Israel Gutman:
Der Historiker, der dabei war
Von Ya'ir Sheleg, Ha'aretz, 25.04.2003
Übersetzung von Daniela Marcus
Gemäß den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit
konnte nicht angenommen werden, dass Professor Israel Gutman die
Schoah überlebte. Seine Eltern und seine ältere Schwester starben
noch vor der Vernichtung aufgrund von Krankheiten. Seine jüngere
Schwester kam in das Waisenhaus von Janusz Korczak und wurde in
Treblinka ermordet, wie auch alle anderen Waisen und Janusz Korczak
selbst.
Der junge Israel Gutman, der als einziger seiner
gesamten Familie in Warschau blieb, trat der Jüdischen
Kampforganisation ZOB (Zydowska Organizacja Bojowa) unter Mordechai
Anielewicz bei. Anielewicz führte den berühmten Ghettoaufstand an.
Gutman überlebte und machte zwei schwere Jahre in
Konzentrationslagern durch.
Nach seiner Immigration ins damalige britische
Mandatsgebiet Palästina lebte Gutman viele Jahre lang in einem
Kibbutz. Er begann seine akademische Karriere erst im Alter von
beinahe 50 Jahren, schaffte es jedoch, einer von Israels
herausragendsten Historikern über die Schoah und Chefredakteur der
"Enzyklopädie der Schoah" zu werden.
Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus wird er in
den letzten Jahren als hoch geachteter Forscher wieder in das Land
seiner Geburt (er betont, dass er es nicht als "Heimatland"
betrachtet) eingeladen, wo er oft an polnischen Abhandlungen über
diese Jahre teilnimmt. In der Woche, in der der Schoah-Gedenktag
gefeiert wird (am 29.04.) und man außerdem an den 60. Jahrestag des
Aufstandes im Warschauer Ghetto erinnert, wird Gutman Israels
Staatspräsident Moshe Katzav auf einer offiziellen Reise nach Polen
begleiten. Der Kreis der Überlebenden dieses Aufstandes wird mit
zunehmenden Jahren kleiner. Im Alter von 80 Jahren ist Gutman einer
der wenigen, die übrig geblieben sind, und er ist ganz sicher der
einzige Berufshistoriker unter ihnen.
Er wuchs in einer Familie auf, die vollkommen
durchschnittlich war. "Mein Vater hatte einen Kurzwarenladen, der
eigentlich ziemlich gut lief. Doch in den Jahren vor dem Krieg waren
wir trotzdem so arm, dass wir buchstäblich von der Hand in den Mund
lebten. Schließlich schloss mein Vater den Laden und arbeitete als
eine Art Handwerker."
In dieser Zeit zog die Familie auch vom polnischen
Teil der Stadt in den jüdischen Teil im Norden um. "Zuerst ging ich
in eine polnische Schule. Dort gab es noch andere jüdische Schüler.
Ich hatte viele polnische Freunde, und ich ging gern auf diese
Schule. Doch der Antisemitismus war deutlich sichtbar. Beleidigungen
waren an der Tagesordnung. Hier und dort wurden Steine nach mir
geworfen. Ich ging niemals allein in die polnische Schule, sondern
nur in einer Gruppe mit anderen jüdischen Kindern."
Die wichtigste Erfahrung in seiner Jugendzeit, die
auch später noch eine entscheidende Rolle in seinem Leben spielte,
war die zionistische Jugendbewegung. In seinem Fall war es die linke
sozialistische Bewegung namens "Haschomer Hatza’ir" (Der junge
Wächter), zu der auch Mordechai Anielewicz gehörte. Gutman sagt:
"Der Aufstand ist vor allem das Ergebnis der Aktivitäten der
Jugendbewegungen im Ghetto. Von dort aus begann man die Kämpfe, und
von ihnen kamen die Kommandeure des Aufstandes. Ich trat der
Bewegung drei Jahre vor dem Krieg bei. Damals war ich 13 Jahre alt.
