folgendem Wortwechsel zwischen
dem Produzenten Louis B. Mayer und Billy Wilder gekommen sein soll.
Mayer: "Wie kann es der junge
Mann wagen, die Hand zu beißen, die ihn füttert?"
Wilder: "Mr. Mayer, ich bin Mr.
Wilder, verpissen Sie sich."
Die Rede ist von "Sunset
Boulevard" (1950), einem düsteren Film, der mit dem Star- und
Studiosystem Hollywoods abrechnet. Im Mittelpunkt steht die alternde
Stummfilmdiva Norma Desmond (Gloria Swanson), die in einer
heruntergekommenen Villa - das erschütterte Haus dient als Spiegel einer
erschütterten Seele - ihr Comeback imaginiert. Dabei verliert sie sich
so sehr in ihrem Wahn, dass sie, als sie wegen Mordes verhaftet werden
soll, die Polizisten und Reporter für eine Filmcrew hält. Unvergessen
wird bleiben, wie Wilder die Swanson die Treppe hinunterschreiten lässt,
dem Scheinwerferlicht und ihrer Verhaftung entgegen.
Damit tritt eines von Wilders
zentralen Sujets nach vorne. Zwischen Realität und Fiktion zieht er
keine klare Grenze. Er verbindet beides in einer schwindelerregenden
Konstruktion. Was Schein und was wahr ist, beschäftigt fast alle seiner
Figuren und damit auch die Zuschauer. Wen betrügt Jack Lemmon als Nestor
Patou in "Irma la Douce" (1963), wenn er sich in eine Prostituierte
(Shirley McLaine) verliebt und anschließend aus Eifersucht in immer neue
Freier-Rollen schlüpft? Wen betrügt der Reporter in "Reporter des
Satans" (1951), wenn er das Drama selbst herbeiführt, über das er
schreibt? Und Tony Curtis und Jack Lemmon mögen in "Manche mögens heiß"
(1959) zwar falsche Frauen sein, aber ist Marilyn Monroe deswegen
echter? Saß sie nicht, um ihren Sex-Appeal herzustellen, stundenlang vor
dem Spiegel, ließ sie sich nicht in ihre Kleider hineinnähen, um ihre
Rundungen zu betonen?
Es ist, als gäbe es bei Wilder
keine Wahrhaftigkeit. Er nimmt sie seinen Verliererfiguren, seinen
kleinen Angestellten - vor allem Jack Lemmon, mit dem er so oft drehte.
Selbst eine Marlene Dietrich brachte er dazu, eine zweifelhafte
Frauenfigur zu verkörpern. In "Eine auswärtige Affäre" (1958) gab sie
die Exgeliebte eines Nazikriegsverbrechers. Marlene Dietrich, die das
faschistische Deutschland verabscheute wie nichts auf der Welt!
Vielleicht verzichtet Wilders Welt auf das Echte, das Aufrichtige und
Geradlinige, weil es aus der condition humaine
des 20. Jahrhunderts getilgt wurde.
Einmal, noch zu Reporterzeiten
im Berlin der Zwanzigerjahre, schickt ihn die Redaktion des Berliner
Börsen-Couriers zum Geburtstag einer Greisin. "Das Geburtstagskind",
schrieb Wilder, "dem heute Moabits Aufregung gilt, um das sich alle
Gespräche drehen, dem man Blumen ins Zimmer trägt, kleine Geschenke, die
von Herzen kommen, liegt in einem schneeweißen Bett, der zahnlose Mund
lächelt, alle Blicke aus den rot umränderten, doch aufgeweckten kleinen
Augen streicheln den Eindringling und sehen ihn an, als wollten sie
sagen, ich freue mich, dass du dich freust, dass ich heute den 100.
Geburtstag habe."
Fünf Jahre wären es noch gewesen
bis zu Wilders 100. Geburtstag. Er starb in der Nacht zu Donnerstag in
seinem Haus bei Los Angeles an den Folgen einer Lungenentzündung.
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hagalil.com / 31-03-2002 |