Es war eigentlich eher zufällig: Ein Freund von mir erzählte mir,
dass dort getanzt und gesungen wird und dass man Ausflüge macht. Das
gefiel mir. Die Bewegung wurde für mich –wie auch für viele andere-
zu meiner zweiten Familie. Wir hatten ein schönes Klubhaus inmitten
von Warschau, zweimal in der Woche reguläre Aktivitäten, manchmal
auch jeden Abend. Wir lasen viel gemeinsam und wir diskutierten über
jüdische und zionistische Themen."
Der Krieg änderte die Natur der Jugendbewegung.
"Davor hatten wir kein großes Interesse am persönlichen Leben und an
der Familie der Mitglieder. Doch während des Krieges änderte sich
das. Plötzlich fing man an, über die Situation eines jeden
nachzudenken. Und wir besorgten immer Lebensmittel, um gemeinsam zu
essen. Dies geschah in dem klaren Bewusstsein, dass es manchen von
uns möglich war, etwas mitzubringen und dass es andere gab, die
dringend zu essen brauchten. Abgesehen davon erlangte die
Jugendbewegung auch deshalb viel Macht, weil sie im Kollaps des
Lebens um uns herum wie eine Enklave war."
"Eigentlich hatte die Jugendbewegung nie eine
bessere Zeit als während des Krieges. Wir richteten Küchen ein, die
von der Jugendbewegung unterhalten wurden. In diesen Küchen
versuchten wir sogar, den jüngeren Kindern etwas Unterricht zu
geben. Wir gaben Untergrundzeitungen heraus, die sich nicht nur mit
dem Leben im Ghetto beschäftigten. Selbst die Auseinandersetzungen
zwischen den einzelnen Jugendbewegungen gingen auf den Seiten dieser
Zeitungen weiter."
Der große Aufstand
Die Idee für den Aufstand begann aufgrund der
Welle von Informationen über vorhergehende Aufstände in anderen
Ghettos. Doch die praktischen Vorbereitungen begannen erst mit den
großen Abtransporten im Juli 1942, bei denen 270.000 Juden des
Ghettos ins Vernichtungslager Treblinka gebracht wurden. Damals
verließen alle Mitglieder der Jugendbewegungen ihre Häuser und
organisierten sich im Untergrund. Sie vereinigten sich zu einer
einzigen Jugendbewegung, nämlich zur Jüdischen Kampforganisation
ZOB, der Organisation, die den Aufstand begann. (Nur die
Jugendbewegung Bejtar, deren Debatten mit den linken Bewegungen
selbst während der Kriegstage weitergingen, agierte während des
Aufstandes selbständig.)
Der große Ghettoaufstand brach am 19. April 1943,
dem Pessachabend, aus. Das war kurz vor dem Zeitpunkt der
endgültigen Auflösung des Ghettos. Und der Aufstand wurde aus dem
klaren Gefühl heraus, dass nichts mehr zu verlieren war, geführt.
Was weniger bekannt ist, ist die Tatsache, dass die ZOB ihre
Untergrundaktivitäten bereits vor dem offiziellen Aufstand begonnen
hat. Die erste Aktion war die Vernichtung von jüdischen
Kollaborateuren. Hierbei wurde auf den Kommandeur der jüdischen
Ghettopolizei, der für seine Grausamkeiten bekannt war, geschossen,
und zwar während der großen Abtransporte im Juli 1942. (Er wurde bei
diesem Attentat jedoch gerettet und beging später Selbstmord.) Der
Stellvertreter, der ihn ersetzte, wurde im Oktober 1942 ermordet.
Die Aktivitäten gegen die Deutschen begannen im
Januar 1943, drei Monate bevor der Aufstand losbrach. Gutman sagt
hierzu: "Anielewicz und eine Gruppe von Mitgliedern der
Jugendbewegung schlossen sich einem Konvoi von Menschen an, die
abtransportiert werden sollten (in die Todeslager – Y. S.). Aus
diesem Konvoi heraus begannen sie, auf die Deutschen zu schießen,
die sie begleiteten. Dies hatte einen enormen Einfluss auf das
Ghettoleben, denn die Deutschen verloren durch dieses Ereignis sehr
viel an Selbstvertrauen und betraten das Ghetto nicht länger offen
und unbefangen."
Zusätzlich beeinflusste dieser "kleine Aufstand"
auch die Haltung des polnischen Untergrundes gegenüber den
Aufständischen im Ghetto. Nach einer langen Periode, in der sich die
Mitglieder des polnischen Untergrundes geweigert hatten, den Juden
zu helfen (unter anderem wegen des vorherrschenden Antisemitismus),
willigten sie zum ersten Mal ein, eine relativ umfangreiche Sendung
von Waffen an die Aufständischen im Ghetto zu liefern. Selbst heute
kann Gutman nicht genau erklären, warum die Deutschen vom Ausbruch
des Aufstandes im April überrascht waren, nachdem sie doch bereits
im Januar von Juden angegriffen worden waren. "Dafür habe ich keine
gute Antwort, außer der Theorie, dass Oberst Von Sammern (der zur
Zeit des Ausbruchs des Aufstandes das Kommando über den
Ghettodistrikt innehatte – Y. S.) über den Aufstand im Januar nicht
korrekt berichtet hatte (anscheinend aus Angst vor seinen
Vorgesetzten – Y. S.).
Gutman sieht die Besonderheit des Aufstandes im
Warschauer Ghetto nicht in den militärischen Aktivitäten der ZOB,
die nach einigen Tagen niedergeschlagen wurden, sondern in seinem
Volkscharakter. "Nach dem "kleinen Aufstand" im Januar zogen die
Menschen Vorteile aus der relativen Ruhe auf Seiten der Deutschen.
Sie bauten Hunderte von unterirdischen Bunkern. Als der Aufstand im
April ausbrach, verschwanden alle Bürger des Ghettos, zumindest im
inneren Bereich, also etwa 35.000 Menschen zu dieser Zeit, mit
Lebensmitteln und Medikamenten in den Bunkern. Als die Deutschen
kamen, um die Transporte auszuführen, fanden sie keine Menschenseele
auf den Straßen. Selbst nachdem der Aufstand begonnen hatte und die
Deutschen die Menschen aufriefen, aus ihren Häusern zu kommen und
ihnen versprachen, dass denjenigen, die kamen, kein Schaden zugefügt
werden würde, kam niemand heraus. Sie verließen ihre Unterschlüpfe
erst, als die Deutschen begannen, die Häuser in Brand zu setzen und
Gas in die Bunker zu leiten."
Während der Tage des Aufstandes war Gutman einer
von denen, die die Verantwortung für einen Bunker für Verletzte
trugen. "Dort auf dem Dach des Bunkers kämpften wir mit den
Deutschen. Ich wurde an meinem rechten Auge verletzt. Und selbst
heute kann ich nur mit meinem linken Auge sehen." Er und die anderen
Juden verließen den Bunker erst, als die Deutschen Gas hinein
leiteten und Feuer legten. "Einige von denen, die herauskamen,
wurden sofort erschossen, einige wurden zur Vernichtung nach
Treblinka geschickt, und manche ins Arbeitslager Maidanek. Die
Absurdität ist, dass sie dann, als es keinen Widerstand gab,
planten, uns alle zu ermorden. Nach dem Aufstand schickten sie
wenigstens einige zur Arbeit."
Er war einer der Glücklichen. Er verbrachte zwei
Monate in Maidanek und wurde anschließend nach Auschwitz
transportiert. "Dort hatte ich außergewöhnliches Glück. Ich kam
vollkommen erschöpft an, eine verlorene Seele, die kaum stehen
konnte. Ich konnte nicht arbeiten und zweimal wurde ich während der
Arbeit ohnmächtig. Somit war ich ein offensichtlicher Kandidat für
die sofortige Vernichtung. Doch während eines Appells stand mir ein
Pole gegenüber. Er war als politischer Gefangener in Auschwitz. Er
fragte mich, woher ich sei und es stellte sich heraus, dass er einen
Lehrer aus meiner Schule kannte. Er begann sich um mich zu kümmern.
Er brachte mir zwei Liter Suppe. Man kann sich nicht vorstellen, was
dies unter Auschwitz-Bedingungen bedeutete. Und als der deutsche
Arzt kam, um die Selektion vorzunehmen, versteckte er mich fünf
Wochen lang in seinem Raum, bis ich etwas an Gewicht zugenommen
hatte. Danach versicherte er sich, dass ich an den gleichen
Arbeitsplatz zurückkam, an dem ich zuvor gewesen war."
Gutman blieb in Auschwitz bis kurz vor der
Befreiung des Lagers im Januar 1945. Er schaffte es, mehrere andere
Konzentrationslager zu überleben, bis er am Ende des Krieges
schließlich befreit wurde, gerade als seine Kraft zu Ende ging.
Viele Male war er in Todesgefahr gewesen.
Vom Kibbutz in die akademische Welt
Nach dem Krieg entschied er sich, nicht mehr nach
Polen zurückzukehren. Auf jeden Fall wusste er, dass er keine
Familie mehr hatte, zu der er zurückkehren konnte. Stattdessen
arbeitete er in Österreich und dann in Italien in einer Organisation
namens Bricha (die illegale Einwanderung von Schoah-Flüchtlingen
nach dem damaligen britischen Mandatsgebiet Palästina organisierte).
1947 immigrierte Gutman nach Israel. Er blieb den Ideen der
Jugendbewegung treu und trat dem Haschomer-Hatza’ir-Kibbutz namens
"Lehavot Habaschan" bei. Dort lebte er bis 1970.
Gutman plante nicht, ein Historiker oder
Schoah-Forscher zu werden. Er arbeitete –wie es damals Pflicht war-
in der Landwirtschaft – an den Fischteichen und in den Obstgärten.
Er veröffentlichte nur eine persönliche Erinnerung an den Aufstand,
die den Titel "Mered Hanetzurim" (Aufstand der Belagerten) trug.
"Das Buch machte einen gewissen Eindruck und einige Leiter der
Kibbutzbewegung schlugen ohne mich zu fragen vor, mich zum Studium
zu schicken." So wurde Gutman, der noch nicht einmal das Gymnasium
abgeschlossen hatte, im Alter von etwa 35 Jahren für ein Jahr zum
Universitätsstudium geschickt.
"Ich hatte nicht die Absicht, mich mit der Schoah
auseinanderzusetzen. Ich schrieb Seminararbeiten über den
Chassidismus und über die "Hofjuden" (Juden, die während des 17. und
18. Jahrhunderts in Zentraleuropa als finanzielle Berater für die
Herrscher zuständig waren). Auf Empfehlung von Professor Schmu‘el
Ettinger rief mich Israel Halperin, Leiter der Abteilung, zu sich
und sagte: "Ihre Ausführung ist interessant, doch viele Menschen
können eine ähnliche schreiben. Aber ich las Ihr Buch über den
Aufstand im Warschauer Ghetto und ich denke, dass Sie sich an der
Schoah-Forschung beteiligen sollten." Er selbst stellte sicher, dass
mir ein weiteres Studienjahr gewährt wurde. Doch danach ging ich in
den Kibbutz zurück."
Erst im Jahr 1970, als er im Alter von 47 Jahren
den Kibbutz verließ, begann Gutmans akademische Karriere. "Ich
machte so schnell wie möglich den Doktortitel. Zur selben Zeit hatte
ich eine Teilzeitarbeit in der Schoah-Gedenkstätte Yad Vaschem."
Diese Kombination zog sich durch den Rest seiner Karriere fort
(inzwischen ist er, was seine Arbeit an der Universität betrifft,
pensioniert, doch er arbeitet weiterhin in Yad Vaschem). Seine
Doktorarbeit, die später ein Grundsatztext wurde, war auch dem
Aufstand im Warschauer Ghetto gewidmet. Doch im Gegensatz zu seinen
Erinnerungen, die er zuvor geschrieben hatte, beinhaltete die
Doktorarbeit keinen Beweis für die Tatsache, dass der Schreiber
selbst Zeuge gewesen war und an den Ereignissen teilgenommen hatte.
Die gesamte Doktorarbeit basiert auf Dokumentationen aus anderen
Quellen, wie es aufgrund akademischer Objektivität verlangt wird.
Von da ab ging alles sehr schnell, als wollte
Gutman die verlorenen Jahre nachholen. Er wurde Professor am
Institut für Zeitgenössisches Judentum an der Hebräischen
Universität in Jerusalem, Leitender Historiker in Yad Vaschem,
Chefredakteur der "Enzyklopädie der Schoah", Autor und Herausgeber
Dutzender Bücher über die Schoah-Forschung. "Man könnte sagen, dass
Yehuda Bauer und ich und ein paar andere Forscher die "Jerusalemer
Schule" für die Schoah-Forschung gründeten. Bis dahin wurden die
Juden nur als Opfer betrachtet, und die Forschung bezog sich auf die
Berichte der Mörder. Unsere hauptsächliche Mission und Innovation
war unser Wunsch, auch die jüdische Dokumentation der Schoah
aufzuzeigen, eine Dokumentation, von der die Forscher vor uns nicht
wussten, dass sie existiert. Wir fanden sie in den Archiven der
Ghettos, in Tagebüchern und Briefen. Wir wollten uns außerdem nicht
nur auf die Dokumentation der Vernichtung konzentrieren, sondern
auch auf die Beschreibung jüdischen Lebens während der Schoah. Heute
ist bereits klar, dass man nicht länger über die Schoah schreiben
kann, ohne diesen Aspekt einzubeziehen."
Professor Yehuda Bauer, den Gutman als Mitglied
der Jerusalemer Schule erwähnte, war in der Tat zu einem großen
Ausmaß Gutmans Forscher-"Zwilling". Beide lehrten am Institut für
Zeitgenössisches Judentum an der Hebräischen Universität. Als Gutman
Leitender Historiker in Yad Vaschem war, war Bauer Leiter des
Internationalen Instituts für Schoah-Studien in der gleichen
Institution. Doch Bauer ist berühmter: In der ganzen Welt ist er als
Sprecher der Jerusalemer Schule bekannt. In vergangenen Jahren hat
er als Berater im Erziehungs- und Forschungsbereich der
internationalen Projektgruppe gedient, die gegründet worden war, um
über das Schoah-Bewusstsein und über den Kampf gegen den
Antisemitismus zu unterrichten. Bauer bekam für seine Arbeit sogar
den Israel-Preis. Gutman wurde diese Ehre bisher nicht zuteil.
Wenn Gutman deswegen frustriert ist, so zeigt er
es nicht. Was vielleicht hilft ist die Tatsache, dass Gutman und
Bauer trotz der Unterschiede in Ruhm und Biographie –Bauer ist im
Gegensatz zu Gutman kein Schoah-Überlebender, er stammt aus der
früheren Tschechoslowakei und kam kurz vor Kriegsausbruch ins damals
britische Mandatsgebiet Palästina- einen gemeinsamen Hintergrund in
der Jugendbewegung haben. Bauer war jahrelang Mitglied des
Haschomer-Hatza’ir-Kibbutz "Schoval". Gutman betrachtet Bauer immer
noch als Partner. "Yehuda, der eine größere rhetorische Fähigkeit
besitzt als ich, war besser geeignet, das Bewusstsein über die
Schoah zu vermitteln. Dies ist sehr wichtig. Ich konzentrierte mich
mehr auf die reine Forschung. Trotzdem war ich Chefredakteur der
"Enzyklopädie der Schoah". Ich fühle mich nicht als zu kurz
gekommen, auch wenn ich keinen Preis erhalten habe. Was mich dagegen
sehr belastet, ist, dass ich noch so viel schreiben wollte, es
jedoch wahrscheinlich nicht mehr schaffen werde."
Ein einzigartiges Phänomen
Trotz alledem betont er, dass er nicht mit Bauers
"neuem Konzept" bezüglich der Besonderheit der Schoah übereinstimmt.
Bauer erstaunte kürzlich die Welt der Forschung, als er seine alte
Position, die von israelischen Schoah-Forschern akzeptiert worden
war, änderte, und äußerte, dass, obwohl die Schoah in der Tat ein
beispielloses Ereignis war –es gab zuvor niemals etwas dergleichen-,
dies nicht bedeute, dass ein ähnliches Ereignis nicht noch einmal
stattfinden könne, und zwar in "allen Nationen", selbst im Staat
Israel.
Gutman sagt: "Die Besonderheit der Schoah ist
absolut. Ich glaube nicht, dass ein ähnliches Phänomen in anderen
Völkern möglich ist, denn es gibt die besondere Kombination von
Elementen, die die Schoah hervorriefen: historischer Antisemitismus,
das dämonische Bild, das von den Juden gezeichnet wurde, die
Exilsituation und die andauernde Verfolgung durch das Christentum,
der biologische Rassismus in der Vorstellung der Nazis, Hitlers
Persönlichkeit und die Niederlage der Deutschen im Ersten Weltkrieg,
die Schwäche der westlichen Mächte und die absolute Schwäche der
Juden zu dieser Zeit."
"Im Lichte all dessen mag es gewisse Elemente der
Schoah geben, die mit anderen Perioden verglichen werden können.
Doch die Kombination aller Elemente, die die Geschichte der Schoah
ausdrückt, kann nicht verglichen werden. Und ich bin nicht bereit,
hinter jeder Tür nach einem derartigen Vergleich zu suchen. Die
Schoah ist auch ein Ereignis, das sich geweigert hat, in die
Geschichtsbücher einzugehen. Selbst heute, 60 Jahre später, ist sie
Teil der Biographie von Angehörigen dieser Generation, und das nicht
nur wegen den Überlebenden, die unter uns leben. Das Gewicht dieses
Ereignisses ist so außergewöhnlich. Es ist wie ein Berg. Man kann
seine Höhe und seine Macht nur abschätzen, wenn man sich in einiger
Distanz zu ihm aufhält."
So wie er als eifriger Verfechter der Idee der
Besonderheit der Schoah betrachtet wird, so wird er schon über viele
Jahre hinweg als eifriger Verfechter der zionistischen Idee gesehen.
"Natürlich ist dies die Schlussfolgerung, die ich aus der Schoah
gezogen habe. Es war auch eine Vorstellung, die ich von einem
Historiker wie Ben-Zion Dinur bekommen habe. Dieser schrieb während
des Krieges eine Arbeit über die in der jüdischen Geschichte
zyklische Natur des "Churban" der Vertriebenen (Churban =
Zerstörung; ein Wort, das mit der Zerstörung des Ersten und Zweiten
Tempels assoziiert wird). Gemäß dieser Beschreibung ist es ein
wiederkehrendes Phänomen, dass in jedem Exil, in dem die Juden
gewisse Positionen und Macht erlangen, die Zerstörung folgt. So war
es im spanischen Exil (das mit der Vertreibung im Jahr 1492 endete)
oder mit der Zerstörung des europäischen Judentums. Inzwischen weiß
ich genug um nicht so einfach und einfältig zu sein. Für mich ist es
klar, dass der Pluralismus, der heute in den Vereinigten Staaten
oder in anderen Ländern wie Kanada oder Australien existiert,
vollkommen unterschiedlich von dem ist, was in Europa war. Zur
gleichen Zeit stellt sich an solchen Orten natürlich auch die Frage
der Assimilation."
Er bleibt genügend Zionist und jüdischer
Nationalist, um antizionistische Juden hart zu kritisieren. Solch
eine Debatte findet gelegentlich zwischen Gutman und Dr. Marek
Edelman, einem Mitglied der antizionistischen Bewegung "Bund",
statt. Edelman war während des Aufstandes im Warschauer Ghetto einer
der drei Kommandeure. Er lebt immer noch in Polen. Bei solchen
Gelegenheiten erwähnt Gutman normalerweise auch, dass sich der Bund
der ZOB erst zu einem relativ späten Zeitpunkt anschloss, da die
Mitglieder des Bundes zunächst der Meinung waren, dass die Juden
nicht von sich aus einen Aufstand beginnen sollten, sondern dass ihr
Schicksal mit dem des gesamten polnischen Volkes verbunden sein
sollte. "Ich kritisiere Edelman nicht, weil seine Meinung von meiner
abweicht. Eine andere Meinung zu haben ist sein absolutes Recht.
Doch ich kritisiere ihn wegen dem, was er schreibt. Er schrieb, dass
Begin und Schamir (beides frühere Ministerpräsidenten des Staates
Israel, die ursprünglich der rechten zionistischen
Untergrundbewegung angehört hatten) viele Araber niedermetzelten,
dass Ben Gurion (Israels erster Ministerpräsident) überhaupt kein
Staatsmann war, sondern ein billiger Abzocker, dass es seit der
Vernichtung des polnischen Judentums überhaupt keine Juden mehr in
der Welt gibt. Das sind Dinge, die in ihrer Ignoranz und in ihrer
Frechheit wirklich erstaunlich sind."
Im gleichen Geist hatte er vor einigen Jahren eine
Auseinandersetzung mit Norman Finkelstein, Autor des Buches "The
Holocaust Industry", der behauptete, das jüdische Establishment
benutze die Schoah zum eigenen Vorteil. Bei dieser Gelegenheit war
die Debatte sogar noch heikler, da Finkelstein der Sohn von Zecharia
Finkelstein ist. Dieser war während der Zeit in Auschwitz Gutmans
enger Freund. Ihre Wege trennten sich erst, als der ältere
Finkelstein ihr gemeinsames Abkommen, ins damalige britische
Mandatsgebiet Palästina zu gehen, brach und entschied, in die
Vereinigten Staaten zu immigrieren.
Nachdem das kommunistische Regime zusammen
gebrochen war und Beziehungen zu Israel erneuert wurden, ist Gutman
während der letzten Jahre auch in Polen ein Star geworden. Er reist
öfter dorthin, um Vorträge zu halten. Er erhielt die
Ehrendoktorwürde der Universität in Warschau. Und er ist Mitglied
des Internationalen Auschwitzrates (der auch Vertreter der Zigeuner,
der Homosexuellen und der politischen Gefangenen, die in Auschwitz
waren, einschließt). "Diejenigen, die mich einladen, stammen
hauptsächlich aus jüngeren Kreisen, die der polnischen Haltung
gegenüber den Juden sehr kritisch gegenüber stehen. Das Thema des
Antisemitismus hat sie zur generellen Kritik gegenüber der
polnischen Geschichte geführt. Und natürlich gibt es dort auch
Menschen, die mich nicht mögen."
"Während der Hauptdebatte über die Enthüllung des
polnischen Massakers an den Juden von Jedwabne (nachdem im Jahr 2000
entdeckt worden war, dass das Massaker nicht von den Nazis, sondern
von polnischen Nachbarn ausgeübt worden war – Y. S.) hatte ich eine
große Auseinandersetzung mit einem der wichtigen Historiker Polens,
Professor Tomasz Strzembosz, der das Abschlachten damit
rechtfertigen wollten, dass die Juden den Kommunismus unterstützt
hatten. Mein Artikel, in dem ich dieses Argument widerlegt habe,
wurde in einer angesehenen katholischen Zeitschrift veröffentlicht.
Ich wurde außerdem gefragt, ob ich ein Vorwort für die englische
Ausgabe des Buches über Jedwabne schreiben würde." Trotzdem hebt er
hervor, dass er sich nicht in der Mission fühlt, zwischen den beiden
Ländern, den Völkern und den Kulturen zu vermitteln. "Ich habe keine
zwei Heimatländer. Ich bin durch und durch Israeli."
Weitere Information:
hagalil.com
28-04-03 |